Franzi07Der Sog des Wahnsinns

Die einzelnen Menschen verschwammen zu einer großen unförmigen Masse. Jasper betrachtet dieses wogende Meer, bestehend aus unzähligen Fußballfans mit ihren gleichen Schals und Trikots – ihrer Uniform gewissermaßen. Abwertend schüttelte er den Kopf; für einen Mann wie ihn war es unverständlich, wie Menschen ihre Individualität aufgeben konnten, um einer gleichförmigen Masse anzugehören. Doch dieses Phänomen beobachtete Jasper immer wieder: Sei es Fußball oder eine andere Sportart. Farben eines Landes, die die Menschen vereinheitlichten oder Modetrends, die die Schäflein einheitlich schoren.

Er wand sich ab und überquerte den Augustusplatz, wodurch er die Fanmasse hinter sich ließ. Johlend zogen sie durch das beschauliche und doch anonyme Leipzig, um ihre Helden in den gleichen Farben anzufeuern. Im Gegensatz zu den Fans wollte er um keinen Preis auffallen… Bei diesem Gedanken lief es selbst einem Mann wie Jasper eiskalt den Rücken herunter. Er knackte mit den Fingerknöcheln und rieb die kalten Hände. Es hatte zwar im Osten Deutschlands nicht geschneit, doch die Luft war kalt und er zog den Wintermantel enger um seine Schultern. Trotz der Kälte hatte er auf Handschuhe verzichtet, da sie seine Arbeit behindern würden. Aus dem gleichen Grund war sein Mantel eng geschnitten und sein grauer Schal um Kinn und Mund gebunden. Durch seinen warmen Atem waren die Ränder des Schals leicht feucht geworden, doch sein Gesicht zu verdecken war wichtiger als solche Unannehmlichkeiten.  Mit gespielter Gelassenheit überquerte er die große Kreuzung und ging auf die Alte Post zu, die in den letzten Jahren zu einem Mehrzweckgebäude umgebaut worden war und nun ein Fitnessstudio, ein Restaurant und diverse Büroräume beinhaltete. Seit einigen Minuten folgte er unauffällig einem sehr elegant gekleideten Mann, dessen Kleidung die teuersten Markenlogos schmückten. Denn auch wenn er sich nicht um seinetwillen für Mode interessierte, so war sie doch ein hilfreicher Anhaltspunkt, um die großen Fische zu erkennen. Als wäre die goldene, klischeehafte Rolex am Handgelenk des Fremden nicht Hinweis genug gewesen. Der Kerl hatte sogar extra seinen linken Ärmel hochgekrempelt, um dieses Symbol des Reichtums zur Schau zu stellen.

Jasper atmete tief durch und beschleunigte seinen Schritt, als wollte er die Bahn an der gegenüberliegenden Haltestelle erreichen; er holte sein Opfer genau in dem Moment ein, als dieser sich zwischen einer Gruppe rücksichtsloser Schulkinder hindurchzwängen musste, um die andere Straßenseite zu erreichen. Geschickt ließ Jasper seine Hand in die Manteltaschen des Mannes gleiten, erfasste alle Gegenstände und zog mit routinierter Sicherheit ein Smartphone und eine Brieftasche hervor. Entspannt ließ er sich erneut zurückfallen und tat so, als würde er sich über die verpasste Straßenbahn ärgern, die gerade an der Haltestelle abfuhr. Dann wand er sich ab und ging die Dresdner Straße entlang, um sich zu seiner aktuellen Absteige im Osten Leipzigs zu begeben. Die große, mehrspurige Straße zog sich vom Zentrum bis weit in den Osten – durch verschiedene Viertel, wobei die meisten von wenig wohlhabenden Menschen bewohnt waren. Der Osten gefiel ihm einfach wesentlich besser als der Westen – im Allgemeinen gesprochen.

 

Als Jasper die Tür seiner anonym gemieteten Einzimmerwohnung öffnete, streift er die Stiefel achtlos ab und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, um seine heutige Beute unter die Lupe zu nehmen. Es hatte eine Zeit gegeben, als er auf solche Kleinigkeiten wie Taschendiebstahl hatte verzichten können – eine Zeit, in der er zu den gefragtesten Auftragsdieben der Welt gehört hatte… Doch das war lange vorbei. Inzwischen wohnte er in einer Absteige, schlief auf einer Pritsche und unter einer fleckigen Zimmerdecke.

