Saskia K.Der Rollentausch

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Er steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch und drehte ihn im Schloss. Ein leises Klicken ertönte und die Wohnungstür schwang geräuschlos auf. Eine undurchdringliche Dunkelheit empfing ihn und für einen Moment hielt er unbewusst den Atem an. Auch wenn er schon seit einigen Monaten seinem geheimen Hobby nachging und eine gewisse Routine entwickelt hatte, konnte er seine Nervosität nicht abschütteln. Er wischte sich seine schweißnassen Hände an seiner Bluejeans ab und warf einen unruhigen Blick über seine Schulter, nur um festzustellen, dass das heruntergekommene Treppenhaus menschenleer war. Vorsichtig schob er die Tür mit dem Handrücken weiter auf und setzte einen ersten Schritt in die Wohnung. Das Überschreiten der Schwelle in eine neue fremde Welt war zwar nur ein kleiner Moment, der aber eine große Wirkung hatte, da er seine eigentliche Identität hinter sich ließ, um eine andere anzunehmen. Er war nun nicht mehr Sascha Kurz, Schlüsseldienstmitarbeiter, der von anderen oftmals den Stempel durchschnittlich und langweilig aufgedrückt bekam. Er war nun – er warf einen kurzen Blick auf das Klingelschild – Melissa Bertricht und lebte in einem baufälligen Mehrfamilienhaus mit brauner, schmutziger Fußmatte vor der Tür. Wie oft, überlegte er, hatte sich Melissa hier schon ihre weißen Sneaker abgeputzt, die ihm heute aufgefallen waren, als sie sein Geschäft betreten und ihren Zweitschlüssel für die Wohnung abgeholt hatte. Schon beim ersten Kontakt war er fasziniert von ihr gewesen. Nicht so sehr von ihrem Aussehen, sondern vielmehr von ihrer Ausstrahlung: Selbstbewusst, energisch und direkt hatte sie den Laden betreten und ihn zu ihrer Bühne gemacht. Trotz ihrer Augenringe, den zerschlissenen Klamotten und ihren fettigen blonden Haaren versteckte sie sich nicht, sondern hob sich bewusst durch wilde, willkürliche und bunte Tattoos von dem Einheitsbrei ab. Er bewunderte sie. Er wollte so sein wie sie. Und jetzt bekam er die Gelegenheit dazu.  Entschlossen setzte er auch den anderen Fuß in die Wohnung und schloss hinter sich die Tür. Bis auf einen schmalen Streifen Licht, der durch den schmalen Türspalt fiel, umgab ihn völlige Dunkelheit. Ihm schlug ein abgestandener Geruch entgegen – so als hätte Melissa schon lange nicht mehr gelüftet. Für einen Moment blieb er unbeweglich stehen und konzentrierte sich auf den ersten Eindruck, den ihm seine Sinne vermittelten. Links von ihm brummte ein altmodischer Kühlschrank, der das laute Ticken der Uhr im Flur fast übertönte. Über ihm rauschte das Wasser durch die Rohre- anscheinend duschte der Nachbar gerade ausgiebig. Aus der Ferne hörte er das rege Treiben der Hauptstraße: Ein lautes Hupen, quietschende Reifen und das laute Brummen von Bussen. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und er nahm schemenhaft die Umrisse der Einrichtung wahr. Direkt vor ihm schien eine Garderobe zu sein, während er rechts davon einen Schuhschrank zu erkennen glaubte. Er stellte sich vor, wie Melissa nach einem langen Arbeitstag zurück in ihre Wohnung kam, das Licht anschaltete und ihre braune Lederjacke an den Haken hing. Um ihre Identität übernehmen zu können, musste er genauso handeln wie sie. Also drückte er den Lichtschalter, blinzelte heftig, um sich an die plötzliche Helligkeit zu gewöhnen und zog währenddessen seine Jacke aus, um sie an den rostigen Haken zu hängen, an dem ansonsten keine weiteren Kleidungsstücke hingen. Als nächstes zog er seine braunen Turnschuhe aus und schob sie in den weißen Schuhschrank. „Ich komme von der Arbeit. Zieh meine Klamotten aus. Was mach ich nun als nächstes?“ murmelte er vor sich hin und fixierte unentschlossen die vier Türen, die vom Flur abzweigten. Vor seinem inneren Auge sah er, wie sie auf schwarzen Socken in die Küche lief und den Kühlschrank nach etwas Essbarem absuchte. Das helle Laminat knirschte leise, als er ihrem Weg folgte und feststellte, dass der Kühlschrank bis auf eine einsame Flasche Sekt leer war. Als er den Kühlschrank schloss, fiel leise klirrend der Magnet und die Fotos, die von diesem zusammengehalten wurden, auf den Boden. „Scheiße“ entfuhr es ihm. Natürlich wollte er hier nichts verändern, sondern alles so lassen, wie es war. Nur so gelang es ihm, alles über Melissa und ihr Leben zu erfahren. Noch so kleinste Details konnten ihm eine Menge verraten. Das schiefe Bild an der Wand mit einem typischen Ikea Motiv und die achtlos auf den Küchentisch geworfenen Geschirrtücher verrieten ihm zum Beispiel, dass Ordnung und Sorgfältigkeit nicht die wichtigsten Dinge in ihrem Leben waren. Aus seiner eigentlichen Routine geworfen sammelte er die Fotos zusammen, die bis unter den Tisch gerutscht waren und stieß sich beim Aufrichten den Kopf an der Kante. Ächzend rieb er sich die schmerzende Stelle und warf einen Blick auf die Bilder in seiner Hand. Die meisten zeigten Melissa mit einer anderen Frau. Aufgrund der Ähnlichkeit vermutete er, dass sie ihre Schwester war. Allerdings trug sie einen schwarzen Bob und hatte keinerlei Tattoos. „Melissa übertrifft sie mit ihrer Ausstrahlung um Weiten“ murmelte er bewundernd, während er die Bilder wieder mit dem Magnet sorgfältig an den weißen Kühlschrank heftete und sich dann auf einem der klapprigen Stühle niederließ. „So, Melissa! Nachdem du dir dein Essen gekocht oder bestellt hast, hast du dich bestimmt an diesen Tisch gesetzt, mit Handy in der Hand, und gegessen.