SveaLaraDer Mitwisser

Es war Sonntagnachmittag. Ein recht frischer Frühlingswind wehte über die Terrasse meiner Eltern, wo mein Freund Hendrick und ich heute nach langer Zeit mal wieder zu Kaffee und Kuchen eingeladen waren.

„Und Ramona, wie geht es mit den Testergebnissen des neuen Medikaments voran?“ fragte meine Mutter mich. Sie trug einen Hosenanzug und hatte ihre Haare zu einem strengen Pferdeschwanz nach oben gebunden, als wäre sie nicht in ihrem wohlverdienten Wochenende, sondern in ihrem Büro auf Arbeit. Dort verbrachte sie 95% ihrer Zeit. Fragend sah sie mich nun an. „Ich hoffe doch alles verläuft nach bester Ordnung.“, warf mein Vater ein. Meine Eltern interessierte nichts mehr als das perfekte Image der Familie und den Erfolg des Familienunternehmens. Meine Mutter führte mit meinem Vater das Pharmazieunternehmen Pharma Tech Balde GmbH und so ging es bei unserem Besuch auch um kein anderes Thema als um das Familienunternehmen. „Ja, gut läuft es. Wir liegen gut im Zeitplan.“, beantwortete ich ihre Frage. Ich selbst arbeitete auch in dem Unternehmen, wo ich meine eigene Abteilung zu einem neuen Medikament zur Schmerzlinderung leitete. Das Medikament hieß Kuronaen und wirkte schon innerhalb von fünf Minuten. Seit anderthalb Jahren war es nun auf dem Markt erhältlich und so kaufte man bei Schmerzen heutzutage nicht mehr Paracetamol oder Ibuprofen, sondern Kuronaen.

Eine hohe Position in einem Pharmaunternehmen zu haben ist Fluch und Segen zugleich. Für mich war es mehr Fluch, für meine Eltern mehr Segen. Sie waren schon lange sehr erfolgreich und hatten eine beeindruckende Karriere hinter sich. Doch ich wusste genau, dass sie auch einiges auf sich genommen hatten, um so erfolgreich zu sein. Pharmaunternehmen stehen oft in der Kritik, hauptsächlich gewinnorientiert zu handeln. Für sie stände nur der Profit im Vordergrund und nicht das Wohl der Menschen.

Für das so perfekte Familienbild schwieg meine Familie zum Beispiel auch meinen Zwillingsbruder tot, der bei einem Autounfall mit 9 Jahren ums Leben kam und dessen Tod mich schwer mitgenommen hat. Doch wie sollte man damit auch abschließen, wenn die eigene Familie nie wieder ein Wort über den Unfall verloren hat? Und der Erfolg des Unternehmens wurde mindestens genauso hochgeschätzt wie das Familienbild. Also gab es sicherlich noch weitere Leichen im Keller.

Viele waren neidisch, dass ich in so ein erfolgreiches Familienunternehmen hineingeboren wurde. Doch für mich war es seit jeher eine Qual. Dieser pure Druck meiner Familie mit gerade mal 32 Jahren schon eine solche Verantwortung für den Erfolg eines neuen Medikaments zu haben, trieb mich noch in den Wahnsinn. Wenn mein Zwillingsbruder noch da wäre, hätte ich jemanden, an den ich mich wenden könnte. Doch ich war allein, ganz allein mit den Lasten auf meinen Schultern und so habe ich mir auch etwas zu Schulden kommen lassen. Ich hasste mich für das, was ich getan habe, aber ich hatte kaum eine Wahl. Meine Eltern wussten nichts davon. Für sie sollte ich immer nur die brave Tochter sein, die in die Fußstapfen ihrer Eltern tritt. Deshalb legte ich auch den restlichen Nachmittag wieder meine Maske mit einem süßen Lächeln auf und beantwortete die weiteren geschäftlichen Fragen meiner Eltern.

 

Ich eilte durch die Flure des modernen Gebäudekomplexes, der hauptsächlich aus Glas bestand. Ich nickte der Empfangsdame von Pharma Tech Balde GmbH kurz zu bevor ich um die Ecke in Richtung meines Büros bog. Dabei stieß ich beinahe mit einem jungen Paketboten zusammen, der mit gesenktem Kopf durch den Flur lief. So eilig wie ich es hatte, hätte ich den schmächtigen, eher feminin wirkenden Kerl, bestimmt über den Haufen gerannt. Ich hetzte in mein schickes und ordentliches Einzelbüro, mit einem wunderbaren Ausblick aus dem 15. Stock über die Hauptstadt, den ich schon gar nicht mehr wahrnahm. Während ich mich in meinen mächtigen Lederschreibtischstuhl fallen ließ und einige widerspenstige Haarsträhnen zurück in ihre Ausgangsfrisur ordnete, fiel mir das kleine Paket, eher ein Päckchen auf, das mitten auf meinem Schreibtisch lag. Neugierig warf ich einen Blick darauf. Es war direkt an mich adressiert und nicht an die Firma. Ein Absender stand nicht darauf. Ich fuhr meinen PC hoch und öffnete nebenbei das Paket. Nachdem ich mich durch die Unmengen an Füllmaterial gewühlt hatte, kam ein flacher, rechteckiger Gegenstand in einem Tuch zum Vorschein. Ich packte es aus. Es war ein Smartphone. Neu und offenbar unberührt funkelte mich das dunkle Display an, sodass ich mein gerötetes und abgehetztes Gesicht als Reflektion sehen konnte. Meine Güte, meine Augenringe sprangen einen ja förmlich an und so ausgeprägt waren meine Wangenknochen doch vor ein paar Wochen noch nicht gewesen …

Auch wenn ich dazu eigentlich keine Zeit hatte, aktivierte ich das Handy, um zu sehen, ob es eingeschaltet war. Wie auf Kommando öffnete sich der Sperrbildschirm und gewährte mir sofortigen Zugang zum Inhalt des Smartphones. Wie ging das denn? Hatte der Absender keine Sperre eingerichtet? Ich konnte ja wohl kaum mit meinem Gesicht das Handy entsperrt haben! Nebensächlich. Auf den ersten Blick war nichts Interessantes zu entdecken, da sich nicht viel darauf befand. Doch ein Dateiordner mit dem Namen Beweisfotos fiel mir ins Auge. Ich öffnete den Ordner. Es befanden sich etwa fünf Fotos darin. Jeweils beschriftet mit Beweisfoto A, B, C und fortlaufend. Was für Beweisfotos sollten das denn sein? Mir lief auf einmal ein eisiger Schauer über den Rücken. Meine Hände wurden kalt, obwohl ich gleichzeitig anfing zu schwitzen. Ich klickte mich durch die Bilder. Ich keuchte auf, als ich begriff, worum es sich handelte. Es waren Dokumente zu sehen. Dokumente zu Fallstudien, die das Herausbringen meines neu erforschten Medikamentes betrafen. Genauer gesagt meinen größten Fehler, den ich je begangen hatte, in der Hoffnung damit den größten Erfolg einzufahren. Testergebnisse und Listen von mutmaßlich krebserregenden Inhaltsstoffen waren abgebildet. Ergebnisse, die bezeugten, dass es ungeahnte und für eine Vermarktung nicht ausreichend erforschte Nebenwirkungen gab.

