ReginaDer Schatten hinter der Wahrheit

„Ich muss dir was erzählen!“ ein bleiches Gesicht sieht mich entgeistert an. Hinter dem Jungen ist alles dunkel, anscheinend ist es mitten in der Nacht. Nur mit Mühe kann ich erkennen, dass die Person Franz in seinen jungen Jahren sein muss. Szenenwechsel. Wir beide sitzen in einer Küche. „…Scheiße gebaut!“ höre ich es dumpf. Ich kann keine zusammenhängenden Sätze verstehen. Es fallen die Satzfetzen „Zigarette“, „Onkels Scheune“, „Katze“, „erschreckt“ und „Brand ausgebrochen“. Szenenwechsel. „Hallo, Notruf? Ich möchte einen Brand melden!“ Ich realisiere, dass die zittrige Stimme meine eigene ist. Szenenwechsel. Überall Dunkelheit. Ich drehe mich um und sehe Franz, der außer sich vor Wut ist. Er trägt andere Kleidung als vorher, es muss also ein anderer Tag sein. „Stell dich endlich der Polizei!“ rufe ich. „Das werde ich nicht tun! Du weißt, ich darf mir nichts mehr erlauben, sonst komme ich in den Knast!“ Er kommt drohend näher. „Wenn du mich verpetzt, dann…“ „…,dann was?“ Szenenwechsel. Immer noch dunkle Nacht, immer noch Franz und ich. Ich höre keine Stimmen. Stattdessen zerreißen Schmerzensschreie und der dumpfe Ton von Fausthieben die Dunkelheit. Szenenwechsel. „Sie wollen damit sagen, dass Sie etwas über den Scheunenbrand vor zwei Tagen wissen? Erzählen Sie uns am besten alles gleich mal“ Eine männliche, blecherne Stimme, wie durch ein Telefon. Szenenwechsel. Ich kann eine leise, bedrohliche Stimme hören, dir mir sehr bekannt vorkommt. „Ich weiß noch nicht wann und wie, aber ich werde mich an dir rächen, Philipp Eiser“ Plötzlich sehe ich nur noch eine Faust auf mich zufliegen, dann wird alles schwarz.

Ich wache schweißgebadet auf. Ein lauter Schrei hat mich geweckt. Erst nach einigen Sekunden, in denen ich keuchend in meinem Bett sitze und an den Traum zurück denke, merke ich, dass ich selbst geschrien habe. Völlig außer Atem wische ich mir den Schweiß von der Stirn und werfe einen Blick auf meinen Wecker auf dem Nachttisch. 2 Uhr morgens.

Plötzlich wird es hell. Ich kneife meine Augen zu. Jakob stürmt in mein Zimmer und knipst mein großes Deckenlicht an. „Papa? Ist alles in Ordnung?“ fragt er besorgt und kommt zu mir ans Bett. „Ja, ich habe nur schlecht geträumt“, versichere ich ihm und blinzle ein paar Mal. Meine Augen fangen an, sich an die Helligkeit zu gewöhnen. „Wieder von Mamas Unfall?“ fragt er leise und setzt sich neben mich auf den Bettrand. „Nein diesmal habe ich von Franz geträumt“ „Etwa von dem Brand?“ Jakob sieht mich gespannt an, wie immer, wenn ich ihm von der Geschichte damals erzähle. Gähnend nicke ich. „Macht dir Franz etwa immer noch Angst? Du hast ihn doch letzte Woche hinter Gitter gebracht. Und das schon zum zweiten Mal, wohlgemerkt.“ Sagt er, sichtlich stolz auf seinen Vater. Ich reibe mir mit meinen Handflächen die Müdigkeit aus dem Gesicht. „Ja schon. Ich habe nur das komische Gefühl, dass das noch nicht alles war. Ich kenne ihn schließlich schon lange genug um zu wissen, dass er sich nicht schnell geschlagen gibt“ überlege ich laut, was mir schon tagelang durch den Kopf geht. Ich nehme das Wasserglas von meinem Nachttisch und leere es in wenigen Zügen. Mein Puls beruhigt sich allmählich und ich schwitze nun auch nicht mehr. „Meinst du wirklich?“, fragt Jakob nach. „Klar, er hat dir damals Rache geschworen, nachdem du ihn bei den Bullen verpetzt hast, aber…“ Ich räuspere mich lautstark. „Ich meine natürlich bei der Polizei“ verbessert er sich und wir grinsen uns an. „Jedenfalls hat er sich doch jetzt genug gerächt, oder nicht? Ich finde ja, ihr seid quitt“ überlegt mein Sohn weiter. „Die Frage ist, ob Franz das auch so sieht!“ sage ich und zucke mit den Achseln. Insgeheim muss ich ihm aber Recht geben. Franz‘ Rache ist tatsächlich härter ausgefallen, als ich überhaupt befürchtet habe. Jahrelang habe ich nichts von ihm gehört, ich dachte schon, er hätte diese dämliche Rache vergessen. Vor etwa einem Monat aber, also ganze 24 Jahre nach dem Brand, hat er sich anscheinend wieder an sein Versprechen damals erinnert. Angefangen hat alles mit Flugblättern, die in ganz München an Bäumen, Straßenlaternen und Litfaßsäulen aushingen. Darauf ein Foto von mir, das nach einem spektakulär gelösten Fall in der Zeitung abgedruckt wurde. In dem Text darunter wurde ich genauestens beschrieben und es wurde behauptet, ich sei ein Kinderschänder und werde von der Polizei gesucht. Bei sachdienlichen Hinweisen solle man sich an die Polizei wenden. Es hat meine Kollegen und mich ganze drei Tage gekostet, alle diese dämlichen Zettel zu finden und abzuhängen. Trotzdem riefen in den nächsten paar Tagen immer wieder besorgte Bürger an, die diesen „Verbrecher“ beim Spazierengehen oder Einkaufen gesehen haben. Ein paar Tage darauf habe ich wie jeden Morgen die Tageszeitung gelesen. Ich wollte schon die Seite mit den Sterbeanzeigen überblättern, stutzte jedoch, als mir ein bekanntes Gesicht in die Augen stach. Mein Gesicht. Es hatte also tatsächlich jemand auf meinem Namen eine Sterbeanzeige erstellen lassen, mit meinem Geburtsdatum, einem völlig willkürlichen Sterbedatum ein paar Tage vorher und wieder diesem Foto aus der Zeitung. Stundenlang durfte ich nun meine Verwandten und Freunde anrufen und beteuern, dass es mir gut geht, bevor sie zufällig durch Dritte erfahren würden, dass ich angeblich gestorben wäre. Am schlimmsten für mich aber war die Situation vor zwei Wochen. Ich bekam in der Arbeit einen Anruf, angeblich aus dem Krankenhaus. Ein „Pfleger“ teilte mir mit, dass mein Sohn von einem Auto angefahren wurde und schwer verletzt auf der Intensivstation liegt. Ich bekam den Schreck meines Lebens und fuhr sofort ins Krankenhaus. Da hat sich dann relativ schnell herausgestellt, dass es sich angeblich um ein Missverständnis handelte und dass hier kein Junge namens Jakob Eiser eingeliefert wurde. Ein kurzer Anruf auf Jakobs Handy bestätigte mir, dass er zu Hause war und es ihm gut ging. Mir war sofort klar, dass Franz hinter all dem stecken musste. Das war genau die Art von Rache, die ich ihm zugetraut habe, als er mir vor so vielen Jahren damit drohte. Ich hatte jeden Tag Angst, dass noch einmal so etwas passierte. Meine Kollegen und ich arbeiteten also mit Hochdruck an dem Fall. Viele Überstunden und wenig Schlaf später haben wir Franz endlich geschnappt und wieder hinter Gitter gebracht.