“ Er strich über die unebene, klebrige Platte, kippelte auf dem unbequemen Holzstuhl hin und her und stellte sich vor, wie sie achtlos das Essen in sich hineinschaufelte, während sie die neuesten Nachrichten auf Instagram las. Er holte sein Handy heraus und ahmte ihre Bewegung nach, um ihre Gefühle und Gedanken besser nachvollziehen zu können. Plötzlich klingelte ein Handy. Erschrocken riss er sich aus seiner Vorstellung los und starrte auf seins. Doch das Display blieb dunkel. Sein Gehirn fing an zu arbeiten. Wenn es nicht klingelte, dann musste es ein anderes sein- wenn es ein anderes war – war dann jemand in der Wohnung? Er beendete den Gedankengang, sprang auf und war mit einem Satz an der Haustür. Er drückte die Türklinke hinunter – doch sie öffnete nicht. Panisch zerrte er an dem Griff, während im Hintergrund das Handy unbeirrt weiterklingelte. Wie konnte das sein? Hatte er unbewusst die Tür abgeschlossen? Er erinnerte sich nicht daran, egal wie krampfhaft er es versuchte. Er durchsuchte seine Hosentasche nach dem Zweitschlüssel, den er inoffiziell für sich angefertigt hatte, um ohne Spuren in die Wohnung zu kommen, doch er fand ihn nicht. Hektisch ließ er seinen Blick über den mit Kratzern übersäten Laminat schweifen in der Hoffnung ihn dort zu finden – doch vergebens. Das Handy verstummte, nur um nach wenigen Sekunden erneut zu klingeln. Das brachte ihn zur Besinnung. Wenn jemand außer ihm in der Wohnung wäre, hätte er bestimmt in den Lautlosmodus geschaltet, um seinen Standort nicht zu verraten. Und wenn Melissa doch nicht in den Kurzurlaub gefahren wäre, wie sie ihm im Geschäft freudestrahlend erzählt hatte, wäre sie schon längst von dem penetranten Klingeln wachgeworden. Doch an seine eigentliche Routine konnte er nun nicht mehr denken – dafür hatte ihn das unerwartete Geräusch zu sehr aus dem Konzept gebracht. Stattdessen griff er sich die nächstbeste Vase, die auf der Kommode stand, um sich notfalls verteidigen zu können und folgte dem Klingeln ins Schlafzimmer. Er knipste das Licht an, überzeugte sich kurz, dass das Bett auch wirklich leer war und fixierte dann misstrauisch den lauten Störenfried, der auf dem altmodischen Nachttisch lag. Langsam bewegte er sich darauf zu wie ein Löwe auf Beutejagd, die Vase fest in der Hand haltend. Als er in der Reichweite des modernen Smartphones angekommen war, verstummte es. Er konnte gerade noch die Nachricht zwei Anrufe in Abwesenheit lesen, bevor sich der Anrufer erneut meldete. Er griff nach dem Handy und zögerte dann. Gehörte das Handy Melissa? Warum lag es dann hier, wenn sie doch im Kurzurlaub war? Und wer betrieb so einen penetranten Telefonterror? Andererseits – wenn das Handy nicht Melissa gehörte, wem gehörte es dann? Ihrem Freund? Einem Einbrecher? Dem Nachbarn? Und warum lag es dann ausgerechnet in dieser Wohnung? Ihm schossen tausend Fragen durch den Kopf, ohne auch nur eine logisch beantworten zu können.  „Scheiß drauf“, dachte er sich und wischte mit dem Finger nach rechts, um den Anruf anzunehmen. Er hielt sich das Telefon ans Ohr und lauschte. Stille. Nur lautes Atmen. Nach wenigen Sekunden hielt er es nicht mehr aus. Er räusperte sich und sagte, wie er hoffte, mit fester Stimme: „Hallo?“ „Erinnere dich“ zischte ihm eine elektronisch verzerrte Stimme entgegen. „Bitte?“ „Erinnere dich. Vor drei Monaten.“ Es tutete laut. Der Anrufer hatte aufgelegt. Verwirrt starrte er auf das Display, so als hoffte er, eine Auflösung geschickt zu bekommen. Sowas wie „Willkommen bei der versteckten Kamera, mein Name ist Guido Cantz.