Besorgt klickte ich mich weiter durch das mysteriöse Handy, um zu schauen, ob noch mehr gegen mich vorlag. Das einzige, was ich noch fand, war einen Nachricht bei den Notizen.

„In einer Woche werden die Fotos an die Presse geschickt. Siehe zu, wie du die Zeit nutzt.“

Was zum Teufel hatte all das zu bedeuten? Wer schickte mir das? Und warum? Wobei letzteres eigentlich kaum ein Geheimnis war. Irgendwer hatte geheime Informationen über mich und meine Leiche im Keller. Und er ließ es mich wissen …

Das hier war ganz klar eine Erpressung. Der Unbekannte lies mir nur zwei Optionen. Entweder ich gehe selbst zur Polizei und stelle mich oder er lässt mein Geheimnis ganz groß über die Presse auffliegen. Zur Polizei zu gehen war auf jeden Fall keine Option. Ganz bewusst habe ich mich vor einem Jahr schon dazu entschieden, dass alles zu Vertuschen. Vielleicht war das Ganze auch nur ein Bluff, damit ich selbst zur Polizei gehe. So würde ich mich ja nur unnötig selbst belasten.

Eines stand fest: ich musste aktiv werden und auf eigene Faust herausfinden, wer hinter der Aktion mit dem Handy steckte. Nachdem ich den ganzen Arbeitstag an nichts anderes denken konnte und mich bemüht hatte normal zu arbeiten, wollte ich jetzt in meinem Feierabend nachforschen. Erschreckenderweise stellte ich bei meinen Überlegungen fest, dass es viele Verdächtige gab, die ich auf eine Liste setzen konnte. Mit anderen Worten, die Liste der Menschen, die einen möglichen Grund hatten mich zu hassen und sich zu rächen, war relativ lang. Um logisch vorzugehen, sah ich mir die Dokumente auf dem Smartphone genauer an und schaute die Listen durch. Dabei erschien es mir sinnvoll, zuerst die Liste von Testpersonen unter die Lupe zu nehmen. Die hätten ja den besten Grund, mich erpressen zu wollen. Immerhin nicht ohne Grund und vermutlich hatte ich auch all das hier verdient, doch ich konnte meinen Fehler nicht wieder rückgängig machen. Doch das könnte ich, nur dann müsste ich ihn zugeben, dafür geradestehen und ich würde alles verlieren … und dazu war ich nicht bereit – jedenfalls nicht aus freien Stücken.

Um mich von meinen trüben Gedanken und dem „was wäre, wenn“-Szenario abzulenken, konzentrierte ich mich auf meine Nachforschungen.

Die Daten der Studienteilnehmer und ersten positiven Testergebnisse waren, zu wissenschaftlichen Zwecken natürlich, fein säuberlich dokumentiert worden. Theoretisch könnte ich diese Personen von der Liste streichen, immerhin war bei ihnen kein Schaden festgestellt worden, wobei es natürlich auch abseits der offiziellen Studie oder im Nachgang etwas gewesen sein könnte. Doch diese Menschen hätten mit Leichtigkeit auf offiziellem Weg an mich herantreten können, immerhin waren sie ja nachweislich Studienteilnehmer.

Mittlerweile war es Feierabendzeit und das Büro hatte sich geleert. Die Stille und Ungestörtheit nutzte ich, um von der Firma aus meine Recherchen anzustellen, damit Hendrick nichts davon mitbekam. Sonst müsste ich ihm vermutlich Rede und Antwort stehen.

Ohne wirklich einen Plan zu haben, wie ich vorgehen sollte, fing ich erst einmal an zu googeln. Ich suchte nach unserem Medikament Kuronaen und angegebenen Nebenwirkungen. Mit Spannung scrollte ich mich durch die Suchergebnisse, doch unter den ersten Ergebnissen konnte ich keine skandalösen Enthüllungsartikel finden. Ich suchte weiter und fand lediglich ein paar Artikel, die die schnelle Vermarktung des Medikaments kritisch sahen, doch nichts Belastendes vorweisen konnten. Bisher stand es also 1:0 für mich in puncto medialer Skandal. Worüber ich mich natürlich nicht so sehr freuen sollte. Nach einigen Minuten Internetrecherche hatte ich nichts Brauchbares finden können und das obwohl ich sogar einzelne Namen gegoogelt hatte.

Da die Abteilungen mittlerweile alle verlassen waren, konnte ich meine Nachforschungen ausweiten. So machte ich mich auf den Weg in den Keller, wo sämtliche Akten gelagert werden. Auch die Akten über die unerfreulichen Aspekte. Auf dem Weg dorthin piepte mein Handy, also mein richtiges Handy, und signalisierte mir, dass ich eine neue Nachricht hatte. Hendrick. Verdammt, ich hatte ihm nicht Bescheid gesagt, dass ich bleibe. Ich holte dies schnell nach. Er sollte jedoch keinen Verdacht schöpfen, denn dass ich länger im Büro blieb und Überstunden machte, war er gewohnt. Wenigstens etwas!

Die Akten brachten mir keine neuen Erkenntnisse. Sich mit meinem Versagen nochmal direkt auseinanderzusetzen viel mir jedoch zusehends schwerer. Besonders die unter Verschluss gehaltenen Akten, die die krebserregenden Nebenwirkungen belegten. Doch diese Erkenntnis half mir nicht weiter.

Zurück in meinem Büro suchte ich an meinem Rechner auch noch etliche Liefer- und Produktionsverzeichnisse heraus. Das neue Medikament Kuronaen war bundesweit an Apotheken verkauft worden. Dazu kamen noch sämtliche Kliniken, die das Schmerzmittel nutzten. Eigentlich auch logisch, immerhin waren wir eines der führenden Pharmaunternehmen in Deutschland! Wieder einmal wurde mir die Tragweite meines Scheiterns klar. Und das alles nur, um für meine Eltern abzuliefern. So gesehen hielt ich für sie meinen Kopf hin. Wobei ja letzten Endes nur ich alleine verantwortlich war, ich hätte mich ja auch gegen ihren Druck wehren können!

Das Medikament war zwar schon seit anderthalb Jahren auf dem Markt. Dennoch führte man zu dieser Zeit auch noch Langzeittests durch.