„Mach dir einfach keine Gedanken drüber, es wird schon alles gut werden.“ Versuche ich, Jakob zu beruhigen. Er nickt und wir schweigen uns eine Weile an. „Hey, was ist das denn?“ fragt er plötzlich und nimmt einen Bilderrahmen von meinem Nachttisch. „Oh, das Bild habe ich erst gestern wieder auf dem Dachboden gefunden. Es war schon eingerahmt, wahrscheinlich haben wir es früher mal aufgehängt. Es hat mir gut gefallen, weil es mich an die schöne Zeit in Nürnberg erinnert“ sage ich und werfe ebenfalls einen Blick darauf. „Das ist also in Nürnberg?“ „Ja genau. In dem Haus, das du hier im Hintergrund siehst, haben wir gewohnt. Aber es wundert mich nicht, dass du dich nicht mehr daran erinnerst. Schließlich sind wir schon nach München gezogen, da warst du erst zwei Jahre alt. Kurz nachdem deine Mutter…“ Ich räuspere mich leise. „Kurz nach Evas Unfall“ Jakob betrachtet immer noch das Bild. „Und wer sind die beiden neben Mama und dir?“ fragt er. Er meint das junge Ehepaar neben uns. Wir sitzen zu viert hinter einer Feuerschale in unserem ehemaligen Garten und grinsen in die Kamera. Ich mit einem Bier in der Hand, Eva und die Nachbarin halten ein Stockbrot in die Flammen und der Nachbar streckt beide Daumen in die Höhe. „Das waren unsere Nachbarn dort in Nürnberg. Wirklich nette Leute. Wir haben uns super gut verstanden, oft gemeinsam etwas unternommen oder die Blumen gegossen, wenn jemand von uns im Urlaub war.“ Ich betrachte den sympathischen Mann mit seiner dicken Brille und den schulterlangen, orangeroten Haaren und denke an die Zeit zurück. „Schade, dass wir den Kontakt verloren haben. Ich weiß gar nicht, was aus den beiden geworden ist“ überlege ich. „Die Frau war übrigens gleichzeitig mit Eva schwanger. Sie hat nur wenige Wochen nach deiner Geburt ebenfalls einen Sohn geboren“ Ich lächle. „Wir haben uns immer vorgestellt, dass ihr beste Freunde werden würdet und gemeinsam in den Kindergarten oder später in die Schule gehen würdet“ Meine Augen haften noch immer auf dem Foto. Jakob scheint meinen traurigen Blick zu bemerken. „Vielleicht kann man sie im Internet suchen und versuchen, Kontakt aufzubauen?“ schlägt er vor. „Weißt du ihre Namen noch?“ Ich schüttle den Kopf. „Ich habe mir darüber gestern schon den Kopf zerbrochen, bin aber leider nicht darauf gekommen.“  „Schade. Ich hätte sie und ihren Sohn gerne kennengelernt. Sie sehen sympathisch aus! Schau mal, der Mann ist genauso ein Ginger-Head wie ich“ er grinst mich an und deutet auf die Frisur des Nachbarn. Ich nehme ihm den Bilderrahmen wieder aus der Hand und stelle ihn auf seinen alten Platz zurück. „Tut mir übrigens leid, dass ich dich geweckt habe“ entschuldige ich mich und wuschle durch seine schon viel zu langen, orangeroten Locken. „Ist schon in Ordnung, ich war noch gar nicht im Bett. Ich habe noch eine Runde gezockt“ Jakob grinst mich an. „Was, um diese Zeit noch? Du solltest wirklich früher ins Bett gehen!“ schimpfe ich. „Papa, deinen Geschichten zufolge, warst du mit 17 auch nicht immer brav um 10 im Bett. Erst letztens hast du erzählt, dass du und deine Kumpel sogar oft erst im Morgengrauen nach Hause gegangen seit!“ erwidert er. „Ja am Wochenende! Morgen ist Montag, also wieder Schule, junger Mann!“ Murrend geht er zurück in sein Zimmer.  Wahrscheinlich um weiter an seinem Spiel zu spielen. Ich weiß immer noch nicht, was daran so interessant sein soll, gegen unnatürliche Monster zu kämpfen. Ja, ich habe tatsächlich in meiner Jugend andere Vorstellungen davon gehabt, meine Wochenenden und Freizeit  zu verbringen. Meine Freunde und ich haben damals keine Party unbesucht gelassen und sind von einem Club in den nächsten. Jakob ist das genaue Gegenteil. Er sitzt stundenlang am Computer, liest Bücher und kann weder meine Leidenschaft für schnelle Autos noch für Sport nachvollziehen. Ich seufze, knipse das Licht aus und versuche, wieder einzuschlafen.