“ Das wäre noch die angenehmste Situation gewesen, die er sich vorstellen konnte. Sie ereignete sich allerdings nicht wie gewünscht. Stattdessen ploppte eine Nachricht auf. Instinktiv drückte er auf die Anzeige und erschrak: Sein eigenes Gesicht starrte ihn an. Eine Nahaufnahme von seinem Gesicht, als er gerade am Schlafen war. Er scrollte herunter und entdeckte weitere Bilder von sich. Beim Einkaufen. In seinem Geschäft bei der Arbeit oder auf dem Balkon seiner Wohnung, rauchend. Schweiß lief ihm den Rücken hinunter. Die Vase rutschte ihm aus den klammen Fingern ohne allerdings auf dem grauen Teppichboden zu zerschellen. Er fing an zu zittern und ließ sich kraftlos auf das gemachte Bett sinken. Irgendein kranker Mensch hatte heimlich Bilder von ihm gemacht. Nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern sogar IN seiner Wohnung. Als er geschlafen hatte. Und, was noch viel schlimmer war, ohne dass er es bemerkt hatte. Wie oft und wie lange war diese Person schon hinter ihm her? Wusste sie von seinem Geheimnis? Hatte sie ihn beobachtet, wie er in den letzten Monaten mehrfach in fremde Häuser eingedrungen war, um für eine Nacht eine andere Identität annehmen zu können? Warum hatte sie ihn nicht daran gehindert? War sie – und bei diesem Gedanken sprang er unwillkürlich auf, eventuell sogar jetzt in seiner Nähe? Immerhin hatte er das Smartphone mit seinen Bildern in dieser fremden Wohnung gefunden. Bevor er diesen Gedanken weiter verfolgen konnte, ertönte der Nachrichtenton erneut und ein weiteres Bild zeigte sich auf dem Display. Er stutzte. Ein modernes Einfamilienhaus mit gepflegten Garten zeigte sich mit der Nachricht, die der Anrufer bereits am Telefon geäußert hatte: Erinnere dich! Er überlegte angestrengt. Spielte der Anrufer etwa auf seine erste Erkundung an? Er hatte damals das Haus nur im Dunkeln gesehen, aber vom Aufbau und von der Lage her wies das Foto schon eine gewisse Ähnlichkeit auf. Sein Blick fiel auf das heutige Datum. Der Zeitraum von drei Monaten schien ebenfalls zu passen, wenn er es grob im Kopf überschlug. Doch was hatte Melissa oder irgendein kranker Stalker damit zu tun? Hatte er irgendetwas Schlimmes getan, was dieser Person einen Grund gab, während er schlief in seine Wohnung einzudringen und Fotos zu machen, um sie ihm anschließend zu schicken? Nachdenklich ließ er sich wieder auf das Bett sinken und starrte auf das zuletzt geschickte Bild ohne es wirklich wahrzunehmen. Seine Gedanken wanderten zu dem Tag, an dem sich sein Leben nachhaltig verändert hatte. An dem sein Leben aufregend und spannend wurde. An dem er endlich einen Sinn und ein Ziel für sich entdeckt hatte, für das es sich lohnte zu kämpfen. Erneut kam das aufregende Kribbeln in ihm hoch, welches er gespürt hatte, als er das Haus betrat. Ein Kribbeln, das sich vom Bauch aus auf seinen ganzen Körper übertrug und seine spärlichen braunen Haare zu Berge stehen ließ. Achtlos schmiss er das fremde Handy aufs Bett, ließ sich rücklings auf die Tagesdecke fallen und schloss die Augen. Er…

…lief mit seinem Werkzeugkasten durch eine gehobenere Wohnsiedlung mit gepflegten Vorgarten. Es war eine laue Sommernacht mit sternklarem Himmel und einem Vollmond, der auch ohne die Laternen auf dem Gehweg ausreichend Licht spendete, um in der Dunkelheit meterweit sehen zu können. Bis auf das laute Schreien eines Käuzchens war es totenstill. Doch all das bemerkte er gar nicht. Er war mit seinem Gedanken bei seinem letzten Kunden, einem betrunkenen Snob, der sich versehentlich ausgesperrt hatte, als er aus seinem Keller eine weitere Weinflasche holen wollte. Wie alle anderen Kunden hatte er ihn mit einem „ Na, das wurde auch Zeit“ begrüßt, bevor er nach getaner Arbeit mit einem „Endlich“ verabschiedet wurde. Manchmal schallte ihm auch „Für so wenig Arbeit so viel Geld?“ entgegen, was deutlich die unfreundlichere Variante war. „Also kann ich mich doch heute glücklich schätzen“, dachte er verbittert und bog nach links in eine Seitenstraße ein. Es war zwar sein letzter Kunde für heute, aber er hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Zuhause wartete nur ein verlassenes Bett, ein leerer Kühlschrank und ein kaputter Fernseher auf ihn, bevor es morgen wieder zur Arbeit ging. Schlafen, Arbeiten, Essen – so sah seit mehreren Jahren (er hatte aufgehört zu zählen) sein Leben aus. Keine Überraschungen. Keine zufällige Begegnung seiner Traumfrau auf der Straße. Kein plötzlicher Lottogewinn. Keine Träume. Kein Ziel im Leben. Er hatte sich damit abgefunden, dass sein Leben langweilig war. Und trotzdem war er seit Kurzem seltsam rastlos und unruhig. Es sorgte dafür, dass er nicht mehr richtig schlafen konnte, auf der Arbeit unkonzentriert war und öfters bei dummen Bemerkungen aus der Haut fuhr. Auch heute hatte er sich stark beherrschen müssen, dem Saufbold nicht einfach seine blöde Flasche Riesling über den Schädel zu ziehen. Der Grund dafür war einfach: Seine Verdrängungsstrategie funktionierte nicht mehr. Er konnte sich nicht mehr davon überzeugen, dass Arbeiten, Essen und Schlafen seinen kompletten Lebensinhalt ausmachten. Er wollte mehr. Er wollte jemand anders sein. Seine Identität als langweiliger Schlüsselmann ablegen und jemand sein, der von Frauen auf der Straße wahrgenommen wurde, der im Gedächtnis blieb aufgrund seiner spannenden Geschichten und Erlebnisse. Das Problem war, er stellte den schweren Werkzeugkasten auf den Asphalt und rieb sich den von der Last schmerzenden Arm, dass sich keine Möglichkeit ergab. Er redete endlos mit sich selbst darüber, malte sich eine strahlende Zukunft in Gedanken aus und ging dann wieder übermüdet zur Arbeit, um seiner alltäglichen Routine nachzugehen. „Ich werde auch noch in zehn Jahren frustriert durch die Dunkelheit laufen und mich darüber beklagen, wie gemein mein Leben ist.