Die Pharmaindustrie wird oft dafür kritisiert, dass man als Unternehmer in der Branche so einfach Medikamente herausbringen kann, auch ohne zu wissen wie genau sie tatsächlich wirken, solange sie funktionieren. Die Veröffentlichung von Medikamenten kann sehr schnell gehen, so werden Studien zu den Wirkungsweisen und zu den Nebenwirkungen auch noch zu der Zeit durchgeführt, wenn das Medikament schon längst verkauft wird.

Die langzeitigen Testergebnisse zeigten, dass möglicherweise bestimmte Inhaltsstoffe krebserregend sein könnten. Anstatt jedoch weiter zu forschen, was genau krebserregend sein könnte und warum es das ist, fälschte ich die Testergebnisse nach denen alles in Ordnung ist.

Die Tests zu den Wirkungsweisen und zu den Nebenwirkungen werden auch aus den eigenen Reihen der Unternehmen durchgeführt. Es war also ein Leichtes für mich, die Ergebnisse zu manipulieren.

 Ich fing an, mögliche auftretende krebserregende Nebenwirkungen in Kombination mit sämtlichen Namen der Apotheken und Arztpraxen zu googeln, doch ich konnte wieder nichts finden. Schließlich überwand ich mich und rief den Anwalt meiner Familie an. Ein enger Vertrauter. Ich hatte eingesehen, dass ich ohne seine Hilfe nicht weiterkam.

„Strömer!“, meldete er sich bereits nach dem zweiten Klingeln. Einer der Vorzüge einen teuren Anwalt und dessen Privatnummer zu haben.

„Hallo, hier ist Ramona Balde! Ich brauche ihre diskrete Hilfe, es geht um eine dringende Angelegenheit“, erklärte ich ohne Umschweife. Strömer konnte sich bestimmt schon denken, dass es kein Anruf aus Höflichkeit war.

„Und wie kann ich Ihnen da behilflich sein?“ In dem Moment wusste ich, die richtige Entscheidung getroffen zu haben, denn Strömer fragte nicht als erstes, worum es ging und warum es diskret sein sollte, sondern was er tun konnte.

„Es geht um eine Angelegenheit, von der meine Eltern keinerlei Kenntnis besitzen, was zunächst auch möglichst so bleiben soll, weshalb ich Ihnen dankbar wäre, wenn sie Ihre Schweigepflicht zum Schutz des Mandanten benutzen würden.“

Kurze Stille in der Leitung.

„Verstehe. Worum geht es? Dann kann ich sehen, ob ich Ihnen helfen kann“, antwortete Strömer nach einer kurzen Pause.

Ich atmete erleichtert auf. Ich wollte abwarten, wie er reagiert, bevor ich mein Geheimnis preisgab. Immerhin hätte ich es ihm nicht verdenken können, loyal gegenüber meinen Eltern zu bleiben, die immerhin seine Rechnung bezahlten. 

„Es geht um das neue Medikament Kuronaen, dass unsere Firma unter meiner Leitung letztes Jahr auf den Markt gebracht hat. Es gibt, sagen wir, einige Unannehmlichkeiten, die bisher nicht an die Öffentlichkeit gedrungen sind, aber irgendwer hat Kenntnis davon und lässt es mich wissen. Aus diesem Grund wollte ich fragen, ob Sie sich bei anderen Anwälten, die Klagen behandeln, bei denen es um Entschädigung wegen vermutlich krebserregender Nebenwirkung bei einem Medikament geht, unauffällig umhören können, ob ein solches Verfahren vorbereitet wird.“

Wieder kurze Stille.

„Nun ja, das kann ich tun, jedoch wird es, egal wie sehr ich Sie als Ursprung geheim halte, Wellen schlagen, wenn ich solche Fragen stelle. Immerhin ist ja nicht ganz unbekannt, wen ich als Mandanten habe. Doch ich sehe, was sich machen lässt.“

„Danke. Und es wäre schön, wenn das möglichst schnell geht!“

„Wie gesagt, ich sehe, was ich tun kann. Noch etwas?“

„Nein, das war es. Vielen Dank und auf Wiederhören!“

„Wiederhören!“

Mehr konnte ich im Augenblick nicht machen. Wenn der unbekannte Erpresser wirklich bereit war, mit seinen gesammelten Informationen an die Presse oder sogar zur Polizei zu gehen, war es aus mit mir. Immerhin hatte diese Person gewaltige Arbeit geleistet und hieb- und stichfeste Beweise erlangt. Trotzdem machte ich mich erst einmal auf den Weg nachhause, um die Ereignisse des Tages zu verdauen.

 

Es war Dienstag, der nächste Morgen. Ich hatte nach der Aufregung von gestern nur schlecht schlafen können. Im Büro konnte ich mich nur schwer auf die Arbeit konzentrieren. Mein Puls raste immer noch. Wer nur? Wer tat mir das nur an? Und warum? Ich holte tief Luft und versuchte mich zu beruhigen. Wer hätte ein Interesse daran, mein größtes Geheimnis zu enthüllen? Das Geheimnis sollte mir meinen weiteren Erfolg sichern. Ich überlegte.

Wer nur? Wer gönnte mir meinen Erfolg nicht? Um an die geheimen Dokumente zu kommen, brauchte der mysteriöse Unbekannte auf jeden Fall Zugang zum Ort, wo die Dokumente sich befanden und dieser Ort war hier im Gebäude. Da lag es doch eigentlich nahe, dass es jemand aus den eigenen Reihen war. Jedoch gab es hier im Büro niemanden, dem ich so eine Erpressung zutrauen würde. Oder etwa doch? Ich dachte scharf nach. Die Mitarbeiter, die ich beschäftige, waren vielleicht etwas neidisch. Jedoch war ich mir sicher, dass sie sehr froh waren, nicht selbst die ganze Verantwortung bei der Herausbringung eines neuen Medikamentes mit der dazugehörigen Forschung und Vermarktung zu tragen. Aber wer hätte sich sonst Zugang zu den Dokumenten verschaffen können? Da kam mir etwas in den Sinn, was mir bei der Aufdeckung des Täters enorm weiterhelfen könnte und ich griff zu meinem Telefon.

„Hallo Theo“, sagte ich mit aufgeregter Stimme. Im Keller hatten wir Lagerräume für jegliche Akten und Dokumente. Die Dokumente, die die geheime Fälschung der Tests bewiesen, lagen jedoch neben dem größeren Lagerraum in einem kleinen Raum, wo nur ich als Abteilungsleiterin all meine Dokumente und Akten verwahrte.

„Hi Ramona, kann ich dir irgendwie helfen?“, antwortete unser Sicherheitschef.

„Ja, das könntest du vielleicht. Gibt es eine Überwachungskamera im Raum K02?“, fragte ich noch immer mit einem rasenden Herzen.

„Der kleine Raum neben dem Lagerraum? Nein, da gibt es keine. Worum geht es denn?“ fragte Theo.