Die Brieftaschen leerte er routiniert aus und pfefferte Karten, Fotos und ähnlichen wertlosen Nippes achtlos in den Müll. Das Bargeld steckte er ein. Ein paar Euro waren immerhin rumgekommen. Doch vielversprechender waren die erbeuteten Smartphones. Nachdem er die Wohnung in dieser Gegend gegen Vorlage eines fetten Bündels Bargeld ohne persönliche Angaben angemietet hatte, war ihm schnell bewusst geworden, dass das Verschieben gestohlener Waren auf der Eisenbahnstraße am leichtesten war. Er begann, die Sim-Karten zu entfernen und die Telefone für den Hehler einzutüten. Bei dem letzten Gerät, dass er dem eingebildeten Rolex-Typen abgezogen hatte, stockte er und starrte den Display entgeistert an.

Dieses Hintergrundbild… Wie konnte das sein?  Das durfte nicht sein!

Den Sperrbildschirm schmückte ein mit Tinte gezeichnetes Symbol, dass ihn in seine dunkle Vergangenheit katapultierte. Es stellte ein aufgeschlagenes Buch dar, vor dem der Kopf eines Mannes angedeutet war – sofern man die entstellte Fratze mit Tentakeln überhaupt als menschlich bezeichnen konnte. Nur wenige Details waren dargestellt, wodurch sein sonst so klarer Verstand voreilige Schlüsse ziehen wollte: der Kult! Der Kerl mit der Rolex musste dieser Gruppe Gottesanbetern angehören!

Jasper zwang sich, tief durchzuatmen. Das konnte auch alles ein großer Zufall oder ein kranker Streich des Schicksals sein. Er musste das Handy genauer überprüfen. Also öffnete er eine seit langem verschlossene Tür in seinem Gedächtnis und probierte Stichworte aus, die der rätselhafte Kult als Passwort verwenden könnte: große Alte, Abdul Alhazred, Necronomicon. Nichts. Weder der Autor ihrer heiligen Schrift, Abdul Alhazred, noch andere Kult-Begriffe lieferten ein Ergebnis.

Er kratzte sich am Kopf. Das Passwort wäre vielleicht weniger offensichtlich, überlegte Jasper und erinnerte sich an die fanatischen Stimmen die in einem orgastischen Chor den träumenden Alten anbeteten. Und da kam Jasper der Gedanke: R’lyeh. Der Bildschirm wurde kurz schwarz und dann erschienen das Hintergrundbild und die Kacheln der Apps. Er war drin! Jasper durchsuchte das Handy akribisch, fand aber nichts Verdächtiges. Er begann schon aufzuatmen, als er die Galerie-App öffnete, und sein Herz einen Schlag aussetze.

Panisch fuhr er sich durch sein ordentlich gekämmtes, halblanges schwarzes Haar und starrte dabei gebannt auf die Fotos. Sie zeigten ihn! Vor circa einer Woche in Leipzig. Es waren unspektakuläre, leicht verwackelte Aufnahmen aber sie machten eine erschütternde Erkenntnis deutlich: Der Kult wusste wo er war! Sie waren ihm auf der Spur und sie waren nah! Schockiert starrte er das unheilvolle Gerät an. Er dachte nur an seine Vergangenheit, seinen jüngsten Fehler, der sein Leben veränderte und ihn vom Jäger zum Gejagten gemacht hatte. Was wäre, wenn sie ihn genau jetzt beobachteten? Wenn sie sein Diebesgut bereits gefunden hätten? Dann wäre er so gut wie tot!

Jasper sprang unvermittelt auf, stieß dabei den Stapel Smartphones um und begann, ein paar Sachen in einen schwarzen, leicht ausgefransten Rucksack zu werfen.