“ Er seufzte resigniert und blickte sich um, um sich zu orientieren. Tief in Gedanken versunken hatte er nicht mitbekommen, wo er hingelaufen war. Er stand am Ende eine Sackgasse. Links von ihm befand sich ein einsames Einfamilienhaus, das von dem hellen Mond wie von einem Scheinleuchter im Theater angeleuchtet wurde. Das nächste Haus stand mehrere hundert Meter entfernt. Hier wohnten bestimmt Menschen, die einen großen Freundeskreis hatten, mit dem sie sich monatlich zum Grillen auf der Terrasse trafen und genug Geld verdienten, um mehrere Male im Jahr spannende Reisen zu unternehmen. Er wünschte sich, er könnte in diesem Haus wohnen und das Leben der anderen führen. Aber das war natürlich unmöglich umzusetzen. Er bückte sich, um seinen Werkzeugkasten aufzuheben. Auf halben Weg formte sich eine unfertige Idee in seinem Kopf. Er starrte auf das schwarze, metallische Gehäuse, hob dann den Kopf und warf dann einen erneuten Blick auf das Haus. Ihm war bereits beim ersten Mal eine Kleinigkeit aufgefallen, die da aber noch nicht so sehr von Bedeutung für ihn gewesen war. Er vergewisserte sich, dass er es richtig gesehen hatte, zögerte noch einen kurzen Moment und griff dann entschlossen nach dem Henkel. „Genug geredet und gedacht“, murmelte er, als er den gepflegten Gehweg zum Haus betrat und zur Haustür lief. „Heute wird gehandelt.“ Er warf einen prüfenden Blick nach oben, um sich zu vergewissern, dass die Eigentümer keine Kameras am Eingang installiert hatten und griff dann nach dem passenden Werkzeug, um die Tür möglichst unbeschädigt zu öffnen. Dabei rutschte er fast auf dem großen Stapel an verschiedenen Zeitungen und Prospekten aus, die vor der Haustür lagen und nicht mehr in den überquellenden Briefkasten gepasst hatten. Nervös beugte er sich zum Schlüsselloch und stocherte in dem Schloss herum. Mehrmals musste er abbrechen, da ihm die Nervosität Schweiß auf die Stirn trieb, der in seine Augen lief und für eine verschwommene Sicht sorgte.  „Verdammter Mist“, murmelte er, als er erneut abrutschte und laut über das Metall kratzte. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Straße immer noch menschenleer war, zog er hektisch ein benutztes Papiertaschentuch aus seiner Hosentasche, wischte sich damit über die Stirn und setzte dann seine Tätigkeit fort. Nach dem vierten Versuch hatte er es endlich geschafft. Erleichtert atmete er auf, als das leise Klicken der Tür ertönte. Er steckte sich das Werkzeug und das Taschentuch in die Hose, stieg über den Werkzeugkasten und öffnete die Haustür langsam. Wenn das Haus durch eine Alarmanlage gesichert worden wäre, hätte die Geschichte einen anderen Lauf genommen. Das war allerdings nicht der Fall. So konnte er ohne weitere Zwischenfälle ins Innere des Hauses gelangen. Während er in der Gegenwart im gemachten Bett von Melissa lag und über die vergangenen Ereignisse nachdachte, fiel ihm sofort ein, wie unwohl er sich in diesem Augenblick gefühlt hatte. Unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu treffen, steigerte sich seine Panik mit jeder Sekunde, die er sich in dem fremden Haus aufhielt. Sorgen, Ängste und Zweifel kämpften in seinem Inneren darum, Beachtung zu finden, in seinen Ohren pochte das Blut und er bekam Herzrasen und Atemnot. Für mehrere Minuten konnte er sich nicht bewegen. Wie erstarrt blieb er stehen, während er unsicher überlegte, ob er das Haus direkt wieder verlassen oder bleiben sollte. Beides hatte seinen Reiz. Letztendlich siegte die Mischung aus Nervenkitzel, Neugierde und einer gewissen Abenteuerlust und er zwang sich, mit einer Erinnerung an sein langweiliges Leben, weiter zu gehen. Da er sich nicht traute, das Licht anzumachen, tastete er sich suchend vorwärts. Seine Hände glitten über die raue Tapete, streiften einen Türrahmen und griffen dann ins Leere. Hier schien sich ein Raum vom Flur abzuzweigen. Beherzt trat er einige Schritte vorwärts und stieß sich dabei heftig am Türrahmen. Ein lauter Schmerzensschrei kam aus seinem Mund, bevor er es unterdrücken konnte. Er schlug sich die Hand vor den Mund. „Reiß dich zusammen“, schalt er sich innerlich, während er auf unerwartete Geräusche lauschte, die darauf schließen ließen, dass er doch nicht alleine im Haus war. Doch alles blieb still. Also setzte er seinen blinden Rundgang weiter fort und bewegte sich nun vorsichtiger in den Raum hinein. Nur wenige Sekunden später ereignete sich jedoch nächste Unglück. Er stieß mit seinen Oberschenkeln gegen einen Tisch, schob