Verdammt. Es wäre auch zu schön, wenn ich einfach auf den Überwachungsvideos sehen könnte, wer sich Zugang zu dem Raum und den geheimen Dokumenten verschafft hat.

„Nicht so schlimm, war nicht so wichtig. Danke, Theo.“, antwortete ich hastig und legte auf, bevor er weiter nachfragen konnte. Unserem Sicherheitschef wollte ich nun wirklich nicht von meinem Betrug erzählen und von der Tatsache, dass sich hier möglicherweise ein unbekannter Erpresser im Gebäude herumtreibt.

 

Mittwochmorgen war ich noch wie gerädert, als ich aus der Dusche stieg. An Schlaf war, wie so oft in letzter Zeit nicht zu denken. Ich schleppte dieses Päckchen ja schon seit einem Jahr mit mir herum, aber jetzt mit einer drohenden Katastrophe raubte es mir jeden dringend benötigten Schlaf. Während ich mich fertig machte, sah ich mir auf dem Handy noch einmal alle „Beweisstücke“ an. Im Bad war ich immerhin ungestört.

„Schatz, kommst du gleich zum Frühstück? Was machst du denn so lange da drin?“, ertönte Hendricks Stimme aus der Küche. So viel zum Thema Ungestörtheit.

„Komme!“, rief ich und beeilte mich, damit er nicht sauer auf mich wurde.

„Hast du schlecht geschlafen? Du siehst so müde aus“, bemerkte Hendrick und schaute mich mit besorgter Miene an.

„Ach es ist nichts, das sieht nur so aus“, winkte ich ab.

„Nimmst du wieder deine Antidepressiva?“, fragte er mit gerunzelter Stirn.

„Nein“, log ich, denn das waren schließlich nicht die einzigen Pillen, die ich nahm.

Vor sieben Jahren hatte ich mich endlich aufgerafft und wegen meiner Depressionen einen Psychologen aufgesucht. Letztendlich halfen jedoch nur Antidepressiva. Ich brauchte die Pillen lange nicht mehr. Doch seit dem Medikamentenschwindel vor einem Jahr griff ich wieder danach. Auch zu Beruhigungstabletten griff ich immer öfter.

„Es ist nur die Arbeit im Moment“, sagte ich und versuchte ein Lächeln.

„Du solltest wirklich mal kürzertreten. Du machst schon wieder jede Menge Überstunden und bist ewig im Büro. Du musst nicht immer den ganzen Laden alleine schmeißen. Du hast auch noch ein Privatleben. Egal ob du die Tochter der Eigentümer bist oder nicht. Du steuerst noch auf einen frühen Burnout hin, wenn du so weitermachst!“ Das war eine altbekannte Debatte zwischen uns beiden. Hendrick wünschte sich mehr Zeit, die ich aber nicht hatte. Schließlich musste man für alles im Leben arbeiten. Ich vielleicht noch eine Spur härter als der Durchschnittsmensch. Ich war echt zu müde zum Streiten und versuchte es stattdessen mit Smalltalk. Doch der Rest des Frühstücks verlief angespannt und überwiegend in unangenehmem Schweigen.

„Ich muss los. Bis heute Abend, ich liebe dich!“, gab Hendrick mir einen Kuss auf die Stirn und verließ die Wohnung.

Ich stand vom Tisch auf und suchte an unserem Schreibtisch ein paar Dokumente zusammen, die ich mit zur Arbeit nehmen wollte. Da ich sie nicht auf Anhieb finden konnte, durchsuchte ich die Schubladen, wobei ich feststellte, dass die oberste Schublade des Schreibtisches abgeschlossen war. Merkwürdig! Der Schlüssel steckte zwar immer, aber wir brauchten ihn nie. Vor allem mussten wir ja eigentlich voreinander nichts wegschließen. Wobei du das gerade sagen musst, du schließt immerhin das größte Geheimnis überhaupt weg!

Da meine Neugier wie immer größer war, als dass ich es einfach hinnehmen konnte, fing ich an nach dem Schlüssel zu suchen. Zunächst überall auf dem Schreibtisch. Selbst zwischen den Büroklammern. Dann wühlte ich die Regale nach Verstecken durch und schaute sogar in seinen Jackentaschen und in der Sockenschublade nach. Selbst in einer Müslipackung im Vorratsschrank sah ich nach, dort waren in den Filmen jedenfalls immer die Sachen versteckt …

In dem Moment, als ich beschloss, meine Paranoia über ein mögliches dunkles Geheimnis von Hendrick herunterzuschlucken, kam mir die Idee zu schauen, ob er den Schlüssel wohl unter die Schreibtischplatte geklebt hatte. Dabei kniete ich neben dem Papierkorb, der irgendwie meinen Blick auf sich zog. Obenauf lag ein Kontoauszug. Ich nahm ihn in die Hand und sah, dass er ein aktueller von Hendrick war. Dort sah ich die normalen monatlichen Abbuchungen, aber eine Unregelmäßigkeit war zu sehen. Eine Abbuchung von 2.000 Euro! Wofür hatte Hendrick so viel Geld bezahlt? Er hatte sich in letzter Zeit nichts gegönnt, das hätte ich mitbekommen. Rechnungen zahlten wir grundsätzlich zusammen, obwohl wir getrennte Konten hatten. Wofür war das Geld? War aus diesem Grund die Schublade abgeschlossen? Versteckte er den Grund darin? Hatte er eine Affäre und gab für sie Geld aus? Nein, doch nicht Hendrick! Dazu war er nicht der Typ!

Auf einmal kam mir ein Verdacht. Immerhin benahm er sich in letzter Zeit zwar besorgt, aber öfter auch mal resigniert und distanziert. Hatte er von meinem dunklen Geheimnis Wind bekommen? Waren die Nachrichten vielleicht sogar von ihm? Und hatte er jemanden beauftragt, die Dokumente zu fotografieren? Doch warum hatte er mich dann nicht einfach damit konfrontiert?

Je länger ich grübelte, umso wahrscheinlicher erschien mir der Verdacht. Meine Hände fingen an zu zittern, so ungeheuerlich fand ich die Möglichkeit mit meinem unbekannten Erpresser unter einem Dach zu leben. Schnell ging ich ins Bad und nahm zwei Beruhigungstabletten. Ansonsten würde ich vermutlich gleich hysterisch werden. Dazu hatte ich jetzt auch keine Zeit, denn ich musste dringend ins Büro. Ich war eh schon viel zu spät durch meine Nachforschungen. So prüfte ich, ob alles wie vorher aussah und packte schnell meine Sachen.