Wie hatten sie ihn so schnell finden können? Wie viele Jünger des Tintenfischgottes waren gekommen, um ihren heiligen Schatz zurückzuerobern? Gehetzt hob er den Blick und starrte durch die halbdurchlässigen Vorhänge, die er stets geschlossen hielt. Stumme Hausfassaden, die ihre besten Tage bereits jahrelang hinter sich hatten, starrten zurück. Panisch zog er den Reißverschluss des halb befüllten Rucksacks zu und schlüpfte in seine Schuhe und den Mantel. Dann öffnete er die Wohnungstür und verließ die Absteige ohne sie eines letzten Blickes zu würdigen.

Leichter Schneefall hatte eingesetzt, der vom Wind erbarmungslos durch die Häuserschluchten getrieben wurde und Jasper stetig peinigte. Doch er spürte die Kälte und Nässe nicht, während er entschlossen durch den angrenzenden, verlassenen Park schritt. Die Sonne begann bereits unterzugehen und Dunkelheit legte sich über die Stadt. Er hatte diesen Ort so sorgfältig ausgewählt und hatte naiv angenommen, dass sie ihn hier nicht finden würden. Die Stadt war übersichtlich genug um schnell zurecht zu kommen, aber immer noch groß genug, um anonym zu bleiben.

Vielleicht hätte er sich doch den zahllosen, gleich aussehenden Fußballfans anschließen sollen. Stattdessen hastete er durch den Park auf die verlassene Kirche zu, die von zahlreichen Graffitis und den Wetterbedingungen entstellt worden war. Jasper bahnte sich seinen Weg sicheren Schrittes. Behände kletterte er durch die Ruine Richtung Kirchturm, wobei ihm das regelmäßige Training, das seine Muskel gestählt hatte, zugutekam. Im Giebel angekommen, löste er routiniert ein paar Bodenplatten und förderte einen in ein Wachstuch geschlagenen Gegenstand zutage. Fast liebevoll strich er darüber, während der Schnee durch die kaputten Fenster drang. Er dachte zurück, an seinen großen Coup, der mehr seinem Selbstvertrauen als allem anderen gedient hatte.

Einen ominösen Kult hatte er an der Atlantikküste aufgespürt. Wie andere Religionen und Sekten auch, beteten die Kultisten ihren Götzen an, dem sie nahe sein wollten. Sie opferten ihm Reichtümer und wohl auch Leben. Doch das interessierte Jasper damals wenig… Er fühlte sich unbesiegbar, nachdem die Presse über seine Diebstähle berichtet hatte und er als „unfassbar“ eingestuft worden war. Er wollte das heiligste und unabdingbare Relikt dieser Fanatiker stehlen: die Maske.

Denn nur damit konnte ihr Prophet, der nichts anderes als ein Medium war, Kontakt zu ihrem heiligen Alten aufnehmen. Einem Wesen, dem die bedrohliche und angsteinflößende Maske nachempfunden war: Sie war mit Schuppen bedeckt, die im Licht des aufgehenden Mondes verführerisch schimmerten. Ledern wirkten die unästhetischen Tentakel, die sich wie ein Bart um das Kinn wandten. Angewidert betrachtete er das hässliche Relikt und fragte sich, was diese Verrückten nur daran fanden, dass sie ihn von den Pyrenäen bis in die ehemalige DDR verfolgt hatten.

Jasper drehte sie in seinen Händen hin und her. Die Innenseite schien staubbedeckt zu sein, denn er sah eine dünne Schicht, die auf seinen Fingerspitzen schimmerte. So richtig konnte er die Fanatiker nicht verstehen – noch weniger als die Fußballfans. Was war so außergewöhnlich daran? Langsam führte er die Maske zum Gesicht. Der Staub rieselte auf sein Gesicht und zu Boden. Jasper wusste nicht warum, aber er wollte die Motive seiner Jäger verstehen. Zögerlich drückte er sie gegen Stirn, Wangen und Kinn und blickte sich im Kirchturm um. Würde er jetzt den abscheulichen Tintenfischgott des Kults sehen?

Genervt nahm er die das Gottesabbild ab und wickelte es erneut in das Tuch. Was für ein Mist, dachte Jasper wütend, während die Dunkelheit ihn immer weiter einhüllte. Eine Wolke war vor den Mond gezogen und die Umgebung wurde undurchdringlich. In diesem Moment entdeckte er eine Gestalt am anderen Ende des Turmes. Erschrocken sog er die Luft ein, rückte gegen die verfallene Wand des Turmes und starrte den Schemen an.

