Phil.SteDer Regentropfen-Effekt

Henry stand vor der schattigen Wand des undurchdringlichen Walddickichts und blickte auf das Display des fremden Smartphones, welches er in seinen blutigen Händen hielt. Der blaue Himmel, der sich im Display wiederspiegelte, war bereits zur Hälfte von dicken Gewitterwolken verschlungen. Als in der Ferne das erste Donnergrollen brummte, sah er hinauf. Es wurde ihm allmählich eines bewusst. Der Wald, vor dem er stand, war kein gewöhnlicher Wald. Kindheitserinnerungen, die eine fast vergessene Zeit zum Vorschein brachten. Er sah sich und seine damaligen besten Freunde Buden aus Baumstämmen bauen, Räuber und Gendarm spielen und durch die Nacht wandern, während sie sich schaurige Geschichten erzählten. 

Dieser Ort war ein weiteres Puzzleteil. Doch ehe er es zusammenführen konnte, riss ihn das aufleuchtende Bild des Sperrbildschirms wieder aus seinen Gedanken und Erinnerungen heraus – eine neue Nachricht.  

Geh in das Hexenhaus. Du hast nur 10min! 

Hexenhaus. So nannten sie früher die angsteinflößende Holzhütte, die sich mitten im Wald befand und lediglich ein Lagerraum der Jugendherberge war. 

Wer war die unbekannte Person, die ihn durch Stadt und Dorf jagte und drohte, all seine Geheimnisse auszuplaudern? War es einer seiner Arbeitskollegen oder doch Familie Blendt? Gleich wer, aus welchem Grunde das Ganze? 

Er eilte durch das Unterholz. Mit jedem Atemzug roch es mehr nach Regen. Ein Geruch von feuchter Erde, der aus den Hohlräumen des ergiebigen Waldbodens emporstieg. Jeder seiner Schritte und jedes laute Knacken der Äste, auf die er trat, scheuchten scharenweise Vögel aus den Büschen und Bäumen. 

Henrys Gesundheitsstatus war alles andere als stabil. Das Einzige, was er in den letzten zwei Tagen zu sich genommen hatte, waren Schmerztabletten und mehrere Dosen Energydrink. In Gedanken ging er seine Optionen durch, die nicht gerade zahlreich waren. Weder konnte er einen Notruf absetzen, noch wen zur Hilfe bitten. Durch den Ortungsdienst, den er auf gar keinen Fall ausschalten durfte, wusste die Person jederzeit, wo er sich befand.

Er rannte schneller. Der Weg schlängelte sich an einem schmalen Graben entlang und führte auf eine kleine Anhöhe. Er stützte sich kurz an einen Baum, holte tief Luft und musterte die Weite des Forstes. Henry konnte sich nicht mehr entsinnen, wo genau die Hütte lag, doch er musste rasch nachdenken, denn ihm blieben nur noch drei Minuten. Der Himmel polterte und schoss einen Blitz auf die Erde, gefolgt von einem kleinen Regentropfen, der an seinem Kinn abperlte und sich schließlich mit seinem verschwitzten T-Shirt vereinigte. In der Ferne sah er dann einen Pfahl, dessen Spitze mit roter Farbe verziert war. Er konnte sich wieder erinnern. Dies war der Wanderweg, der definitiv an der Holzhütte vorbeiführte. Er sprintete den Hügel hinunter, sprang über den Graben und begab sich auf den überwucherten Wanderweg. Trotz seines Tempos erfassten ihn zahlreiche Regentropfen. Aus dem staubtrockenen Wald wurde in kürzester Zeit ein Tropengebiet. Frühsommerhitze gekrönt mit Schauer und Gewitter. Als die letzte Minute anbrach, sah er zum Glück schon die Hütte. Es schien, als hätten seine Beine nur auf den Befehl gewartet, denn sie brachten ihn mit letzter ungeahnter Kraft rechtzeitig an das Ziel. Henry stellte sich unter das schmale Vordach, trocknete seine nassen Hände an seiner Jeans ab, zückte das Smartphone und verkündete der unbekannten Nummer, dass er die Hexenhütte erreicht hat. 

Ach Henry, das weiß ich doch. Nun geh hinein! 

Er blickte angsterfüllt auf die betagte Türe, während er nur langsam zu einem normalen Atemrhythmus zurückfand. Fuck… Warum zum Teufel genau diese Hütte?