Am nächsten Morgen bin ich viel zu müde, um gleich beim ersten Wecker-Klingeln aufzustehen. Immer wieder drücke ich auf die Snooze-Taste und drehe mich auf die andere Seite. Irgendwann hilft es leider doch alles nichts und ich setze mich seufzend auf. Ich gähne und strecke mich ausgiebig und beginne den Tag damit, meine Vorhänge zu öffnen. Strahlender Sonnenschein erfüllt mein Schlafzimmer und verspricht, ein wunderschöner Frühlingstag zu werden. Ich mache mich fertig und richte den Frühstückstisch her. Während mein Kaffee kocht, gehe ich kurz vor die Tür und will die Zeitung holen, damit ich gleich beim Frühstück die neusten Nachrichten lesen kann. Schon als ich den Briefkasten öffne, fällt mir auf, dass heute etwas anders ist. Es sind nicht nur wie gewöhnlich die Tageszeitung und ein paar Briefe drin, sondern auch ein kleiner, flacher Gegenstand. Verdutzt nehme ich ihn heraus und drehe ihn in alle Richtungen. Ohne Zweifel: Jemand hat mir ein Handy in meinen Briefkasten gelegt! Nach dazu ein äußerst modernes Smartphone in dunkelblau. Langsam gehe ich zurück ins Haus, weil mir ein frischer Wind in den Rücken weht und mir eine Gänsehaut bereitet. Mein Blick ist noch immer auf das Handy gewandt. Was hat das nur zu bedeuten? Ich selbst benutze kein so neumodisches Teil und auch Jakob gehört es nicht, das weiß ich genau. Seins ist schwarz und er würde sich nie für eine Hülle mit dem Guns’n’Roses Logo entscheiden. Anders als ich, hasst er die Musik dieser Band und schaltet immer sofort den CD-Player aus, wenn ich versuche, in aller Ruhe „Civil War“ zu hören. Ich überlege, Jakob dazu zu befragen. Vielleicht hat er ja eine Ahnung, wem das gehören könnte. Schnell entscheide ich mich jedoch dagegen. Er wäre mir nur böse, dass ich ihn wegen so einem unwichtigen Grund eine Stunde früher als nötig wecken würde. Ich versuche es also einzuschalten, vielleicht erfahre ich so, wie ich zu dem Smartphone komme. Nachdem es auf den Einschaltknopf nicht reagiert, drücke ich ihn etwas länger. „Vielleicht wurde es ja ausgeschaltet?“ grüble ich leise. Tatsächlich scheint das der Fall zu sein. Es vibriert leicht und schon nach wenigen Sekunden erkenne ich das Logo der Handymarke auf dem Display. Endgültig hochgefahren, kann ich ein Foto auf dem Sperrbildschirm sehen. Zwei Jungs, die nebeneinanderstehen, in die Kamera grinsen und sich mit einer Bierflasche zuprosten. Ich muss lächeln. Das Foto erinnert mich an meine Jugend, die beiden Jungs könnten genauso gut ich und einer meiner ehemaligen Kumpel sein. Plötzlich erstarrt mein Grinsen zu einer Grimasse. „Was soll das denn bedeuten?“ flüstere ich entsetzt. Der Junge links auf dem Bild könnte ich nicht nur sein, das bin ich! Mir wird heiß. Ich betrachte den Sperrbildschirm genauer. Ja, das ist unverkennbar mein Gesicht! Beziehungsweise war das mein Gesicht. Das Bild muss schon vor Jahren aufgenommen worden sein, als ich etwa in Jakobs Alter war. Mir kommt es nicht bekannt vor, aber das heißt bei mir überhaupt nichts. Ich habe noch etliche Fotos meiner Jugend, die auf dem Dachboden in Schachteln verstauben. Erst jetzt nehme ich die andere Person richtig wahr. Diese blauen Augen und hellen Haare sind unverkennbar. Leichte Übelkeit steigt in mir hoch. Der Junge neben mir auf dem Foto ist Franz! Ich erinnere mich, dass er in etwa so ausgesehen hat, als wir noch befreundet waren.

Meine Hände werden schweißnass, als mir plötzlich ein Gedanke in den Sinn kommt. Was, wenn das Handy von Franz oder einem Komplizen in den Briefkasten geworfen wurde? Was, wenn ich doch Recht hatte, mit meinen bösen Vorahnungen, dass Franz‘ Rache noch nicht zu Ende ist? Und vor allem: Was, wenn mir etwas passiert, weil ich das Handy besitze? Meine Gedanken wechseln von einer tickenden Zeitbombe, bis zu einer heimlichen Überwachungskamera, bis zu noch schlimmere Szenarien. Mit jedem weiteren Gedanken schubse ich vor Panik das blöde Teil auf dem Tisch weiter weg von mir. Kurz vor der Tischkante bleibt es liegen und ich stehe einige Augenblicke nur da, und starre auf das Handy. Als nichts passiert, wische ich mir mit meinem Hemdärmel den Schweiß von der Stirn. Ich schließe meine Augen, atme ein paar Mal tief durch und überlege mir, wie ich weiter vorgehen soll. Ich schaue auf die Uhr und nicke. Zeit genug habe ich für mein Vorhaben.