Immer deutlicher schälte sich ein Umriss aus der Dunkelheit und Jasper glaube, den Gestank toten Fischs wahrzunehmen. Das Gesicht schien unmenschlich, wie Schlangen oder Tentakel um die Fratze zuckten und ein Eigenleben führten. Bedrohlich richteten sie sich auf und zischten.

Jasper schluckte, doch sein Mund war ausgetrocknet. Panisch tastete er nach seinem Rucksack, während er den Schemen fest im Blick behielt. Dann fand er, was er gesucht hatte und zielte mit der Waffe auf ihn. „Verschwinde!“, rief er mit einer rauen, gebrochenen Stimme, die nicht seine eigene zu sein schien. Mit diesen Worten drückte er mehrfach ab und der Schemen verschwand vor seinen Augen, während die Schüsse unerträglich laut durch die Kirchenruine hallten.

Jaspers Herz schlug ihm bis zum Hals, während er den Rucksack mit der kostbaren Fracht schulterte und die Waffe in seine Manteltasche steckte. So würde sie sich zwar sichtbar abzeichnen, aber dieses Risiko musste er eingehen, wenn er sich gegen die Hirngespinste und Tricks der Kultisten erwehren wollte. Entschlossen schritt er durch die Ruine und schlug wütend gegen die flatternden Reste einer Abdeckplane, die vom Wind unsanft hin und her bewegt wurde.

Er rannte, als er die Kirche verließ. Doch wohin? Diese Frage spukte durch seinen Kopf und verdrängte alle anderen Gedanken. Ein Auto klauen und abhauen? Die Bullen wollte er nicht auch noch am Hals haben. Der Zug? Ja, der Zug, beschloss Jasper und begann, schnell Richtung Hauptbahnhof zu laufen. Währenddessen nutzte er das Handy seines Opfers, um eine passende Zugverbindung zu finden. Sie musste unauffällig sein und weiter Richtung Osten führen. Weg von den Wahnsinnigen. Er entschied sich für einen Nachtzug Richtung Prag, der in circa dreißig Minuten fahren würde und zertrümmerte anschließend das Handy. Er ließ es durch eine Rinne in den Abfluss fallen und setzte seinen Weg fort – gejagt von dem Gedanken an die Anhänger des Kultes, die ihm auf den Fersen waren.

 

Der Zug bestand aus verblichen-blauen Wagons. Die kleinen, eckigen Fenster waren mit Außenjalousien ausgestattet, die überwiegend geschlossen waren. Als er einstieg, bemerkte Jasper, dass es leicht muffig roch und die meisten Kabinen geschlossen waren. Auf dem engen Flur war es sehr still und Jasper suchte verzweifelt nach seiner Kabine. Er hatte das ganze Bargeld für eine Einzelkabine ausgegeben – schließlich brauchte er seine Privatsphäre. Erleichtert atmete er aus, als er sein Abteil fand, eintrat und die Tür leise hinter sich schloss. Vorher schaute er nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass er allein war. Es war niemand zu sehen. Aus Sicherheitsgründen verzichtete er sogar darauf, das Licht anzuschalten und wartete stattdessen, bis sich seine Augen an die schummrige Dunkelheit gewöhnt hatten.

Das Abteil war ähnlich verbraucht und abgenutzt wie das Äußere des Zuges. An den Wänden standen zwei Doppelstockbetten aus Metall, die fest verschraubt und immerhin frisch bezogen waren. Es waren nur schäbige Laken auf einer hauchdünnen Matratze, aber Bequemlichkeit hatte Jasper nicht erwartet. Er zerrte zwei wollene Überdecken von den Betten und schlang sie sich um die Schultern, während er sich neben dem Fenster auf dem unteren Bett niederließ. Mit dem Blick Richtung Tür umklammerte er den Rucksack und hielt die Waffe so lange entsichert in der Hand, bis ein Pfiff ertönte und der Zug den Bahnhof verließ.