Noch am Freitagnachmittag ahnte er nichts von den furchtbaren Dingen, die ihm widerfahren würden. Während er die letzte E-Mail verfasste, auf die Uhr schaute und bemerkte, dass das Wochenende bereits anbrach, verabschiedeten sich seine Kollegen. Zügig tippte er die letzten Worte in die Tastatur und schickte sein Geschriebenes ab, damit auch er aus dem heißen Büro fliehen konnte. Normalerweise konnte Henry sich glücklich schätzen, da er zu seiner Beförderung ein Büro auf der Südseite erhielt, doch durch die defekte Klimaanlage, war dies alles andere als ein Geschenk. Immerhin bekam er ein Einzelbüro und musste nicht ständig die Essensreste seiner Kollegen wegwischen oder den Papierkorb leeren, weil der vorige Nutzer des Schreibtisches sich wieder zu Schade war, seinen eigenen Müll zu entsorgen. Non-territoriale Büros nannte man dieses hochgepriesene Bürokonzept, bei dem niemand einen festen Arbeitsplatz besitzt. 

Die Flure waren längst düster und das letzte Radio verstummte. Henry fuhr den Computer hinunter, griff zu seiner Tasche und zu seinem Hemd, welches er verbotenerweise ausziehen musste, da er es sonst nicht bis zum Feierabend ausgehalten hätte. Er verließ sein Büro und sah, dass im Gemeinschaftsraum noch Licht brannte. Als er in den Raum trat und den Lichtschalter betätigte, hörte er es vibrieren. Auf dem hintersten Tisch im Raum leuchtete ein Smartphone auf und wanderte langsam in Richtung Tischkante. Bevor es durch den Vibrationsalarm hinunterfiel, eilte Henry hin und nahm das Gerät auf. Er rechnete mit einem eingehenden Anruf, doch es war eine eingestellte Terminerinnerung. Als er den Titel der Erinnerung las, strömte ein kalter Schauer durch seinen warmen Körper. „Entsperre mich Henry.“ Das ist doch ein schlechter Scherz… und das an einem Freitag. 

»Sehr witzig«, rief er genervt durch die leeren Räume und Flure der Firma, doch niemand antwortete oder sprang gar hervor, um den Witz aufzulösen. 

Noch immer vibrierte das Smartphone in seiner Hand. Er strich mit seinem Daumen über das Display und schloss die Terminerinnerung – es öffnete sich die Galerie. Henry begann zu zittern und starrte fassungslos auf das Mobilgerät hinab. Er konnte seinen Augen einfach nicht trauen. Es erschien ein Bild, an dem Existenzen hingen. Ein Geheimnis, bei dem sich jeder sicher war, dass es niemand je lüften würde. Konfus wischte er weiter nach rechts. Hunderte Bilder. Er begann sie panisch zu löschen, ohne daran zu denken, ob es überhaupt etwas bringen würde. Auf jedem dieser Bilder war er zu sehen. Henry fühlte sich noch nie so beobachtet, wie zu jenem Zeitpunkt. Bild für Bild klickte er an und drückte auf den Abfalleimer – dann vibrierte das Smartphone erneut. Diesmal war es, wie zuletzt erwartet, ein eingehender Anruf. 

Er war sich nun sicher, dass es sich nicht um einen Spaß handelte. Am liebsten hätte er das Smartphone einfach zu Boden geschmissen und zertreten, doch er traute sich nicht. Das Herz pochte wie verrückt und die Schweißperlen vermehrten sich. Erst nach drei Versuchen gelang es ihm, den Anruf mit seinem verschwitzten und zitternden Finger anzunehmen. 

»Endlich Henry… Ich hatte schon Sorge, dass du gar nicht mit mir telefonieren magst«, sprach eine verzerrte Stimme und lachte. 

»Wer… Wer bist du?« 

»Das wirst du noch früh genug erfahren. Erst hörst du mir genau zu! Ich werde dir nun ein paar Spielregeln erklären…«

»Hör auf mit dem Scheiß! Wer verdammt bist du? Und woher hast du diese Bilder?«, rief Henry wütend und unterbrach die Person mit der Roboterstimme.