Mutig nehme ich das Smartphone mit spitzen Fingern und lege es in eine Plastiktüte. Mit meiner Ledertasche umgehängt und der Tüte in der einen Hand, fahre ich mit dem Fahrrad durch München. Die Idee ist mir glücklicherweise vorher gekommen. Wenn ich merke, dass mit dem Handy doch etwas passiert, kann ich es viel schneller weit von mir wegschleudern, als wenn es in meiner Tasche wäre, oder wenn ich mit dem Auto unterwegs gewesen wäre. Anders als sonst biege ich jedoch in der großen Kreuzung nicht links ab, um ins Präsidium zu kommen, sondern fahre weiter geradeaus.

An meinem Ziel angekommen, parke ich das Fahrrad vor dem Gebäude und atme nochmal tief durch. Erstens, weil ich von der kleinen Radtour ziemlich außer Atem bin und zweitens, weil ich mir erst noch Mut machen muss. Ich habe mir geschworen, diesen Schritt nie zu wagen. Trotzdem gehe ich – mit der Plastiktüte fest im Griff – durch die große Eingangstür mit der Aufschrift „Justizvollzugsanstalt München“.

„Wo warst du denn so lange? Ich wollte schon eine Vermisstenanzeige aufgeben!“ ruft mir Robert zu, kaum dass ich in der Tür zu unserem gemeinsamen Büro reinkomme. „Du wirst es nicht glauben, aber ich habe gerade Franz besucht!“ erwidere ich und hänge sowohl meine Tasche als auch meine Jacke an den Haken neben der Tür. Robert hört damit auf, etwas in den Computer zu tippen und sieht mich ungläubig an. „DER Franz? Du hast dir doch geschworen, ihn nie wieder sehen zu wollen!“ Er verschränkt die Arme vor der Brust, lehnt sich in seinem Stuhl zurück und wartet anscheinend gebannt auf meine Antwort. Ich setze mich auf meinen Schreibtischstuhl am Platz ihm gegenüber und erzähle ihm von dem merkwürdigen Erlebnis mit dem Handy im Briefkasten Heute morgen.

 „Mir war jedenfalls sofort klar, dass Franz dahinterstecken muss. Wer sonst käme auf so eine komische Idee? Deshalb habe ich mich entgegen meiner eigenen Versprechen dazu entschlossen, ihn in der JAV einen Besuch abzustatten. Er war nicht gerade begeistert, wie du dir vielleicht vorstellen kannst.“ Mein Kollege nickt. „Jedenfalls habe ich ihm dann alle Sachen an den Kopf geworfen: Warum er mich nicht einfach in Ruhe lassen kann; Was er denn von mir will; Was es mit dem Handy auf sich hat; Wer es in unseren Briefkasten geworfen hat und so weiter“ Robert hängt gebannt an meinen Lippen. „Und? Was hat Franz daraufhin gesagt? Hat er wieder alles sofort zugegeben, wie bei seinem ersten Verhör?“ Ich seufze. „Diesmal leider nicht. Er hat alles abgestritten und behauptet, er wisse nichts von einem Smartphone in meinem Briefkasten und erst recht nichts von einem alten Bild von uns beiden.“ „Hast du es ihm denn gezeigt?“ „Ich durfte nichts in die Besucherzelle mitnehmen. Weder meine eigenen Sachen, noch das Handy, das ich heute gefunden habe“ erkläre ich. „Und du kaufst ihm das ab?“ Langsam nicke ich und schaue auf meine Schuhe. „Nach allem was er getan hat?“ fragt er ungläubig. „Ja. Er hat sehr ehrlich ausgesehen. Und sein Blick hat verraten, dass er wirklich nichts von einem Smartphone wusste“ Ich zucke mit den Achseln. „Das war wohl eine falsche Spur“ „Hm, und wer ist dann für das Handy verantwortlich?“ Robert scheint von meiner Antwort nicht begeistert zu sein. Wieder zucke ich mit den Achseln. „Das gilt es herauszufinden. Ich habe schon versucht, das Handy zu entsperren, es wird jedoch ein Codewort verlangt. Aber wofür haben wir Kollegen, die sich mit solchem Technikkram auskennen? Die können sicher in wenigen Minuten den Besitzer herausfinden“ Voller Zuversicht stehe ich von meinem Stuhl auf, schnappe mir wieder die Plastiktüte samt Smartphone und mache mich auf den Weg in das Büro meiner Kollegen im zweiten Stockwerk.