Noch lange verharrte Jasper in der Position und dachte über die letzten Stunden nach und wie schnell alles eskaliert war. Der Kult verfolgte ihn seit Monaten – seit er ihnen ihr höchstes Heiligtum aus der versteckten Höhle an der Atlantikküste gestohlen hatte. Und trotz seiner Vorsicht hatten sie ihn nun in Leipzig gefunden – schneller als erwartet.

Um unentdeckt zu bleiben, hatte Jasper seinen Namen und seine Vergangenheit aufgegeben – alles, was ihn auszeichnete. Nun war er ein gejagter Namenloser, der in einem Zug ins Nirgendwo saß. Und das alles nur wegen dieser dummen, wertlosen Maske. Erbost zerrte er sie erneut aus dem Rucksack und die Augenschlitze wirkten in der Dunkelheit undurchdringlich. Der Prophet nutzte sie, um Kontakt zu ihrem uralten, unheiligen Gott aufzunehmen, was sie wertvoll machte. Deswegen war sie seinem Antlitz nachempfunden.

Lächerlich!, sagte sich Jasper wütend und starrte weiterhin gebannt auf das Diebesgut. Vorhin hatte ihm seine Angst einen Streich gespielt, dessen war er sich sicher. Und das konnte er beweisen. Er führte sein Diebesgut erneut zum Gesicht und blickte durch die Augenschlitze. Er blinzelte das staubige Pulver weg und die Dunkelheit schien noch dunkler zu werden, als würde die Maske jeden Lichtstreif aufsaugen und nur Finsternis und Kälte zurücklassen. Jasper fröstelte und packte seinen Schatz wieder weg. Als er den Blick von seinem Rucksack hob, bemerkte er, dass seine Kabinentür einen Spalt offen stand. Hatte er vergessen, sie ordentlich zu schließen? Oder war der Schließmechanismus kaputt? Solche Patzer passten eigentlich nicht zu ihm. Vorsichtig erhob er sich, steckte seinen Schatz zurück und entsicherte die Waffe. Er schob seinen Kopf in den Flur und blickte nach rechts und links. Da erschrak Jasper so heftig, dass er die Waffe fast fallengelassen hatte. Dort stand jemand am anderen Ende des Ganges! Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen, doch es sah so aus, als würde der Mann einen schwarzen Umhang tragen. So wie es der Kult tat! Sein Gesicht lag im Schatten.

Nein, redete Jasper sich ein, während er den Kopf langsam in das Abteil zurückzog, ohne die Gestalt aus den Augen zu lassen. Es war nur ein Passagier, der einen Wintermantel trug – so wie er selbst. Heftig atmend stand er im Abteil und versuchte, sich an dieser Vorstellung festzuhalten.

Sicher?, fragte eine fremdartige Stimme in seinem Kopf und er erschrak erneut. Panisch rieb er sich die Schläfen. Seine Gedanken mussten endlich schweigen, sonst würde er noch wahnsinnig werden. Ganz ruhig, versicherte er sich selbst. Du überprüfst das jetzt und dann kannst du dich beruhigen.

Mit erzwungener Ruhe öffneten seine zitternden Hände erneut die Tür und er blickte in die Richtung des Fahrgastes. Doch da standen zwei! Nein, drei! Drei Schemen, gesichtslose Gestalten, die auf ihn zukamen. Langsam aber unaufhaltsam schoben sie sich auf ihn zu und schienen dabei keinen Laut zu verursachen.

In diesem Moment setzte erst sein Herz, dann sein Verstand aus. Jaspers Instinkte übernahmen die Kontrolle: Ruckartig zog er sich in die Einsamkeit seines Abteils zurück. Flach legte er sich auf den Boden und schob erst seinen Rucksack und dann sich selbst unter das Bett. Jahrzehnte alter Staub drang ihm in Augen, Nase und Mund und er musste kämpfen, um keinen Laut von sich zu geben. Angsterfüllt und mit tränenden Augen schlug er beide Hände vor das Gesicht und verharrte still.

Warren sie vorbei? Zehn weitere Sekunden ertrug er das Warten, dann konnte er nicht mehr an sich halten. Jasper krabbelte verschmutzt aus seinem Versteck und öffnete langsam die Tür. Es war niemand zu sehen! Also schulterte er den Rest seines alten Lebens und lief in die Richtung, aus der die Gestalten gekommen waren. Sie suchten ihn und gingen Richtung Zugende. Also musste er weiter zum Lokführer! Jasper rannte und öffnete eine kleine mechanische Tür, die zu einem anderen Wagon führte. Er schlüpfe hindurch und die Tür schloss sich, sodass der hintere Teil des Zuges außer Sicht war.