»Tja, und so verlor Henry sein erstes Leben – bleiben nur noch zwei. Unterbrich mich ein weiteres Mal und du wirst es bereuen, mein Lieber.«

»Dann sag doch endlich, was willst du von mir?«

»In den nächsten zwei Tagen wirst du das tun, was ich dir schreibe. Regelverstöße führen dazu, dass all deine Geheimnisse der Polizei offenbart werden. Jeder wird sehen, was du wirklich für ein Mensch bist, Henry. Also hör nun ganz genau zu…«

Henry setzte sich nieder und schenkte dem Anrufer seine volle Aufmerksamkeit.   

»…Dein eigenes Handy hinterlässt du im Anschluss des Telefonats in deinem Büro. Erst am Sonntag um 23:59 Uhr darfst du es dir zurückholen – falls du nicht scheiterst. Ich werde dir nach und nach Aufgaben stellen, die du erledigen wirst. Kontakt mit anderen Menschen ist verboten. Den Ortungsdienst, sowie den Stromsparmodus empfehle ich dir angeschaltet zu lassen. Ist der Akku leer oder das Smartphone schaltet sich aus anderen Gründen aus, dann hast du Pech. Du wirst dich auf direktem Wege an die Orte begeben, an die ich dich schicke. Verstößt du gegen meine Regeln oder führst nicht genau das aus, was ich dir auftrage, verlierst du ein weiteres Leben. Zwei hast du ja noch, haha… Alles verstanden?«

»Ich habe eine Familie, die zuhause auf mich wartet…«

»Schreib ihnen, dass du spontan auf Geschäftsreise müsstest und erklärst ihnen alles am Sonntagabend. Bring nun dein Handy ins Büro. Und denk daran: Ich sehe, höre und erfahre alles, was du tust. Versuch mich nicht zu verarschen.«

Es folgte ein Moment der totalen Stille, dann lachte die Person und legte auf. 

Henry zog sein Smartphone aus der Hosentasche und starrte auf sein Hintergrundbild. Er sah in die Augen seiner lachenden Tochter. Shit – Mehr Gedanken blieben ihm nicht. Er schrieb seiner Frau eine kurze Nachricht, ging in sein Büro und öffnete die Schublade seines Schreibtisches. Er legte es direkt neben die Whiskeyflasche, auf die er dann seinen Blick heftete. Henry schenkte sich ein halbes Glas ein und kippte den Drink mit einem Mal hinunter. 

Begib dich zum Busbahnhof. Du hast 15min!

Er spurte zum Mitarbeiterparkplatz über dem der große Schatten eines Werbeplakats mit der Aufschrift –Aktien lohnen sich – BB– ragte. Blendt Börse, das Unternehmen, welches sich Henry vor sechs Jahren hingab. Ausgerechnet das unästhetisch-breite Grinsen seines Chefs schmückte die komplette Fläche des riesigen Plakats. Jeden Morgen versuchte er nicht hinzuschauen, um der schlechten Laune zu entkommen, die ihm nach diesem Anblick überfiel. Dies gelang ihm selten. Seit zwei Wochen allerdings, schaute er bewusst hin und fragte sich, wann sie es endlich abziehen würden. Niemand schaut gern in das Gesicht seines frischverstorbenen Chefs. Auch nicht um sein glänzendes Lächeln in Erinnerung zu behalten, denn dies war eine einmalige Aufnahme. 

Henry schmiss sich in den Ledersitz seines BMW, schaltete per Knopfdruck den Motor an und brachte die Klimaanlage sofort auf Hochtouren. Leere Pfandflaschen und Burger-Boxen aus Pappe flogen in den Fußraum, als er mit voller Geschwindigkeit auf die Hauptstraße raste und Richtung Bahnhof fuhr. 

Das lag nicht daran, dass er ein Schmutzfink war, sondern lediglich daran, dass er öfters auf der Rückbank hauste, wenn er wiederholt Krach mit seiner Frau bekam und aus dem Konflikt flüchtete. Vor zwei Wochen allerdings verstand er, dass nicht jeder Konflikt eine Fluchtoption bietet. Und nun hatte er scheinbar auch noch einen Stalker am Hals, der ihn zu merkwürdigen Handlungen zwang. 