ihn dadurch einige Meter laut über den Boden und wischte durch die plötzliche Bewegung ein Glas von der Platte, das lautstark zerbrach. „Scheiße“, entfuhr es ihm und er verharrte stocksteif, unschlüssig, was er nun tun sollte. Plötzlich schien er überall Geräusche zu vernehmen – Schritte, ein lautes Knarren auf der Treppe, eine sich öffnende Tür und ein lautes Platschen, das vom Garten zu kommen schien. Die mühsam unterdrückte Panik kam mit aller Gewalt zurück und er entschloss sich so schnell wie möglich das Haus zu verlassen, was er auch sofort in die Tat umsetzte. Erst als er später wieder zuhause im Bett lag kam ihm in den Sinn, was für ein spannendes Abenteuer er erlebt hatte. In seinem Inneren breitete sich eine tiefe Zufriedenheit aus, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte und die ein Feuer in ihm entfachte. Immer wieder rief er sich den genauen Ablauf seiner ersten Entdeckungstour ins Bewusstsein, bis er schließlich in einen erschöpften Schlaf fiel. In dieser Nacht schlief er zum ersten Mal seit Monaten durch und…

…das hatte sich bis heute nicht geändert. Er richtete sich auf, strich sich über seine zerzausten Haare und stellte erstaunt fest, dass er beinahe eingeschlafen wäre. Nun hatte er sich zwar das ganze Geschehen ins Gedächtnis gerufen, doch eine wirkliche Antwort hatte er nicht erhalten. Woran sollte er sich erinnern? An das zerstörte Glas? War es ein wertvolles Erbstück gewesen? Wollte sich deswegen jemand an ihm rächen? Selbst in seinen Ohren klang diese Erklärung lächerlich. Er war sich keiner Schuld bewusst, bis natürlich auf die Tatsache, dass er in ein Haus eingebrochen war. Er zuckte die Achseln. Wenn der mysteriöse Anrufer etwas von ihm wollte, sollte er das nächste Mal einfach deutlicher werden, anstatt kryptische Botschaften zu verschicken. Er würde auf jeden Fall die Schlösser an seiner Haustür austauschen und bei seiner nächsten Erkundungstour noch vorsichtiger bei den Vorbereitungen sein. Aber hier hatte er nichts mehr zu suchen. Er erhob sich vom Bett, strich die Tagesdecke wieder glatt und schnappte sich das Handy, um es auf seine ursprüngliche Position am Nachttisch zurückzulegen. Doch kaum hatte er dies getan, ploppte eine weitere Nachricht auf. Widerwillig drückte er auf das grüne Icon, um diese aufzurufen. Als er einen Blick darauf warf, wünschte er sich, er hätte es nicht getan: „Ich sehe dich“ lautete die Nachricht unter dem Bild, das ihn zeigte, wie er mit geschlossenen Augen in dem Bett von Melissa lag. Er wirbelte herum und fixierte den dunklen Flur, in der Erwartung dort jemanden mit einem Handy in der Hand stehen zu sehen. Aber er sah nur gähnende Dunkelheit. „Moment… Dunkelheit? Hatte ich nicht das Licht angemacht?“ fragte er sich beklommen. Instinktiv trat er einige Schritte zurück und trat dabei gegen die Vase, die lautlos unters Bett rollte. „Hallo?“, rief er unsicher und lauschte auf eine Reaktion. „Hey du Arschloch. Wenn du was willst, dann zeig dich doch!“ Nichts passierte. Vorsichtig schlich er sich bis zur Tür und tastete mit einer Hand nach dem Lichtschalter, stets mit der Erwartung, dass ihn gleich eine kalte, feste Hand ins Dunkel ziehen würde. Nichts dergleichen passierte. Stattdessen fand seine schwitzige Hand den Schalter und der Flur wurde in helles Licht gehüllt. Hektisch fixierte er die beiden Enden des Flurs und hob instinktiv die Hände, um sich notfalls gegen einen Angreifer verteidigen zu können. Doch niemand war zu sehen – oder zu hören. Er schien völlig alleine zu sein. Ängstlich starrte er die dunklen Flecken an, die ins Wohnzimmer und Badezimmer führten und versuchte zu erkennen, ob sich dort eine Gestalt aufhielt. Je länger er dorthin starrte, umso mehr schien die Dunkelheit zu leben und sich auszubreiten. Wahrscheinlich hätte er noch stundenlang an der Schwelle zwischen Flur und Schlafzimmer gestanden, die Hände zu Fäusten geballt, mit starrem Blick und zittrigen Knien, ohne auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können, wenn nicht direkt hinter ihm ein lauter Knall ertönt wäre. Panisch sprang er vorwärts, knallte mit dem Kopf gegen die gegenüberliegende Wand und hetzte, ohne den Schmerz an seiner Stirn zu spüren, zur Wohnungstür. In seiner Angst hatte er vergessen, dass sie verschlossen war. Hektisch riss und zerrte er an der Türklinke, während er immer wieder einen Blick nach hinten warf. „Komm schon, du scheiß Tür!“ Aus seinem Mund flog Spucke gegen die Holztür und seine Augen traten in seiner panischen Angst hervor. Plötzlich ging das Licht in der gesamten Wohnung aus und er wurde in völlige Dunkelheit gehüllt. „Bitte nicht“, flehte er weinerlich, unterbrach seine sinnlose Tätigkeit und sank zitternd auf den Boden, die Knie angewinkelt. „Was willst du von mir?