Nach einem weiteren langen Tag im Büro, kam ich völlig geschafft nach Hause. Wenigstens hatte es während meiner Arbeit keine weiteren bösen Überraschungen von meinem unbekannten Erpresser gegeben. Vielleicht auch nicht, weil er selber arbeiten war, so wie Hendrick … Doch auch ein normaler Arbeitstag war kräftezehrend genug. Zusammen mit meinem seelischen Chaos kaum noch erträglich! Hendrick saß auf dem Sofa vor dem Fernseher. Wir tauschten nur ein paar Worte, dann aß ich etwas und ließ mir ein Bad ein. So konnte ich meine Gedanken ordnen und alleine sein. Ich mochte mich jetzt nicht zu Hendrick auf das Sofa setzen, wenn ich mir nicht sicher bin, ob er in die ganze Sache verwickelt war. Doch ihn direkt damit konfrontieren wollte ich auch nicht. Ich hatte ja nicht wirklich etwas in der Hand.

 

Ich zuckte plötzlich zusammen. Es war mein Handy, dass die ruhige Hintergrundmusik unterbrach und es signalisierte mir, dass ein Anruf reinkam.

 Mit diesem unerwarteten schrillen Ton habe ich nicht gerechnet. „Mensch Ramona, reiß dich zusammen. Du wirst noch verrückt“, ermahnte ich mich selbst. Aber meine Nerven lagen wirklich blank. So spät abends rief mich eigentlich nie jemand an.

„Hallo?“, sagte ich.

„Hey, hier ist nochmal Theo. Ich habe zwar keine Ahnung, warum du Überwachungsvideos aus dem kleinen Raum im Keller wolltest und das geht mich ja auch nichts an, aber ich musste nochmal drüber nachdenken. Im Flur vor dem Raum gibt es eine Kamera. Würden die dir weiterhelfen?“, fragte Theo zögernd.

Verdammt! Wieso war ich da nicht selbst draufgekommen. Das Überwachungsvideo vom Flur zeigte mir genauso gut, wer in den kleinen Raum gegangen war. Ich schaute auf die Uhr. Sie zeigte 00:24 Uhr. Ich sollte schon längst im Bett sein, doch das ganze ließ mir keine Ruhe. Müde sammelte ich meine Gedanken. Jetzt musste ich nur noch wissen, wann die unbekannte Person in dem Raum war, um die Dokumente abzufotografieren. Die Dokumente befinden sich nämlich schon seit einem Jahr in dem besagten Raum. Ich fragte mich sowieso, warum ich sie damals nicht direkt vernichtet habe. Aber das schlechte Gewissen plagte mich wohl zu sehr. Außerdem brauchte ich sie noch, um die gefälschte Studie so nah wie möglich an der echten aufzubauen, damit ich nur die nötigsten Details ändern musste. Ich schaltete wieder das Handy ein. Vielleicht zeigten mir die Fotos ja an, wann sie aufgenommen wurden und tatsächlich konnte ich das Datum von vor zwei Wochen herausfinden.

„Oh Theo, du bist mein Held!“, sagte ich erfreut, nannte ihm die eben herausgefundenen Daten und bat ihn die entsprechenden Videos für mich zu besorgen. Eine neue Ladung Adrenalin schoss durch meinen Körper, als hätte ich nicht schon genug davon heute gespürt. Aber ich hatte wieder neue Hoffnung, den Fall tatsächlich noch vor der Deadline aufzudecken und eine Veröffentlichung zu verhindern.

 

Am Donnerstagmorgen wachte ich erschöpft auf und fragte mich, welche Überraschungen der heutige Tag wohl bringen würde. Die letzten Tage hatten sich wirklich zu einer Achterbahnfahrt entwickelt. Seufzend stand ich auf, machte mich fertig für den Tag und fuhr ins Büro.

Ich versuchte mich den ganzen Tag auf die Arbeit im Büro zu konzentrieren, was eher schlecht als recht funktionierte. Am späten Nachmittag nahm ich doch noch einmal das Handy in die Hand, um mir die Fotos noch einmal anzusehen, ohne zu wissen, was ich erwartete. Auch diesmal entsperrte sich das Handy von selbst, als ich es hochnahm und drauf schaute. Mein Pulsschlag ging schlagartig nach oben. Es gab ein neues Foto! Die bisherigen Fotos von den geheimen Dokumenten trugen die Titel Beweisstück A – E. Doch nun gab es ein weiteres mit dem Titel Beweisstück F. Ich klickte drauf. Es war keine weitere Seite des Dokuments. Es war ein altes Familienfoto. Im Hintergrund sah man meine Eltern Arm in Arm, wie sie auf das lächelten, was sich im Vordergrund des Fotos befand. Vorne im Bild saß ich mit meinem Zwillingsbruder im Alter von 5 Jahren vor einem Puppenhaus. Lachend spielten wir zusammen.

Es löste tiefen Schmerz in meinem Herzen aus. Wie perfekt dieses Familienfoto wirkte. Damals hatte ich noch meinen Bruder, doch im Alter von 9 Jahren kam er bei dem Autounfall ums Leben. Meine Eltern überlebten, er nicht. Eine Träne kullerte mir über die Wange. Ich fing an zu schluchzen und es kamen noch mehr Tränen. Ich vermisste ihn so sehr. Das Trauma aus meiner Kindheit hatte ich nie überwinden können. Hätte ich damals psychische Hilfe gehabt, sähe heute vielleicht einiges anders aus. Doch die Tragödie wird seit dem Tag des Unfalls von meiner Familie totgeschwiegen. Nur um das perfekte Familienbild zu wahren…, dass ich nicht lache. Momentan halfen mir nur noch Antidepressiva, um mein Leben auf die Reihe zu bekommen.

Diese Erinnerung stach in mein Herz, doch der Schmerz nach meiner Schlussfolgerung, die ich soeben zog, stach noch viel tiefer. Ich ahnte Schlimmes. Dieses Familienbild war etwas sehr Privates. Was ist, wenn der Übeltäter mir mit diesem Bild mitteilen wollte, dass auch er aus meinem privaten Leben stammte? Eindeutiger ging es wohl kaum. Das Foto zeigte meine Familie und ich wusste genau, dass meine Eltern auch in der Vergangenheit Vorfälle vertuschten, um das Unternehmen zu schützen. Würden sie jetzt auch ein Spielchen mit mir Treiben und versuchen, dass ich mit meinem Betrug selbst an die Presse gehe, damit niemand anderes den Skandal aufdeckt und so nicht ganz Balde GmbH mit in den Dreck zieht? Welches Motiv hätten sie sonst haben können. Aber das Ganze war doch zwecklos. Auch wenn meine Familie dort mit drin hing, habe ich doch kaum Möglichkeiten, dafür Beweise zu finden. Ich werde ja wohl kaum die geschäftlichen und privaten Sachen meiner Eltern durchsuchen können. Ich hielt inne. Das sind doch meine eigenen Eltern, wie kann ich sie nur so verdächtigen?! Diese Ungewissheit, wer hinter dem Ganzen steckte und das Gedankenchaos machten mich jedoch so fürchterlich paranoid und einfach psychisch krank, zumindest psychisch kränker als ich eh schon war.