Der Busbahnhof war verdächtigt leer. Ausschließlich eine meckernde alte Dame, die vor der verschlossenen Tür eines Busses stand, auf dessen Anzeigetafel ein Kaffeetassensymbol von links nach rechts schwebte, und ein Mann in orangereflektierender Uniform, der die Straße fegte, bildeten die Gesellschaft des Bahnhofes. Henry fuhr rechts ran und wartete. Im Hintergrund ertönte das unangenehme Quietschen eines Zuges, welcher an der Gleisanbindung hielt. Vertraute Geräusche. Geräusche, die ihn an die Realschulzeit erinnerten. An die ganze Stunde Wartezeit bis der Bus endlich kam, um ihn zurück aufs Dorf zu bringen. Dort, wo nun auch seine Familie verblieb und sich wahrscheinlich fragte, weshalb er so spontan auf eine Geschäftsreise müsse. 

Steig in den Restmüllcontainer und suche nach einem Schulbuch!!!

Obwohl man es nicht eindeutiger hätte ausdrücken können, fragte Henry sich, ob man nun wirklich fordere, dass er in den stinkenden Container reinkriecht, in dem der Herr von der Stadtreinigung gerade seinen Kehricht entsorgte. 

Es folgte eine zweite Nachricht. Ein weiteres Bild. Eine Botschaft, die ihn daran erinnerte, sich der Aufforderung lieber nicht zu entziehen und ein weiterer Beweis, der Henry in den Untergang führen könnte. Ich habe keine andere Wahl…

Ein Blick nach rechts, ein Blick nach links. Niemand, der ihn beobachtete. Er klappte die schwarze Kunststoffhaube des Containers auf und sprang in den miefenden Müllhaufen. Es war nicht wie daheim, wo der Restmüll im Schutze einer Plastiktüte entsorgt wird. Dort lagen die Essensreste, Zigarettenkippen und, wenn er richtig sah, eine tote Taube, lose aufeinander und gammelten vor sich hin. Er hielt seine Nase zu, atmete durch den Mund und wühlte mit der anderen Hand durch den Abfall. Was man auch immer gegen ihn in der Hand hatte, es vernichtete jegliche Hemmungen. Unter einer Bananenschale kam schließlich ein hellblaues Mathematikbuch zum Vorschein, welches er gleich öffnete.

-Nächstes Ziel – Realschule Herrentoilette-

Der Wunsch, seine alte Schule nie wieder von innen zu sehen, ging somit nicht in Erfüllung. Henry parkte auf dem kleinen Lehrerparkplatz und schaute auf das verschlossene Tor des Schulhofes. Der einzige Weg, um Zutritt auf das Gelände zu bekommen. Das Tor war etwa drei Meter hoch und verlieh dem Hof die passende Gefängnisatmosphäre. Es blieb ihm nichts anderes übrig, er musste darüber klettern. Mit achtunddreißig Jahren schien es ihm locker möglich, doch rasch merkte er, dass ihm in Zukunft etwas mehr Sport und Bewegung guttun würde. Umso erleichterter war er, dass er nach dieser halsbrecherischen Aktion nicht an den scharfen Lanzenspitzen hängen blieb und ohne aufgerissene Hose wieder Boden unter den Füßen spürte. Er wischte sich den schmierigen Grünspan von seinen Händen und lief vorsichtig zur Herrentoilette. 

Ohnehin hätte ihn niemand erwischen können, da selbst der Hausmeister in den Osterferien keinen Schritt in die Schule wagte. Vor der Toilettentür beschlich ihn eine neue Angst. Ein grausames Szenario breitete sich vor ihm aus. War dies der Ort, an dem ihn die Hinterbliebenen seines ehemaligen Chefs stellen würden? 

Henry würde sich nicht kampflos fallenlassen. Er trat so stark gegen die Türe, dass sie gegen die Wand krachte und stürmte in den weißverfliesten Raum. 

»Was wollt ihr von mir? Ich habe nichts mit der Sache zu tun!«

Seine Worte schallten durch jede einzelne Kabine und wieder zurück, doch er war allein. Der Einzige in diesem Raum, der die verpestete Luft einatmete, die einen unangenehmen Geruch eines Essig-Wasser-Gemisches mit sich trug.

Was soll ich nun hier? Noch ein blödes Buch suchen? 

Das Licht, was sich durch den Bewegungsmelder anschaltete, flackerte. Plötzlich herrschte furchtbare Dunkelheit. Henry blickte hinauf zu den Neonlampen und trat einen Schritt vor. Als sie wieder ansprangen, fiel es ihm auf. Alle Spiegel waren beschmiert. Blut? Oder doch nur rote Farbe? Er versuchte die Worte zu entziffern. 