“ schluchzte er mit starkem Herzrasen und zunehmender Atemnot, während er krampfhaft versuchte, etwas zu erkennen oder zu hören. Aus dem Schlafzimmer glaubte er leises Atmen zu hören und Schritte, die auf ihn zuliefen. „Nein, nein nein….“ keuchte er hilflos und kramte in seiner Hosentasche nach seinem Handy, um die Polizei anzurufen. „Lass mich in Ruhe! Bitte! Sag mir einfach, was du willst und wir können über alles reden!“ Inzwischen war ihm eingefallen, dass er das Handy auf dem Küchentisch zurückgelassen hatte, als er sich auf die Suche nach dem Urheber des Klingelns gemacht hatte. Da ihn seine zittrigen Beine nicht trugen, krabbelte er möglichst schnell und leise in die Küche, zog sich an dem Tisch hoch und tastete auf der breiten Fläche nach seinem Smartphone, während er nebenbei auf die Schritte lauschte, die sich jetzt bedrohlich schnell näherten. Er ertastete die Geschirrtücher und die Dellen im Möbelstück, aber sein Smartphone fand er nicht. Als er eine dunkle Gestalt an der Tür zur Küche zu erkennen glaubte, verwarf er seinen Plan blitzschnell, griff stattdessen nach einem Stuhl und warf ihn blindlings in seine Richtung. Ein lautes Stöhnen verriet ihm, dass er getroffen hatte. Wankend tastete er sich zur Tür, mit der vagen Absicht, sich auf ihn zu stürzen, doch der Unbekannte war bereits wieder auf den Beinen und boxte ihm im Laufen so fest in den Magen, dass ihm der Atem für einen kurzen Moment wegblieb und er mit voller Wucht auf den Boden knallte. Doch Zeit für Schmerz blieb nicht. Der Angreifer war immer noch in seiner Nähe und konnte jeden Augenblick erneut zuschlagen. Also rutschte er so schnell er konnte rückwärts und trat, um ihn auf Distanz zu halten, ziellos in die Luft. Mit Erfolg: Er spürte, wie er ihn am Bein traf und ihn damit zu Fall brachte. Ein lautes Krachen ertönte und die Kante des Schuhschrank traf seinen linken Knöchel. Anscheinend hatte sich sein Gegenüber versucht an etwas festzuhalten und dabei den Schrank aus seiner Verankerung gerissen. Ohne seinen anschwellenden Knöchel zu beachten rutschte er unbeirrt rückwärts und suchte dabei mit den Händen nach einem Gegenstand, mit dem er sich verteidigen konnte. Er griff ins Leere und schlussfolgerte rasch, dass sich hier ein weiterer Raum befinden musste, in dem er nun hineinrutschte und rasch die Tür hinter sich zuschlug. Erst nachdem er zitternd den Schlüssel im Schloss umgedreht hatte und bis an die kalte Wand zurückgewichen war, erlaubte er sich seine Pause, was jedoch ein Fehler war, da der Schmerz nun mit aller Wucht in sein Bewusstsein kam und ein Feuerwerk an Empfindungen entfachte. Der Knöchel war heiß geschwollen und die Stelle, wo er sich mit dem Kopf gestoßen hatte, pulsierte stechend. Er schmeckte Blut und ihm war speiübel. Aber immerhin hatte sich seine rasende Panik gelegt und mit einer seltsamen Klarheit fixierte er die Stelle, wo er die Tür vermutete. Jeden Augenblick konnte der Unbekannte versuchen, sich gewaltsam Zutritt zu diesem Raum zu verschaffen und ihn erneut angreifen. Das Badezimmer (wie er anhand der kalten Fliesen vermutete, an denen er sich angelehnt hatte) bot ihm nur eine kleine Verschnaufpause, die er gewinnbringend für sich einsetzen musste, um lebend aus dem Alptraum herauszukommen. Also unterdrückte er den Impuls, sich weinend in einer Ecke zusammenzurollen und zog sich stöhnend am Waschbecken hoch, wobei er sorgsam darauf bedacht war, seinen geschwollenen Knöchel nicht noch weiter zu belasten. Er tastete gerade nach dem Medizinschränkchen, als plötzlich das Licht im Badezimmer anging und ihn blendete. Erschrocken hob er seine Arme und blinzelte heftig die Tränen weg, um möglichst schnell wieder scharf sehen zu können. Verschwommen nahm er die weißen Fliesen des Badezimmers und eine mit Wasser gefüllte Badewanne zu seiner Linken wahr. Bevor er jedoch die Informationen weiter verarbeiten konnte, klopfte es energisch an der Tür und eine Stimme zischte: „Ich habe ein Geschenk für dich. Hier!“ Es raschelte und ein Stück Papier wurde unter der Tür durchgeschoben. Misstrauisch beäugte er es, so als rechnete er damit, das es jeden Moment explodieren würde. Aber nichts dergleichen geschah. Es blieb unscheinbar auf dem Boden liegen und wartete darauf, aufgehoben zu werden. Einen Moment rang er mit sich, nicht auf das miese Spiel seines Gegenübers einzugehen und das bedruckte Papier zu ignorieren, aber seine Neugierde war stärker. Also hielt er sich mit einer Hand am Waschbecken fest und bückte sich ächzend danach, während das Blut in seinen Ohren pochte. Nachdem er es aufgehoben hatte, stellte er verwundert fest, dass es eine Visitenkarte des Schlüsseldienstes war, für den er arbeitete. Er war nicht sonderlich erstaunt darüber, dass ein Fremder, der ihn bereits beim Schlafen fotografiert hatte, auch eine Karte von seiner Arbeitsstelle besaß, allerdings verstand er nicht, was sein Gegenüber ihm damit mitteilen wollte. Er öffnete den Mund um zu fragen, besann sich dann aber eines Besseren und schloss ihn wieder. Jeder Dialog mit diesem Verrückten bestärkte ihn nur in dem, was er tat – oder tun wollte. Und diese Genugtuung wollte er ihm nicht verschaffen. Also öffnete er den Medizinschrank und verharrte mitten in der Bewegung, als die Stille erneut durchbrochen wurde. „So ein ignoranter, dummer Trottel wie du es bist fragt sich sicherlich, was er mit dieser Information anfangen soll oder?