Oder will der Unbekannte mir nur zeigen, dass ich genauso falsch und verlogen bin wie meine Eltern? Ich hätte damals, als die langzeitigen Testergebnisse zeigten, dass das neue Medikament möglicherweise krebserregend sein könnte, einfach einen Medikamentenrückruf veranlassen sollen. Dann wäre mir das Ganze hier erspart geblieben. Doch mein Stolz und der Druck meiner Eltern, immer perfekt zu sein, führten letztendlich dazu, dass ich kurzerhand die Testergebnisse fälschte. Mein Kopf dröhnte so stark, als würde er gleich platzen. Ich warf noch ein paar Schmerztabletten (andere als Kuronaen) und Beruhigungspillen ein. Was auch immer der Unbekannte wollte, er hatte es geschafft. Ich ertrug das alles nicht mehr und rannte zu den Toiletten, wo ich mich in einer Kabine verschanzte. Ich schluchzte stark und die Tränen flossen nur so aus mir heraus. Er hatte es geschafft, in nur ein paar Tagen mein ganzes sicheres und vertrautes Leben auf den Kopf zu stellen. Jeden, dem ich sonst vertraute, betrachtete ich nun misstrauisch. Der Unbekannte konnte jemand aus dem Büro sein, es konnte ein Geschädigter, ein Konkurrent oder ein Kritiker sein oder jemand aus meiner Familie. Mein Freund, meine Mutter, mein Vater? Mein Gedankenchaos hatte sich in den letzten Tagen in die reinste Höllenfahrt verwandelt. Irgendetwas stimmte nicht. Hatte ich etwas übersehen? Warum habe ich das Handy und die Fotos der Dokumente geschickt bekommen, der Täter hätte mit dem Skandal auch direkt an die Presse gehen können.  Jeder Denkanstoß, den er mir mit den Fotos gab, brachte nur noch viel mehr Fragen auf. Warum will jemand, dass ich psychisch nur so leide. Ich schluchzte immer noch und atmete hastig. Ich hatte eine Panikattacke. In dem Moment erkannte ich, dass ich machtlos war. Dann sollte der Unbekannte die ganze Geschichte doch öffentlich machen. Dann würde ich halt wegen Betrug und Schwindel angeklagt werden. Es konnte doch wohl kaum noch schlimmer werden. Ich fühlte mich unglaublich elend.

Dieser mentale Zusammenbruch zerrte sehr an mir, doch ich begab mich wieder an meinen Schreibtisch. Ich gab die Verfolgung nach dem Unbekannten auf. Das alles hatte doch überhaupt keinen Sinn. Matt und ausgelaugt versuchte ich mich auf die zu bearbeitenden Unterlagen auf meinem Schreibtisch zu konzentrieren.

 

Der nächste Tag war ein Freitag. Normalerweise freute ich mich da schon immer auf das Wochenende. Doch an diesem Freitagmorgen schlug ich meine Augen auf und spürte kaum etwas. Ich war auch heute Morgen schon wieder sehr kraftlos und ich schliff mich wieder zur Arbeit. Seufzend saß ich vor einigen unbeantworteten geschäftlichen E-Mails, als ich plötzlich die eingegangene Mail von unserem Sicherheitschef sah. Oh Gott, Theo hatte ich ja ganz vergessen. Ich öffnete sie.

„Hallo Ramona“, schrieb er. „Hier sind die Überwachungsaufnahmen, die du sehen wolltest. Tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, es gab die letzten Tage viel zu tun. Ich wüsste nicht, wobei die Aufnahmen dir helfen sollen, aber sieh selbst. LG Theo.“

Bei der ganzen mentalen Belastung der letzten Tage hatte ich die Überwachungsvideos komplett vergessen! Das Gefühl der Antriebslosigkeit und Abgeschlagenheit verschwand. Stattdessen raste mein Puls wieder und ich klickte auf die Datei, die mit der Mail mitgeschickt wurde.

Es erschien der Flur im Keller. Die Qualität der Aufnahme ließ zu wünschen übrig, doch die Person, die dann im Bild erschien erkannte ich sofort. Die Person war ich selbst. Völlig perplex starrte ich auf die Aufnahme. Ich sah mich selbst wie ich den Flur entlang ging und auf den kleinen Raum neben den großen Lagerraum zusteuerte. Mein Ich auf der Aufnahme öffnete die Tür und verschwand darin. Ich konnte gar nicht realisieren, was das gerade zu bedeuten hatte. Acht Minuten später spazierte ich wieder aus dem Raum heraus und ging zurück zum Aufzug. Dann endete die Aufnahme.

Was hatte ich da gerade gesehen? Wie war das möglich, dass ich mich nicht mehr daran erinnerte, dass ich selbst in den Raum gegangen war?

Eine Erinnerung kam hoch. Ich war nach dem Tod meines Zwillings nie in psychologischer Behandlung. Das erste Mal sprach ich mit meiner Psychologin, als ich sie vor sieben Jahren wegen meiner Depressionen aufsuchte. Wir sprachen über die möglichen Ursachen und auch über das Trauma aus meiner Kindheit. Sie sagte, Kindheitstraumata dürfe man nicht unterschätzen, aus ihnen können sich schwerwiegende psychische Störungen entwickeln. Sie sprach über viele möglich Folgen. Doch ich sagte immer, es ginge mir gut, es seien nur gewöhnliche Depressionen. Sie schien allerdings sehr besorgt und sprach von möglichen Angststörungen oder Posttraumatischen Belastungsstörungen. Ich hielt ihr Gerede allerdings für übertrieben und schwachsinnig. Zumindest die Antidepressiva wirkten und so brach ich die Behandlungen ab. Ich habe nie wieder an meine Gespräche mit ihr zurückgedacht. Doch nun ergab es zum ersten Mal Sinn. Mich beschlich eine Ahnung, welche mir ganz und gar kein gutes Gefühl gab. Ich musste mich aber vergewissern und öffnete kurzerhand Google. Ich suchte nach Symptomen für PTBS.

Mit zittriger Hand scrollte ich zum Ergebnis. Dort stand geschrieben, Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung sind unter anderem Schuldgefühle, Misstrauen, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, depressive Verstimmungen, andauerndes Gefühl von Nervosität und Bedrohung. Wow, und wie haargenau das alles auf mich zustimmte.

Und dann las ich es.

„Zeitlich begrenzte dissoziative Episoden und Depersonalisationserlebnisse“, stand dort geschrieben. Ja, das musste es sein. Nur so ergab alles Sinn.