Treulos. Illoyal. Verräter. Rache… Was soll das alles bedeuten? 

Plötzlich schlug die Türe hinter ihm zu. Henry hörte, wie sich ein Schlüssel zweimal im Schloss drehte. Jemand war bei ihm. Keine drei Meter entfernt. 

»Was zum… Wer ist da?«, fragte er aufgeregt und zog an der Klinke. Verschlossen.

»Hör auf mit diesen Spielchen und mach die Tür auf!«

Er vernahm, wie sich die Person entfernte und schlug gegen die Metalltür. 

»Wenn ich hier rauskomme, dann werde ich dich…«, schrie er, ohne genau zu wissen, was er wirklich tun würde. Er musterte den Raum. Schaute, ob es einen anderen Weg hinausgibt, doch die Fenster aus Ornamentglas waren zu schmal. Kurze Zeit später, folgte eine Textnachricht:

Drohst du mir etwa, Henry? Hahaha. Präg dir die Worte ganz genau ein! Morgenfrüh darfst du wieder raus, solange du brav bleibst. 

Die Kirchenglocken läuteten. Er schaute auf die Uhrzeit – 18:01 Uhr.

Henry steckte in seinen Gedanken fest und versuchte zwanghaft die rätselhaften Worte zu entschlüsseln. Es fühlte sich wie ein völlig anderes Leben an. Als wäre er in eine Rolle geschlüpft, die er so lange spielen müsse, bis der Regisseur sein Werk als Vollendet erklärte. Und selbst, als er nach über achtundvierzig elenden Stunden Schlaflosigkeit, vor dieser alten Hütte stand, hatte er immer noch nicht die Bedeutung dieses grausamen Spiels verstanden. 

Eine Nacht in der Schultoilette verbringen und am nächsten Morgen die Spiegel mit bloßen Fäusten zerschlagen, deren darauf geschmierten Worte er auswendig lernen sollte, während sich der Schlüssel die ganze Zeit in dem Papierkorb befand. Eines der harmlosesten Dinge, die er in diesen zwei Tagen vollbringen musste.

 

Donnergrollen, prasselnder Regen und funkelnde Blitze – ein Naturschauspiel. Henry atmete noch einmal tief durch, dann öffnete er die knarrende Tür und betrat die Holzhütte. Sie bestand aus einem einzigen finsteren Raum, einem langen Rechteck, welches beengt und geräumig zugleich schien.

Er atmete so flach, dass sich sein Bauch kaum wölbte. Die einzige Bewegung, die er sich traute zu machen, war die erfolglose Suche seiner Augen nach einem Lichtschalter. Erst als ein greller Blitz auf die Erde einschlug und den Raum erleuchtete, erblickte Henry eine kleine Schreibtischlampe. 

Ihn plagte der Gedanke, dass dies nicht nur die letzte Aufgabe sei, sondern auch das Ende seines Lebens. Doch all das schien ihm mit einem Mal so absurd, dass er kurz auflachte. Was hatte er denn noch zu verlieren?

Gedanken an den Tod schienen realistischer, als sich an die Hoffnung zu klammern, dass doch noch alles gut werden würde. 

Angst, Panik und Reue verblassten. Er schaffte es bis zu der kleinen Lampe und spendete seinem Umfeld einen knappen Lichtschein. Nun war alles ersichtlicher. Der Schlafsack am Boden. Der große Tisch, überhäuft mit Bildern, Zeichnungen und Notizen. Die Pinnwand, an der ein Stadtplan hing, verziert mit lauter bunter Striche und Kreise. Mülltüten gefüllt mit Konserven und zerknülltem Papier.

Doch das Interessanteste war die Kamera, die im Regal lag, gleich neben der Kletterausrüstung von der Jugendherberge. Dies war die Kamera, mit der die unbekannte Person die Bilder schoss. Und die Holzhütte war der Ort, an dem sie das ganze Spiel konzipierte – das Spiel der Rache. Nur aus welchem Beweggrund? 

Eine Frage, die weiterhin ungeklärt blieb, doch dies sollte sich schnell ändern.

Glückwunsch Henry! Du hast das Spiel gewonnen. 