“ ertönte dumpf die Stimme auf der anderen Seite der Tür. „Aber keine Sorge. Ich habe noch zwei weitere Hinweise für dich, die reichen sollten, auch so einen Hornochsen wie dich auf die richtige Spur zu bringen.“ Er verstummte und einen kurzen Moment später wurde erneut etwas durch den Türspalt hindurchgeschoben, was er nach einem kurzen Blick als das Foto identifizierte, was er sich vorhin, in einem anderen, glücklicheren Leben, angeschaut hatte. Melissa Arm in Arm mit der Brünetten. Er ersparte sich die Mühe, es aufzuheben und aus der Nähe zu betrachten. Mit Wahnsinnigen verhandelte man nicht. Stattdessen kickte er es achtlos in die Ecke und nahm seinen ursprünglichen Plan wieder auf, im Medizinschrank nach einer Waffe zu suchen. Er schob mehrere Nagellackflaschen zur Seite und griff gerade nach dem halbleeren Haarspray, als die Stimme die einseitige Konversation wieder aufnahm: „Immer noch kein Geistesblitz oder? Egoistische Jammerlappen, die im Selbstmitleid ertrinken sind einfach so begriffsstutzig. Ihr langweilt mich. Redet immer davon, wie mies ihr es doch habt, aber habt noch nie erfahren, was es wirklich heißt, zu leiden und Scheiße zu fressen. Hier. Mein letzter Hinweis. Solltest du es dann immer noch nicht begriffen haben, komme ich rein und sorge dafür, dass du erfährst, was wirklich schlimm ist im Leben.“ Es raschelte und ein Zeitungsartikel erschien auf den weißen Fliesen. Sofort sprang ihm ein Foto ins Auge. Es zeigte eine brünette Frau mit Bob, die erstaunliche Ähnlichkeit mit der Person auf dem Bild aufwies, das an Melissas Kühlschrank hing. Aber wie konnte das sein? Er ließ das Haarspray im Waschbecken liegen, griff stattdessen nach dem Zeitungsartikel und überflog ihn. Anscheinend ging es dabei um eine Frau, die auf der Flucht vor einem Einbrecher im hauseigenen Pool ertrunken war. Was genau…? Als sein Blick auf das Datum des Artikels fiel, wurde ihm abwechselnd heiß und kalt. Noch einmal wanderten seine Gedanken zurück zu seiner ersten Erkundungstour in dem verlassenen Einfamilienhaus. Vor seinem geistigen Auge spulte er den Ablauf im Schnelldurchlauf ab und stoppte an der Stelle, an der er das Glas vom Tisch geworfen und anschließend fluchtartig das Haus verlassen hatte, weil er Geräusche wahrgenommen hatte. Unter anderem… ein lautes Platschen. Er wurde kreidebleich und musste sich am Waschbecken abstützen, um nicht umzufallen. Hatte er etwa… er kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu bringen. In diesem Moment brach der Unbekannte mit so einer Wucht durch die Tür, dass sie aus den Angeln gesprengt wurde. Durch den gewaltigen Schwung, den der Angreifer genommen hatte, prallte er ungebremst auf ihn, sodass er das Gleichgewicht verlor, stürzte und mit dem Kopf gegen das Klo knallte. Benommen blieb er liegen und beobachtete, wie der Mann ein langes Küchenmesser aus seiner schwarzen Lederjacke zog. „Liegen bleiben“, fauchte dieser und zog sich dabei seine schwarze Sturmhaube vom Kopf. Zum Vorschein kam ein Mann Ende 20 mit wirren, vom Kopf abstehenden Haaren und vor Zorn funkelnden blauen Augen. Er hätte durchaus als gut aussehend bezeichnet werden können, wenn nicht seine roten Augen, die tief hängenden Tränensäcke und die tiefen Sorgenfalten auf seiner Stirn eine andere Sprache gesprochen hätten. Er warf einen Blick auf den Artikel, den Sascha immer noch in der Hand hielt und sagte kalt: „Na, hat es endlich Klick gemacht in deinem Amöbenhirn? Ist dir endlich bewusst geworden, was für ein mieses Schwein du bist? Was du doch für ein egoistischer, feiger Drecksack bist?“ Er zog ein weiteres Foto aus der hinteren Tasche seiner schwarzen Jeans und hielt es ihm vor die Nase. Es zeigte eine jüngere, glücklichere Variante von ihm, Hand in Hand mit der brünetten Frau im Artikel. Sie strahlten gemeinsam in Kamera. „Das hier“, er fing an zu zittern, „ist meine Lebensgefährtin. Ihr Name ist Kim. Oder sollte ich besser sagen war?“ Zornig trat er einen Schritt näher. „Denn nun ist sie tot. Und nun rate mal, wer dafür verantwortlich ist? Du, du dreckiger Mörder!