Die Person auf den Videos war ich selbst. Ich konnte mich nur nicht mehr dran erinnern, weil es in diesem Moment zu einer dissoziativen Episode kam. Sprich – ein bestimmter Teil meiner Identität hatte die Kontrolle über meine Körper übernommen.

Mir wurde schlecht. Ich bin wirklich gestört.

Bei so viel Stress im Unternehmen, bei dem Druck, den meine Eltern auf mich ausübten und bei all den bisherigen Nervenzusammenbrüchen lag es nahe, dass ich dieser Situation nicht mehr lange aushalten könnte. Ganz zu schweigen von der psychischen Vorbelastung durch den Tod meines Zwillingsbruders. Da entschied sich wohl ein Teil in mir, der ganzen Zwickmühle ein Ende zu setzten.

Ich selbst nahm die Fotos von den Dokumenten auf und ich selbst drohte mir damit an die Öffentlichkeit zu gehen, um reinen Tisch zu machen. Denn bei der psychischen Belastung, die durch den Betrug auf mir lag, hätte mein Körper nicht mehr lange mitgemacht. So war es auch logisch, dass sich das Smartphone via Face-ID problemlos entsperren ließ und ich selbst in den kleinen Lagerraum spazierte, um die Fotos zu machen.

Ich war noch selbst von meiner Erkenntnis geschockt. Verdammt. Was sollte ich nur tun? Ich hatte Angst mit auch nur der kleinsten weiteren Tat weitere unberechenbare Dinge anzustellen. Jetzt vertraute ich nicht mal mehr mir selbst.

Instinktiv nahm ich das Telefon in meine Hand und rief Strömer an. Er war der Einzige, dem ich noch vertrauen konnte und das auch nur, weil er der Familienanwalt war und immer gute Dienste leistet. Und nicht, weil wir uns persönlich so nahestanden. Es klingelte.

„Ach hallo Ramona, gut dass du anrufst! Ich habe mich mal umgehört und es wird tatsächlich eine Anklage auf Balde vorbereitet.“

Verdammt, das jetzt auch noch. Also hat wohl wirklich noch jemand anderes von den krummen Geschäften des Unternehmens Balde mitbekommen.

„Strömer, ich bin krank. Ich bin psychisch sehr krank und weiß nicht weiter.“ Brach ich ihn ab.

Es herrschte kurze Stille.

„Oh Ramona, wenn das so ist, dann suche dir ganz schnell Hilfe. So kannst du bei dem Prozess noch als unzurechnungsfähig geltend gemacht werden und überlässt die Anklage deinen Eltern und mir. Ich habe schon immer befürchtet, dass du für diesen Job noch viel zu jung bist.“

Ich war erschrocken über seine Reaktion. Er schien nicht wirklich überrascht, doch vermutlich machte er nur seinen Job und wusste wie er mir so wie all seinen Klienten möglichst schnell aus der Klemme helfen konnte.

„Okay, danke Strömer. Ich melde mich bald wieder bei ihnen.“ Ich legte auf und wählte stattdessen eine andere Nummer.

„Hallo hier ist Ramona Balde und ich glaube ich habe eine dissoziative Identitätsstörung“. Die Telefonnummer gehörte einer Psychiatrie und mit meiner Aussage hatte ich mich förmlich selbst eingeliefert.

 

So saß ich, Ramona Balde, einzige Tochter und Alleinerbin des riesigen Pharmaunternehmens Pharma Tech Balde GmbH, in einem sterilen, weiß-gestrichenen Einzelzimmer in der psychiatrischen Anstalt. Wie gut, dass ich mir eine nette  Einrichtung leisen konnte, die mehr Komfort bot, als die durchschnittlichen Psychiatrien.

Meine wenigen Sachen, die ich eilig gepackt hatte, machten den Raum aber auch nicht viel persönlicher. Ich saß an dem Tisch und schaute auf die Parkanlage.

Hier saß ich nun. Chronisch übermüdet und abgeschlagen. In den Ruinen meines Lebens. Am Boden angekommen. Ich hatte alles, ein privilegiertes Leben, einen guten Job, eine steile Karriere, eine schicke Wohnung, teuren Schmuck und einen tollen Freund. Und jetzt hatte ich alles verloren. Nicht einmal mehr meine Familie sprach mit mir, ich war gewissermaßen verstoßen worden.

Doch gleichzeitig spürte ich auch große Erleichterung und merkwürdigerweise eine innere Ruhe. Ich hatte keine Pflichten mehr und auch kein riesiges dunkles Geheimnis, von dem niemand erfahren durfte. Ich stand nicht mehr unter dem gewaltigen Leistungsdruck, in den Augen meiner Eltern zu glänzen. Ich war nicht mehr das Arbeitstier, das sich mit gerade 32 Jahren an den Rande eines Burnouts geackert hatte. Das erste Mal in meinem Leben war ich frei von allem. Gutem wie Schlechtem.

Aber mit all diesen Dingen, hatte ich das Gefühl, dass auch meine Identität verloren war. Alles, was mich einst ausgemacht hatte, worüber ich mich definiert hatte – Karriere, Job, Familie, Erfolg – all das war weg. Ich musste mich neu erfinden. Herausfinden, wer ich eigentlich war. Unabhängig von meiner Familie und von meinen ganzen Statussymbolen, auf die ich so viel gegeben hatte. Ein Neuanfang in der Klapse. Nicht gerade eine großartige Ausgangslage, um neu anzufangen.

Am Nachmittag kam Hendrick mich besuchen. Ich sah genauso elendig aus, wie ich mich fühlte – weiß, wie die Wand und tiefdunkle Augenringe.

Hendrick und ich saßen uns gegenüber. Eine ganze Weile schwiegen wir uns nur an. Es war an mir, das Gespräch anzufangen. Ich war es ihm schuldig endlich reinen Tisch zu machen. Und so holte ich tief Luft und fing an zu erzählen. Alles, was ich ihm seit über einem Jahr verschwieg und was so ungeheuerlich falsch war, dass es unweigerlich vorbei sein musste zwischen uns. Das war mir klar.

Doch eines war mir nicht klar. In meiner ganzen Erzählung konnte ich alles erklären. Nur nicht die Summe der Abbuchung auf Hendricks Kontoauszug, den ich zufällig entdeckt hatte. Ihm jetzt auch noch zu beichten, dass ich ihn verdächtigt hatte, zog ihm endgültig den Boden unter den Füßen weg. Aber jetzt wusste er wenigstens alles.

„Du willst wissen wofür das Geld war? Ich habe dir einen Verlobungsring gekauft, weil ich dir einen Antrag machen und dich heiraten wollte! Damit du ihn nicht findest, bis es eine geeignete Gelegenheit gab, dich zu fragen, habe ich ihn in der Schreibtischschublade weggeschlossen“, sagte Hendrick mit belegter Stimme.