Und jetzt? Das macht alles keinen Sinn.

Er setzte sich erst einmal nieder, blickte ein Augenblick in die Leere und verarbeitete die Last, die in diesem Moment langsam von ihm abfiel. 

Unterdessen wütete draußen das Unwetter weiter, als wollte es Henrys volle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. 

Doch sein Augenmerk galt den Bildern, die auf dem Schreibtisch verteilt waren. Insbesondere dem Bild, welches seinen toten Chef zeigte und Szenen vor seinem geistigen Auge hervorrief, von denen er bereits jede Nacht träumte.

Er hätte zur Hilfe eilen müssen, als sein Kollege und sein Chef, das vermeintliche Börsengenie Marlon Blendt, betrunken am Treppenschacht aufeinanderlagen und sich die Köpfe einschlugen. 

Schlagzeile der Regionalzeitung: -Firmenfeier endet mit einem tödlichen Unfall-.

Es war kein Unfall, es war Mord. Einer schlug auf Herrn Blendt ein, ein weiterer Kollege schubste ihn im Anschluss in den sechs Meter tiefen Treppenschacht. Henry schaute zu und filmte alles. Erst als die Blutlache um den Kopf seines Chefs immer mehr an Volumen gewann, beendete er das Video. 

Drei Männer im Alkoholrausch. Wie auf einem Fahrrad, von dem die Kette sprang, rasten sie den Hügel hinab in den Abgrund – ohne Rücksicht auf Verluste, und anstatt einen Krankenwagen zu rufen, flüchteten sie.

Wie es das Schicksal verlangte, blieb die Tat nicht ungesehen. Henry hatte viele Namen in seiner Auswahl, wer der Stalker hätte sein können. Doch mit der Person, die er noch an diesem Sonntagabend traf, hätte er allerdings niemals gerechnet. 

Henry wurde von dieser Szene so verschlungen, sodass er gar nicht bemerkte, dass er eine Nachricht bekommen hatte.

Leider ist mein Drang nach Rache nicht befriedigt… Es tut mir leid, Henry.

Unter der Textnachricht sprang ein Bild auf. Was soll das bitte sein? 

Es war eine unscharfe Aufnahme. Henry benötigte Minuten bis seine müden Augen endlich entzifferten, was auf diesem Bild zu sehen war. 

Ein Bild, geschossen aus dem Wandschrank seiner fünfzehnjährigen Tochter.

Er erkannte die Lamellen der halbaufstehenden Kleiderschranktür, die ein Teil des Bildes verdeckte. Er erkannte seine Tochter, die im Nachthemd dort saß, an ihrem neuen Schminktisch, und sich die Haare bürstete. 

»Du halluzinierst nur… Niemand ist bei deiner Tochter, Henry. Das liegt an dem Schlafmangel… Wahnvorstellungen sind völlig normal«, versuchte er sich zynisch einzureden, während er seine brennenden Augen rieb und erneut hinsah. 

Ihm wurde übel, konnte kaum noch das Gleichgewicht halten. Dann schrie er auf, sodass seine trockene Stimme durch den ganzen Wald schallte, und warf das Smartphone gegen die Wand. Es zerfiel in mehrere Einzelteile. 

»Ich werde dich umbringen«, schrie er ein weiteres Mal und rannte sofort hinaus. Das Gewitter schien derweil aufzulockern und zog langsam weiter in den Westen.

Mit jedem Tropfen weniger der vom Himmel fiel, wurde Henry verzweifelter, bis schließlich ein einsamer Sonnenstrahl des untergehenden Planeten durch die Äste zu Boden fand. Er fiel direkt auf Henrys silbergrauen BMW. Dort! Renn schneller… 

Er tastete seine Hosentaschen nach dem Schlüssel ab, öffnete den Wagen und fuhr mit Vollgas durch die Ortschaft, als würde die Straße ganz allein ihm gehören. 

Bei aller Freiheit der Gedanken hatte er die Verantwortung dafür, was er denkt, so wie er die Verantwortung für sein Handeln hatte. Doch wenn jemand anderes Einfluss auf dein Handeln nimmt, dann beeinflusst er auch deine Gedankenwelt. Je mehr er versuchte, diese Gedanken zu unterdrücken, umso intensiver kamen sie zurück und umso stärker wurden sie. Ein Gedankenkarussell bei 120 km/h innerorts, welches Henry keinen Halt mehr gebieten konnte.  