“ Mit voller Wucht trat der Unbekannte gegen seinen geschwollenen Knöchel, was ihn zu einem lauten Schmerzensschrei verlautete. Unfähig, ihm irgendwas entgegenzusetzen, starrte Sascha ihn an und lauschte fassungslos seinen Worten, während sich ein Kloß in seinem Hals bildete. „Nur weil du in unser Haus eingebrochen bist, ist sie in den Garten geflohen. Nur weil du meintest, deinem jämmerlichen Leben einen neuen Kick einzuhauchen, ist sie auf der Flucht ausgerutscht und mit dem Kopf gegen die Kante des Pools geknallt. Nur weil du ein jämmerlicher Lappen bist, der sein Leben nicht auf die Reihe kriegt ist meine Frau bewusstlos in den Pool gefallen und dann qualvoll ertrunken.“  Mit irren Augen starrte er ihn an. „Und weißt du, was das schlimmste ist? Sie war im dritten Monat schwanger, du mieses Schwein!“ Die letzten Worte schrie er nun so laut heraus, dass Adern auf seiner Stirn hervortraten. „Du bist ein egoistischer, erbärmlicher Drecksack, der andere dafür bestraft, nur weil er nichts im Leben auf die Kette kriegt!“ Er verstummte, warf einen kurzen Blick in den Spiegel des Medizinschränkchens und fuhr dann wesentlich ruhiger, aber nicht weniger bedrohlich fort: „Von dem Tag an, an dem ich meine Frau in diesem Pool mit dem Gesicht nach unten gefunden habe, habe ich Rache geschworen. Ich wollte den Mistkerl, der das meiner Frau angetan hat, leiden lassen. Ihn spüren lassen, was es heißt, Angst und Schmerzen zu empfinden. Zum Glück wurde mir die Suche einfach gemacht, weil du ein dämlicher Trottel bist. Die hier“ er tippte mit der Schuhspitze auf die Visitenkarte in der Ecke des Badezimmers, „hab ich vor meiner Haustüre gefunden. Ich konnte mir erst keinen Reim darauf machen. Was hatte ein Schlüsseldienstmitarbeiter vor meiner Haustüre zu suchen? An dem Tag, wo ich zu einer Geschäftsreise aufgebrochen bin und meine Frau alleine zuhause geblieben ist? Hatte sie sich etwa ausgesperrt? Es beschäftigte mich lange. Dann bin ich der Sache nachgegangen und hab dich beobachtet. Eine lange Zeit. Sah, wie oft du in verschiedene Häuser eingestiegen bist und da dein krankes Spiel durchgezogen hast. Wie geil es dich gemacht hat, jemand anders zu sein. Einfach weil du dich selbst nicht ertragen kannst. Weil du nicht ertragen kannst, dass du in Wahrheit ein Versager bist.“ Er spuckte verächtlich auf den Boden. „Und nur weil du Komplexe hast, mussten meine Frau und mein Ungeborenes sterben.“ Er warf einen prüfenden Blick in die Badewanne, grinste humorlos und fuhr dann fort: „Doch nun kann ich endlich meinen Plan in die Tat umsetzen. Oh ja! Meine Schwägerin, Melissa, war sofort bereit, mich dabei zu unterstützen. Du weißt gar nicht, wie sehr sie leidet, wie sehr sie der Verlust ihrer Schwester gebrochen hat. Du siehst in ihr nur eine tolle Möglichkeit, deinem verkorksten Leben einen neuen Kick zu geben!“ Seine Stimme brach und er schluckte heftig. „Schnauze“, brüllte er, als er sah, wie Sascha den Mund öffnete. „Ich will nichts von dir hören! Schon gar keine jämmerlichen Entschuldigungen!“ Er wischte sich die Tränen aus seinem Gesicht und zischte: „Weißt du was? Du kriegst jetzt deinen tollen Nervenkitzel, nach dem du dich so gesehnt hast! Oh, du wirst dich nach deinem  alten Leben sehnen, glaub mir, aber in dieses Leben wirst du nie mehr zurückkehren. NIE mehr. Dein Leben war von dem Tag an verwirkt, als du in mein Haus eingebrochen bist und meine Frau und mein Kind sterbend im Pool zurückgelassen hast. Aber hey, sieh´s positiv: Immerhin musst du dich dann nicht mehr selbst ertragen.“ Bedacht legte er das Messer ins Waschbecken und starrte auf Sascha hinunter, der dem Monolog des Wahnsinnigen mit zunehmenden Entsetzen und großer Scham gelauscht hatte, unfähig zu begreifen, dass er für den Tod eines Menschen verantwortlich war. Er wollte sich erklären, sich entschuldigen, um Gnade betteln… aber aus seinem Mund kam lediglich ein heiseres Gurgeln. Aus ihm wich jegliche Widerstandskraft. Wehrlos nahm er war, wie der Unbekannte sich ihm näherte, in die Hocke ging und die Zähne bleckte. Urplötzlich griff er ihm in die Haare, schlug seinen Kopf mehrmals gegen die Toilette, sodass das weiße Porzellan mit einem blutigen Film überzogen wurde und zog ihn dann, als er zu benommen war, um sich noch groß gegen den kräftigen Griff wehren zu können, in Richtung der Badewanne. „Ich hoffe, du denkst bis zu deinem letzten Atemzug daran, dass du ein feiger Mörder bist, der Kim und mein ungeborenes Kind auf dem Gewissen hat“, zischte er ihm ins Ohr, wuchtete ihn auf den Badewannenrand und drückte seinen Kopf vollständig in das kalte Badewasser. „Du wolltest doch immer die Identität von jemand anderem annehmen oder? Auch von meiner Frau!?“ keuchte er und wehrte Saschas Versuche, sich gegen den festen Griff zu wehren, ab. „Nun kannst du am eigenen Leib erfahren, wie sich Kim in ihren letzten Minuten ihres Lebens gefühlt hat.“ Mit verzerrten Gesicht registrierte er, wie Saschas Versuche sich zu wehren immer schwächer wurden und sein Körper allmählich erschlaffte. Er lächelte befriedigt.

 

 

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