Das zog mir jetzt den Boden unter den Füßen weg. Ich korrigiere, jetzt war ich ganz unten angekommen. Mein Freund hatte mich heiraten wollen und ich paranoide Idiotin hatte gedacht, er hetzt mir jemanden auf den Hals oder ist selbst der Täter. Die Erkenntnis, was für ein schlechter Mensch ich war, gab mir den Rest.

„Es tut mir so leid!“, war alles was ich sagen konnte, während mir stumme Tränen die Wangen herunterliefen.

„Mir auch! Leb wohl!“ Und mit diesen Worten stand Hendrick auf und verließ mein Zimmer. Und damit auch mein Leben. Wenn er schlau gewesen wäre, hätte er das schon viel früher gemacht. Er verdiente was Besseres …

Es war mitten in der Nacht. Ich wusste nicht warum ich aufgewacht war. Ich hatte hämmernde Kopfschmerzen und war vollgepumpt mit Beruhigungstabletten. Ich schaltete meine Nachttischlampe ein, um eine Tablette zu nehmen, als mich ein Schock durchfuhr. Ich war nicht alleine im Raum. Mir gegenüber saß eine Frau. Es war, als blickte ich in einen Spiegel, denn diese Frau war geradezu mein Ebenbild. Ich blinzelte verdattert, doch die Person schien keine Einbildung zu sein. Wer war das? Und wie kam sie hier hinein? Oder war ich jetzt völlig verrückt geworden und sah eine meiner Persönlichkeiten mir gegenüber sitzen?

„Hallo Schwesterchen! Freust du dich gar nicht mich zu sehen? Du hast ja ganz schön Mist gebaut, dafür, dass du einst das Vorzeigekind in unserer Familie warst!“

Wovon sprach sie, oder vielleicht auch ich?

„Wer bist du?“

„Klar, du kannst mich gar nicht erkennen. Das letzte Mal als wir uns sahen war ich ein Junge. Genauer gesagt dein Zwillingsbruder.“

„Du bist nicht real, mein Bruder ist bei einem Autounfall gestorben!“

„Ein Autounfall? Ach, wie kreativ unsere Eltern doch waren, um ihre Schande zu bedecken. Ich bin nie gestorben. Ich habe mich nur verändert.“

„Wie meinst du das?“

„Ach Schätzchen, ich hatte schon immer das Gefühl, im falschen Körper geboren zu sein. Je älter ich wurde, desto mehr verstärkte sich dieser Eindruck und ich wollte schon seit ich denken kann ein Mädchen sein, um endlich Ich-Selbst zu werden. Ich spielte schon immer gerne mit Puppen, trug Kleidchen und zeigte eine Abneigung gegen mein männliches Geschlechtsteil. Doch ich passte dadurch nicht in das klassische, konservative Bild unserer Eltern, die so stolz darauf waren, einen Sohn zu haben. Als dieser verweichlichte und sich wie ein Mädchen benahm, versuchten sie, mich umzuerziehen. Doch ohne Erfolg.

Unsere Eltern machten sich wohl viele Gedanken darüber, warum ihr Sohn so „psychisch krank“ ist und sich nicht anständig zu benehmen weiß. Sie entschieden sich eines Tages kurzerhand, mich ins Heim zu bringen. Eine Transgenderkind konnten sie als solche Belastung für das so perfekte Familienbild wohl nicht ertragen und schwiegen mich einfach tot. Fast schon amüsant, wenn es nicht so tragisch wäre. Durch meine Zeit im Heim hatte ich keine leichte Kindheit, aber wenigstens durfte ich letztendlich DIE sein, DIE ich nun mal war. Ich konnte rechtzeitig mit der nötigen Hormontherapie anfangen und ich ließ meinen Körper direkt operieren, als ich volljährig wurde.“

Ich konnte es nicht fassen, was die Person, quasi mein zweites Ich, mir da erzählte. Ich musste träumen, doch es fühlte sich so real an.

„Von da an, nahm ich mir vor mich eines Tages an unseren Eltern zu rächen, dafür, dass sie mich verstoßen hatten. Eigentlich hatte ich nicht vor, es auch an dir auszulassen, aber du warst nun mal eine Steilvorlage, um das Unternehmen zu ruinieren. Das Herumschnüffeln fiel mir äußerst leicht, da ich aussehe wie du. Keiner schöpfte Verdacht, als ich nach belastenden Sachen in der Firma suchte. Ich wusste, dass das Unternehmen Leichen im Keller haben musste. Ich kenne doch unsere Eltern! Ich war auf den Überwachungsvideos und ich habe das Handy platziert und dir die Akten geschickt. Ich wollte dir eigentlich eine Möglichkeit geben deinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, doch dann habe ich bemerkt, dass du ganz alleine Schuld an dem Ganzen warst. Du kommst also ganz nach unseren Eltern. Leider haben sie es mal wieder geschafft, sich aus der Affäre zu ziehen und deinen Kopf einfach komplett hinzuhalten. Das Unternehmen nimmt zwar Schaden, ist aber nicht ruiniert. Nun sind wir beide Verstoßene. Um deinen herbeigeführten Ruin wenigstens etwas zu entschädigen, würde ich dir anbieten zusammen mit mir Rache zu üben. Als Zwillinge wären wir doch unschlagbar. Überleg es dir!“ Und damit stand mein Zwilling auf und verließ das Zimmer.

Als ich das nächste Mal aufwachte war es bereits hell. Ich strich mir über die Schläfen. Erholsam war die Nacht mal wieder nicht gewesen. War diese irrwitzige Situation nur ein Traum gewesen? Hatte ich mir all das nur eingebildet? Oder war es doch real gewesen? Lebte mein Zwillingsbruder tatsächlich noch und war mittlerweile eine Frau und nur deshalb aus der Familie verstoßen und für tot erklärt worden? Diese Theorie klang sehr unrealistisch und war vermutlich das Ergebnis von den ganzen Tabletten und meiner wilden Fantasie gemischt mit zu viel Paranoia. Oder es kam von meiner Persönlichkeitsstörung. Ich war anscheinend einfach nur irre und träumte entsprechend. Während ich mir das einredete, drehte ich mich im Bett um. Mein Blick fiel auf die eingeschaltete Nachttischlampe …

One thought on “Der Mitwisser

  1. Lieber Unbekannter Autor,
    Du hast uns da wirklich eine spannende Geschichte serviert. Deine Abschnitte sorgen für einen anregenden Leseflow und dein Schreibstil fesselt den Leser ungemein.
    Die Idee deiner Geschichte hat mir ebenfalls gut gefallen. Sie war nicht von vornherein absehbar sondern hat immer wieder überrascht. Toll gemacht! Dran bleiben!:)

    Wenn du möchtest, lese doch auch mal meine Geschichte „was sich liebt das hackt sich!“ würde mich sehr freuen 🙂

    Herzlich – Lia 🌿

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