In einer leichten Linkskurve überquerte er die Mittellinie und kam auf die Gegenfahrbahn, wo er den entgegenkommenden Lastwagen streifte. 

Nach der Kollision konnte er das Sportcoupé wieder zurück auf seine Fahrspur lenken, schlug allerdings gegen die Leitplanke. Energydrink spritzte auf seinen Schoß, die Reifen quietschten, dann hatte er das Fahrzeug wieder unter Kontrolle. Nach ganzen zwanzig Minuten bog er in eine Seitenstraße ein, die in ein modernes Wohngebiet führte – dort lebte Henry mit seiner Familie. 

Er parkte absichtlich eine Straße weiter und schlich ungesehen zu seinem Grundstück. Dann kletterte er über den schmalen Gartenzaun und betrat durch die Hintertür seine Garage. Das Adrenalin, das durch seinen Körper floss, ließ ihn den Raum nach einer Waffe absuchen, einem Beil oder einem Hammer, um im Notfall auf die Person einschlagen zu können oder sich wenigstens zu wehren. Doch Henry fand in der Dunkelheit nur die Nagelpistole, die er mal für den Ausbau des Dachbodens von einem Freund ausgeliehen hatte. 

Es herrschte Stille im Haus, als hätte jemand die Zeit angehalten. Man hörte nur das Klirren der Nägel im Magazin des Druckluftgerätes, das Henry abschussbereit in seinen zitternden Händen hielt. 

Plötzlich vernahm er undefinierbare Stimmen, die aus dem Wohnzimmer kamen. Eine geballte Energie strömte durch seine Adern, eine Anwandlung von Furcht und Wut zugleich. Er würde für seine Familie sterben, wenn es sein musste. 

Henry betrat den Wohnbereich und schlich geduckt hinter die Kücheninsel in Deckung. Vorsichtig wagte er einen Blick über die Arbeitsplatte und erschrak. 

Er sah seine Frau nackt mit Kabelbinder an einem Stuhl gefesselt.  Tränen und Blut strömten über ihre Wangen. Ihre Haare waren nass und ihr Körper glänzte. Wahrscheinlich stand sie gerade unter der Dusche, als man sie an ihrem platinblonden Haar packte, die Treppe runterwarf und zwang am Esstisch Platz zu nehmen.  Doch wo war Henrys Tochter Emilia? 

Langsam näherte er sich seiner Frau und nahm den Knebel aus ihrem Mund.

»Wo ist unser Kind?«, flüsterte Henry.

»Ich weiß es nicht…«, erwiderte sie und brach weiter in Tränen aus.  

»Ich werde euch retten, versprochen!« 

Schlagartig entgleisten ihre Augen panisch in Richtung des Flures. Henry wandte sich um und wirkte wie eingefroren. Wie ein Reh, dass vor lauter Schreck direkt in den Lauf eines Gewehrs sieht, kurz bevor der Schuss fällt und stirbt. 

Er starrte in das grinsende Gesicht eines Mannes. Er war weder einer seiner Arbeitskollegen, noch ein rachsüchtiges Familienmitglied von Marlon Blendt. 

Es war kein anderer als sein damaliger bester Freund Mick, der in diesem Moment ein Küchenmesser an die Kehle seiner weinenden Tochter hielt und ihr mit der anderen Hand über die Schulter streichelte. Henry war den Tränen nahe.

»Das kann nicht wahr sein… Warum ausgerechnet du?«

»Warum? Ich sag dir warum! Weil du mein ganzes Leben zerstört hast. Ich wurde gemobbt, bin von der Schule geflogen, weil ich mich nicht mehr traute hinzugehen, und das alles nur, weil du meintest deinen neuen Freunden peinliche Bilder von mir zu schicken, du…« 

»Was hat meine Familie damit zu tun?«, schrie Henry ihn verzweifelt an. 

»Du hast mir alles genommen und nun werde ich dir all das nehmen, was ich nie haben durfte! Vierundzwanzig Jahre habe ich auf diesen Moment gewartet. Man steckte mich in eine psychiatrische Klinik. Man meinte, ich wäre verrückt! Und siehe da, vier Monate genügten, um etwas als Druckmittel zu finden, damit du in den letzten zweieinhalb Tagen ansatzweise das durchstehen musstest, was ich jahrelang am eigenen Leibe zu spüren bekam. Wer ist jetzt verrückt? Filmst den Mord deines Chefs. Kranker Mistkerl.«

Henry fand keine Antwort und schaute in das traurige Gesicht seiner Tochter.