„Entschuldigung?“ höre ich eine nervöse Stimme hinter mir, noch bevor ich das Treppenhaus erreicht habe. „Ja?“ ich drehe mich um. Vor mir steht ein junger Mann. Sein Gesicht kommt mir unglaublich bekannt vor. Ich überlege, woher ich ihn kennen könnte. „Ich suche eigentlich das Fundbüro. Die Dame am Empfang hat mir zwar den Weg erklärt, ich habe mich aber anscheinend verlaufen“ Er lächelt schüchtern. „Da kann ich Ihnen weiterhelfen. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen, wo es lang geht“ Der Junge muss sich wirklich verirrt haben. Er hat noch nicht einmal im richtigen Stockwerk gesucht. Wir gehen also die Treppe hinunter.  „Was haben Sie denn überhaupt verloren, wenn ich fragen darf?“ versuche ich, den Weg zum Büro mit Smalltalk auszuschmücken. „Mein Handy. Ich suche es seit gestern und befürchte, dass ich es diesmal wirklich verloren habe. Dabei war es mega teuer und super neu! Ich habe es erst vor zwei Wochen zum Geburtstag bekommen“ meint er niedergeschlagen. „Ach, Sie hatten Geburtstag? Dann noch alles Gute nachträglich!“ Ich reiche ihm die Hand. „Vielen Dank. Aber Sie dürfen auch gerne Du zu mir sagen. Ich bin ja erst 17 geworden“ erwidert er. „Ehrlich? Mein Sohn ist auch seit einem Monat 17, sieht aber um einiges jünger aus, als du!“ Ich betrachte ihn genauer. Tatsächlich hat er schon einen Drei-Tage-Bart, von dem Jakob nur träumen konnte. Auch seine beachtliche Körpergröße lässt ihn älter wirken. Der Junge grinst. „Das höre ich oft! Meine Eltern können sich das auch nicht erklären, sie sind beide recht klein und wurden schon immer eher jünger geschätzt. Mein Vater wurde beispielsweise noch mit 30 nach seinem Ausweis gefragt, wenn er im Supermarkt Alkohol kaufen wollte!“ Er lacht und es scheint, als hätte er seine Schüchternheit abgelegt. Auf einmal plaudert er vor sich hin und er ist mir auf Anhieb sympathisch. Der Weg ins Fundbüro kommt mir viel kürzer vor, als sonst. „So da wären wir!“ Ich mache eine einladende Geste in das Büro meiner Kollegin Christine. Die Tür steht offen, deshalb bemerkt sie uns gleich. „Hallo Philipp! Wen hast du mir denn heute mitgebracht?“ „Das ist… Wie heißt du eigentlich?“ gebe ich die Frage an den Jungen weiter. „Paul. Paul Huber“ Ich stutze einen Moment. Irgendwoher kenne ich diesen Namen doch! Während Paul Christine sein Problem erklärt, grübele ich vor mich hin, komme aber auf kein Ergebnis. „In letzter Zeit wurden bei uns viele Handys dieser Marke abgegeben. Kannst du es vielleicht näher beschreiben? Wir müssen uns natürlich auch sicher sein, dass du der wirkliche Besitzer bist“ Meine Kollegin zwinkert dem Jungen zu.

 „Na ja, besonders könnte vielleicht sein, dass es dunkelblau ist. Und ich habe eine Hülle drauf. Sie ist schwarz mit dem Logo von Guns’n’Roses…“ „Guns’n’Roses hast du gesagt?“ unterbreche ich ihn hier. Vor Aufregung spreche ich viel lauter als gewollt. In diesem Augenblick fällt mir endlich ein, an wen mich der Junge die ganze Zeit schon erinnert. An mich selbst! Er sieht haargenau so aus, wie ich mit 17 Jahren. Ich schlage mir mit meiner Handfläche auf die Stirn. „Jetzt ergibt alles einen Sinn!“ murmle ich. Zwei fragende Gesichter blicken mich verwirrt an, aber ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Ich will so schnell wie möglich wissen, was hier gespielt wird. „Nichts für ungut, Christine, aber Paul geht jetzt mit in mein Büro. Das mit dem Handy hat sich erledigt!“ Schnellen Schrittes eile ich den Flur entlang, Paul direkt hinter mir. Er gibt ein leises „Okaaay?!“ von sich und fragt sich wahrscheinlich, was ich eigentlich von ihm will. „Weißt du, wo du das Handy genau verloren hast?“ frage ich ihn unterwegs. „Zumindest in etwa. Es passiert oft, dass mir mein Handy beim Skateboarden aus der Hosentasche fällt. Sonst habe ich das immer noch rechtzeitig bemerkt, beim letzten Mal anscheinend eben nicht. Es müsste also eigentlich in der Strecke zwischen der München Klinik Schwabing – da wohne ich nämlich in der Nähe – und dem Englischen Garten liegen. Das ist die Strecke, in der ich häufig skate. Ich bin aber schon dreimal hin und zurück gefahren, habe mein Handy aber nicht mehr gefunden!“ Wir sind nun an meinem Büro angekommen. Der Junge und Robert begrüßen sich. „Das könnte passen. Von der Klinik zum Englischen Garten müsstest du an meinem Haus vorbei fahren. Vielleicht hast du genau dort dein Handy verloren. Wie es in meinen Briefkasten kommt, ist mir zwar immer noch schleierhaft…“ „Sie haben mein Handy in Ihrem Briefkasten gefunden?“ fragt er ungläubig. „Wenn das hier deins ist?“ Ich nehme das Smartphone aus der Plastiktüte, die ich schon die ganze Zeit mit mir rumschleppe, weil ich ja ursprünglich auf dem Weg in die Technikabteilung war. Paul muss gar nicht lange überlegen und nickt eifrig. „Das ist ja cool, das ist wirklich mein Handy!“ Ich bitte ihn, den PIN einzugeben. Sonst hätte ja jeder kommen können und sich als Besitzer bezeichnen können. „Zufrieden?“ Er hält mir grinsend das entsperrte Smartphone vor die Nase. „Noch nicht ganz. Ich bräuchte bitte noch deine Kontaktdaten. Also vollständiger Name, Adresse, Telefonnummer, Geburtsdatum. Das ist nur für die Akten, das hättest du bei der Kollegin im Fundbüro auch machen müssen“ versichere ich ihm. Ich sehe im Augenwinkel, dass Robert seine Augenbraue noch oben zieht und mich fragend anschaut. Er sagt aber nichts.