Dennoch ist meine Familie unschuldig und wenn du das nicht verstehen willst…

»Wo warst du mit meiner Tochter?« 

»Ich habe ihr nur meine Bildersammlung von dir gezeigt«, sprach er lachend.

»Lass sie gehen, Mick. Letzte Chance!«

Doch sein Lachen wurde stetig lauter und sein Griff an der Klinge immer fester. Micks Blick folgte der Bewegung von Henrys Arm, als er die Nagelpistole erhob, die sein verrückter Freund aus der Kindheit erst jetzt bemerkte, da Henry sie die ganze Zeit hinter dem Rücken seiner gefesselten Frau hielt. 

Sein Lachen entwich mit einem erstickten Stöhnen. Eine wässrige rote Flüssigkeit – mit Blut vereinter Speichel – floss aus seinem Mund und tropfte zu Boden. Mick griff sich an den Hals, versuchte zu schreien, doch er konnte nicht. Der Nagel durchbohrte seinen Kehlkopf. Er sackte gegen das Treppengeländer und glitt an der Wand nach unten, während sich das Blut in seinen Handflächen sammelte. Emilia stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus und rannte fort. 

 

Noch bevor die Polizei und der Krankenwagen eintrafen, entdeckte Henry ein blutverschmiertes Schreiben der Psychiatrie, das in der Brusttasche von Micks kariertem Hemd steckte. 

-Jeder kennt es: Man blickt in den wolkenbedeckten grauen Himmel. Ein erster einsamer Regentropfen trifft dich – ein erstes Geschehen, dass dein Leben ändern könnte. Du hoffst, dass kein Schauer folgt. Doch wenn der erste Tropfen entlang deiner Stirn wandert, ist es bereits zu spät – die Regentropfen werden sich zusammenschließen und dich bekämpfen. Stell dich nicht in ein Loch, denn du wirst ertrinken! Such dir ein starkes Dach, unter dem du Schutz findest und lausche dem Prasseln. Ist das Unwetter fortgezogen, dann wirst du es sehen – die Sonne scheint heller als je zuvor. Dies ist der Regentropfen-Effekt- 

6 thoughts on “Der Regentropfen-Effekt

  1. Hey, danke für diese tolle Geschichte! 👏 Es hat mir sehr viel Freude bereitet Deine Geschichte zu lesen. Sie ist fesselnd und nicht vorhersehbar. Das Ende finde ich sehr schön und tiefgründig formuliert mit dem “Regentropfen-Effekt”. Dein Schreibstil gefällt mir wirklich gut! ♥️🌷 Mein Herz hast Du! ♥️

    Vielleicht möchtest Du ja auch meine Geschichte “Stumme Wunden” lesen, dass würde mich riesig freuen! 🖤🌻

    Liebe Grüße Sarah! 👋🌷
    (Instagram: liondoll)

    Link zu meiner Geschichte: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stumme-wunden?fbclid=IwAR1jjPqPu0JDYk0CBrpqjJYN78PYopCEU1VGdqzCvgp7O4jnGKQSFdS6m6w

  2. Moin Phil,

    ich bin fasziniert! Was für ein Schreibtalent.

    Du hast die Gabe aus Worten, Bilder zu malen. Das war grandios. Normale Metaphern wechselten sich ab mit fast poetischen Sätzen.

    Wie du deine Leser von Anfang an in deine Geschichte eintauchen lässt und sie dann, vor Spannung kaum Luft holen können, ist einfach nur GUT!

    Am Ende habe ich allerdings das Gefühl gehabt das dir selbst ein wenig die Luft ausging. Zeitdruck? Einfach einen lang verschollenen Freund aus der Vergangenheit zum Täter zu machen, wirkte auf mich , irgendwie zu „ einfach „.

    Deine Geschichte bleibt aber dennoch in Erinnerung dafür sorgt allein schon dein Kopfkino, welches du beim Leser startest.

    Titel und die dazugehörige Erklärung am Ende der Storie sind richtig, richtig gut! 👍🏻

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte : Der Ponyjäger)

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