„Nur so aus reiner Neugierde…“ fange ich an, während Paul seine Daten auf einen Zettel schreibt. „Wer ist denn der Junge neben dir auf dem Foto im Sperrbildschirm? Er kommt mir unglaublich bekannt vor“ „Ach, Flo meinen Sie?“ Paul stoppt kurz mit seinem Gekritzel und sieht mich fragend an. Ich zucke mit den Achseln. „Das ist mein bester Freund. Florian Winter. Ich denke aber nicht, dass Sie ihn kennen. Er wohnt zwei Autostunden weit weg von hier, in der Nähe von Nürnberg.“ Er macht einen traurigen Blick. „Meine Familie und ich wohnen erst seit zwei Monaten hier in München, seitdem habe ich ihn nie gesehen“ Er seufzt und widmet sich wieder dem Blatt Papier. „Winter meintest du? Hat dieser Florian vielleicht einen Vater namens Franz?“ frage ich nach. Paul kaut auf den Stift herum und denkt anscheinend scharf nach. „Sein Vater nicht, nein. Aber wenn ich mich nicht täusche, hat er mal einen Onkel Franz erwähnt. Mit dem hat er aber keinen Kontakt mehr. Er scheint das schwarze Schaf der Familie zu sein“ Er zuckt mit den Schultern, schreibt das letzte Wort auf das Papier und drückt es mir dann in die Hand. „War’s das?“ fragt er und beginnt schon, in Richtung Tür zu gehen. „Moment noch. Solltest du eigentlich nicht in der Schule sein?“ fällt mir da gerade noch ein. „Nee, ich gehe nicht mehr in die Schule. Ich mache eine Ausbildung und diese Woche habe ich Urlaub“ Ich gebe mich mit der Antwort zufrieden, erkläre ihm noch den Weg zurück nach draußen und wir verabschieden uns. Kaum hat ihn der dunkle Flur verschluckt, zieht Robert wieder seine Augenbraue hoch und sieht mich fragend an. „Was ist?“ will ich wissen. „Du weißt genau, woran ich denke. Der Junge eben ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten!“ Er lacht auf. „Ach was“, winke ich ab. „Du warst Heute morgen doch selbst felsenfest davon überzeugt, dass du selbst das auf dem Foto bist“ erwidert er. „Na und? Jetzt wo ich ihn live und in Farbe gesehen habe, finde ich, dass er mir gar nicht mehr ähnelt.“ lüge ich. „Hast du eigentlich mitbekommen, das Pauls Kumpel anscheinend der Neffe von Franz…“ „Jetzt versuch bitte nicht, vom Thema abzulenken!“ unterbricht mich Robert genervt. „Was ist denn das Thema? Das mir ein anderer Mensch ähnlich sieht? Ich habe mal gelesen, dass jeder Mensch sieben Doppelgänger auf der Welt hat!“ „Dazu zählen Söhne aber nicht!“ erwidert mein Kollege und sieht mich böse an. „Was soll das denn heißen? Ich habe nur den einen Sohn und das ist Jakob!“ ich blitze ihn an. Robert erhebt sich von seinem Stuhl, geht auf meinen Schreibtisch zu, nimmt den Bilderrahmen in die Hand, der neben meinem Bildschirm steht und hält ihn mir vor die Nase. Das Bild zeigt Jakob und mich an unseren Strandurlaub im letzten Sommer. „Ich kenne das Foto“ sage ich nur, weiß aber, worauf Robert hinaus will. „Sieh dir Jakob doch mal an: Er hat blasse Haut, viele kleine Sommersprossen, wuschelige, orangerote Haare und ist kleiner als seine Gleichaltrigen. Das komplette Gegenteil von dir!“ Sein Zeigefinger zeigt auf meine Brust. „Bei Paul hingegen,“ Er deutet auf die Tür, die der Junge vor kurzem vorlassen hat, „würde niemals jemand daran zweifeln, dass er dein Sohn ist!“ redet er auf mich ein. Ich reiße ihm gewaltsam das Bild aus der Hand und er geht beleidigt an seinen Platz zurück. „Ist er aber nicht und jetzt Schluss damit!“ rufe ich. „Bist du dir sicher?“ Ausweichend stecke ich meine Kugelschreiber, die quer über den Tisch verteilt sind, in den Stiftehalter und sortiere ein paar Akten. Die ganze Zeit fühle ich mich beobachtet. Tatsächlich sieht mich Robert immer noch fragend an. „Nein, verdammt!“ murmle ich. „Was soll das heißen?“ fragt er verwirrt. „Ich weiß nicht, ob ich meine Frau betrogen habe. Das will ich damit sagen!“ zische ich wütend. Langsam kommt Robert zu mir und setzt sich auf meinen Schreibtisch. Er verschränkt die Arme vor der Brust, sieht mich erwartungsvoll an, sagt aber kein Wort. Er bietet mir die Gelegenheit, ihm die Wahrheit zu erzählen, will mich aber zu nichts zwingen. Ich seufze. „Ich… ich war Alkoholiker, musst du wissen“ gebe ich leise zu. Er schaut mich erstaunt an. „Ich dachte, du trinkst keinen Alkohol?“ „Nicht mehr… In meiner Jugend habe ich oft übertrieben. Fast jedes Wochenende war ich total dicht, sodass mich meine Freunde nach Hause bringen mussten, alleine hätte ich es nicht mehr geschafft. Noch schlimmer wurde es sogar erst, als ich schon verheiratet war. Es kam nicht selten vor, dass ich mich an einem Montag überhaupt nicht mehr an das Wochenende davor erinnern konnte. Dementsprechend auch nicht, was ich alles gemacht habe“ Ich fühle, wie mir die Röte ins Gesicht steigt, so sehr schäme ich mich für meine Vergangenheit. „Das hast du mir noch nie erzählt“ meint Robert leise. Ich schüttle den Kopf. „Ich habe es niemandem erzählt, den ich seit dem kennengelernt habe. Ich will einfach nicht, dass jemand ein schlechtes Bild von mir hat. Seit 16 Jahren trinke ich keinen Tropfen mehr“ Robert sieht mich bewundert an. „Wie hast du das geschafft?“ „Ich weiß es selbst nicht so genau!“ Ich lache auf. „Irgendein Ereignis hat mich dazu gebracht, nie wieder etwas zu trinken. Ich weiß leider nicht mehr, was es war. Wahrscheinlich wieder so ein dämlicher Blackout nach einer durchzechten Nacht“ „Und was hast du jetzt vor?“ fragt Robert und ich seufze. „Wenn ich das wüsste! Für heute reicht es mir jedenfalls. Ich bin komplett am Ende mit den Nerven. Ich nehme mir den restlichen Tag frei und lege mich erst mal hin“ Schweigend packe ich meine Sachen und auch Robert geht an seinen Platz zurück, ohne ein Wort zu sagen.

Zuhause angekommen stelle ich mein Fahrrad in die Garage. „Ach, gut dass ich dich hier treffe, Philipp!“ höre ich eine Stimme hinter mir. Genervt schließe ich die Augen. Schon an der Stimme erkenne ich meine Nachbarin Daniela. Sie ist eigentlich ganz nett, aber ausgerechnet jetzt habe ich keine Lust auf lästigen Smalltalk. Ich verziehe mein Gesicht so gut es geht zu einem Grinsen und drehe mich zu ihr um. Sie ist gerade dabei, ihre Garage auszukehren, stellt nun den Besen ab und kommt auf mich zu. „Ich wollte dir noch Bescheid geben, dass ich dir dein Handy in den Briefkasten geworfen habe.“ Ich ziehe meine Augenbrauen hoch. Das erklärt natürlich einiges.  „Es lag dort an deiner Einfahrt direkt neben der Straße. Ich wollte nicht, dass jemand versehentlich drüber fährt oder es einsteckt. Das war gestern um die Mittagszeit rum. Ich habe jedenfalls geklingelt, es war aber niemand zu Hause. Also dachte ich, im Briefkasten findest du es am ehesten und geklaut wird es dir da auch nicht“ Sie lächelt mich begeistert an. Ich atme erleichtert aus. Wieder eine Frage geklärt. Ich bedanke mich bei ihr, murmle etwas von starker Migräne und verschwinde im Haus.

Ich gehe schnurstracks in mein Schlafzimmer, will mich unbedingt eine Weile hinlegen, um von den tausend Gedanken loszukommen, die mir im Moment durch den Kopf schwirren. Doch so sehr ich auch versuche, es will mir nicht gelingen. So liege ich nur da, habe die Augen geöffnet, versuche meine Gedanken zu sortieren und mich zu beruhigen. Mein Blick fällt auf das Bild am Nachttisch und ich nehme es in die Hand. Eva strahlt mir entgegen – genau so habe ich sie in Erinnerung. Zu dieser Zeit war alles noch in Ordnung. Warum kann ich nicht die Zeit zurückdrehen? Ein plötzlicher Wutanfall lässt mich das Bild gegen die Wand schleudern. Das Glas geht bei dem Aufprall sofort in die Brüche, das Foto fällt aus dem Rahmen und bleibt verkehrt herum liegen. Ich raufe mir die Haare und Tränen steigen mir in die Augen. Wie ein Häufchen Elend sitze ich auf der Bettkante, mit den Händen im Gesicht und weiß nicht, was ich machen soll. „Was auch immer ich getan habe, es tut mir leid, Eva“ murmle ich. Ich will das Bild aufheben, um ihr in die Augen sehen zu können. Doch was ist das? Auf der Rückseite des Fotos sind mit Bleistift ganz verblasste Zahlen und Buchstaben zu erkennen. Ich halte es mir dicht vor die Augen, um es besser entziffern zu können. Ein Datum! 15.05.2000. Daneben steht noch etwas. Ich kneife die Augen zusammen. „Grillabend mit Hubers“ lese ich laut vor. Huber. Huber wie die ehemaligen Nachbarn Huber in Nürnberg. Huber wie Paul Huber. Huber wie der Paul Huber, der noch bis vor kurzem in Nürnberg gewohnt hat. Ich drehe das Bild um. „Sieh dir Jakob doch mal an: Er hat blasse Haut, viele kleine Sommersprossen, wuschelige, orangerote Haare und ist kleiner als seine Gleichaltrigen. Das komplette Gegenteil von dir!“ ruft mir Roberts Stimme in meinem Kopf zu, während ich mir unseren ehemaligen Nachbarn ansehe. Meine Augen werden größer und größer. „Der Junge eben ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten!“ redet Robert weiter. Ich lasse das Bild fallen, als wäre es plötzlich unangenehm heiß. „Bei Paul würde niemals jemand daran zweifeln, dass er dein Sohn ist!“ Einige Zeit starre ich es nur an, obwohl die Rückseite nach oben liegt. Ein schrecklicher Gedanke brennt sich in mein Gehirn und lässt mich nicht mehr los.

 „Bitte, Philipp!“ flehende Augen blicken mich an. „Pass nur dieses eine Mal auf Jakob auf. Ich will doch wenigstens noch einmal mit meinen Freundinnen in die Disco!“ Szenenwechsel. Alles ist laut. Auf dem Caochtisch im Wohnzimmer türmen sich Bierdosen und leere Zigarettenschachteln. Nur mit Mühe kann ich den Fernseher gegenüber sehen, das ganze Wohnzimmer ist benebelt, wahrscheinlich Zigarettenqualm. Es läuft Fußball, neben mir meine 4 besten Kumpel. Gröhlend fallen wir uns in die Arme und freuen uns. Anscheinend ist gerade ein Tor gefallen. Szenenwechsel. Die Bierdosen liegen nun nicht mehr auf dem Tisch, sondern auf dem Boden verstreut, damit mehr Platz für die Schnapsgläser ist, die ich jetzt austeile. Drei Flaschen Kräuterschnaps stehen bereit, von uns getrunken zu werden. Szenenwechsel. Lautes Gegröhle, wir stoßen miteinander an. Die Hälfte von meinem Glas tropft auf den Wohnzimmerboden. Das finde ich unglaublich witzig. Szenenwechsel. Ich wanke zur Toilette, schaffe es aber nicht rechtzeitig. Ich übergebe mich ins Waschbecken. Szenenwechsel. „Ia sollded bessssa gehn!“ Ich schaue auf meine Freunde hinab, die auf der Couch liegen. Ihnen scheint es genauso elend zu gehen, wie mir. Szenenwechsel. Ich schließe die Haustür, nachdem der letzte rausgegangen ist. Szenenwechsel. Ich stehe im Wohnzimmer und betrachte das Chaos auf dem Boden, den Tisch, der Couch und der Kommode. „Scheise“ stöhne ich und lasse mich auf den Sessel sinken, der noch frei von Bierdosen oder Schnapsflaschen ist. Mein Blick fällt auf die Uhr – sie zeigt 2 Uhr morgens. „Eva!“ fällt es mir wieder ein. Sie muss bald zurück sein! Mehr schlecht als Recht versuche ich, das Chaos zu beseitigen. Szenenwechsel. Ich höre einen leisen, erstickten Schrei. Jakob! Ich wanke in das Kinderzimmer. Szenenwechsel. „Scheise“ murmle ich schon wieder, mit Blick auf mein Kind. Auf den ersten Blick würde man meinen, es schläft ganz ruhig. Aber seine leicht bläuliche Gesichtsfarbe lässt etwas anderes vermuten. Mir wird heiß. Szenenwechsel.

„Bitte wach auf, Jakob!“ rufe ich verzweifelt, den Kinderwagen mit meinem Sohn nach draußen vor die Tür schiebend. Hoffentlich hilft ihm die frische Luft etwas. Szenenwechsel. Bei den Nachbarn brennt noch Licht! Ich klopfe leicht an das Fenster. Szenenwechsel. „Philipp? Was ist denn mit dir passiert?“ meine Nachbarin öffnet mir die Tür und bittet mich herein. Sie trägt ihren Sohn auf dem Arm. Szenenwechsel. „Kannst du kurz auf das Paulchen aufpassen? Ich wollte ihn gerade wickeln, es sind aber keine Windeln hier. Ich hole welche von oben“ Szenenwechsel. Mir wird heiß. Soll ich es tun? Ich zögere einen Augenblick. Doch dann entscheide ich mich dafür. Szenenwechsel. „Petra! Irgendetwas stimmt mit Paul nicht!“. Szenenwechsel. Ich schiebe den Kinderwagen zurück zu unserem Haus. Petra steht draußen vor der Tür, wiegt den Jungen in den Armen und ruft hektisch den Notruf. Szenenwechsel. Ich lege den Jungen vorsichtig ins Bettchen und decke ihn zu. Szenenwechsel. Ich lasse mich auf das Sofa fallen, eine Flasche Wodka in der Hand. Szenenwechsel. „Philipp? Hörst du mich?“ Etwas schlägt mir ins Gesicht. „Wie viel hast du denn wieder getrunken?“ fragt Eva genervt. „Du…Du bist schon zurück?“ „Ich bin schon seit Stunden zurück, schau mal auf die Uhr! Ich konnte dich gestern Nacht nur nicht mehr wach kriegen, so betrunken du wieder bist!“ 8 Uhr morgens. Tatsächlich. „Als ich heimgekommen bin, stand ein Krankenwagen vor dem Haus der Hubers. Hast du was davon mitbekommen? Was war bei ihnen los?“ „Ich weiß es nicht. Ich kann mich an gestern Nacht nicht mehr erinnern!“ Ich breche in Tränen aus.

Ich wache auf. Erst jetzt merke ich, dass ich eingeschlafen sein muss und das alles nur geträumt habe. Die Tränen jedoch sind echt. Denn je mehr ich über meinen Traum nachdenke, umso sicherer bin ich mir, dass das alles kein Traum war, sondern eine Erinnerung an meine Vergangenheit. Eine Erinnerung an mein frühes Leben als Alkoholiker. Dem letzten Tag in meinem Leben als Alkoholiker. Ab diesem Zeitpunkt habe ich nie wieder Alkohol getrunken. Ab diesen Zeitpunkt habe ich nie wieder meinen eigenen Sohn in den Händen gehabt.

One thought on “Der Schatten hinter der Wahrheit

  1. Liebe Regina,
    Eine wirklich nette Geschichte hast du uns hier geliefert.
    Eine der wenige Geschichten bisher überhaupt, in derer ich kaum bis keine Rechtschreibfehler gelesen habe. Ich schreibe zwar immer, dass es hier darum ja auch nicht ginge, muss aber zugeben, dass es sich einfach viel schöner liest.
    Danke dafür an der Stelle ☺️
    Du hast einen wirklich anregenden Schreibstil, der einen das Lesen wirklich genießen lässt. Man kann mal kurz aus der Welt austreten und Zeit & Raum vergessen. Darum geht es für mich in einer Geschichte auch. Das sogenannte „Sahnehäubchen“ bekommt eine Geschichte erst bei mir, wenn auch der Inhalt dessen mich in seinen Bann ziehen kann.
    Das ist mir bei dir so semi gut gelungen. Denn ich konnte mir vieles anhand deines Schreibstiles vorahnen, so dass ich selten überrascht wurde. Das fand ich dann persönlich etwas schade aber zweifle deshalb dennoch nicht an deinem Talent! Dran bleiben!:)

    Herzlich, die Lia 🌿

Schreibe einen Kommentar