Wohin?, fragte sich Jasper erneut, doch er wusste, dass er nicht viele Alternativen hatte, da er den Zug nicht verlassen konnte. Ängstlich rieb er sich mit feuchten Händen über die Stirn, als könnte er die bösen Gedanken so vertreiben. Ich muss mich erneut verstecken! Zumindest bis zur nächsten Haltestelle.

Also öffnete Jasper leise eine beliebige Kabinentür und blickte hinein. Er brauchte einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Zwei liegende Gestalten schälten sich aus der Finsternis. Er schien die Passagiere nicht geweckt zu haben. Also schob er sich leise durch den Türspalt und schloss die Tür so lautlos wie möglich. Als er das geschafft hatte, atmete Jasper erleichtert aus und wand sich wieder der Kabine zu. In diesem Moment erwachte der Passagier, der in dem rechten, unteren Bett lag, und blickte sich im Raum um. Als sich sein Gesicht Jasper zuwandte, sah er keine menschlichen Züge, keine Überraschung oder Angst, sondern lange Tentakeln, die sich über die Brust des Mannes schlängelten, wie zahllose lebendige Schlangen. Jasper wollte schreien, doch er brachte keinen Laut heraus, als sich die Schlangen von dem Gesichtslosen lösten und auf ihn zu krochen!

Was willst du, hörte er das Ungeheuer fragen. Flucht war sein einziger Gedanke und er stürzte Hals über Kopf aus der Kabine. Prompt lief er einem Menschen in die Arme, der eine dunkle Hose, ein weißes Hemd und darüber eine dunkelblaue Weste trug. Jasper blickte auf und wollte sich für das Auffangen bedanken, als er sah, dass der Schaffner kein Gesicht hatte, sondern eine unheilvolle Maske des Kultes trug.

Kann ich Ihnen helfen?

„Nein!“, schrie Jasper, prallte von dem Mann zurück und rannte weiter. Während er kopflos den Gang des Zuges entlang rannte, ohne zu wissen, was er am Ende tun sollte, erscholl eine blecherne Stimme aus den Lautsprechern: „Nächster Halt…“ Knack.

Nächster Halt was?, fragte sich Jasper panisch und entschied kurzerhand, dass es keine Rolle spielte. Der Zug wurde langsamer und Jasper blieb an der nächsten Tür stehen. Der Knopf verfärbte sich grün und er hämmerte mit aller Gewalt darauf. Ein letzter Blick zurück – kein Schaffner, keine Gestalten, keine Monster. Jasper sprang aus dem Zug, auf den Bahnsteig und schaute sich schnell um. Der Bahnsteig war nur von wenigen Laternen erhellt. Er schien in der Pampa gelandet zu sein.

Rechts oder links? Wohin?

Intuitiv entschied sich Jasper für links und folgte dem Bahnsteig zu einem kleinen Parkplatz. Als der Zug seinen Weg mit einem Rumpeln fortsetzte und in der Nacht verschwand, setzte eine unerträgliche Stille ein. Jeder Atemzug schien unerträglich laut und Jasper hatte den Eindruck, dass man sein Herz noch im nächsten Ort klopfen hören musste. Er versuchte, gleichmäßiger zu atmen, um die Panik niederzukämpfen. Er musste eine Entscheidung treffen.

Angestrengt kniff er die Augen zusammen, doch eine gute, sichere Lösung wollte ihm nicht einfallen. Also lief er wahllos zu einem der geparkten Autos, es war schwarz und hatte nur zwei Türen. Ein Suzuki? Egal. Behände entriegelte er das Fahrzeug, warf den Rucksack auf den Nebensitz, schloss den Motor kurz und raste vom Parkplatz. Er folgte einer einsamen Landstraße und fuhr so schnell, wie es das kleine Auto zuließ.

Der Motor und sein klopfendes Herz hallten in Jaspers Ohren, während ein unerträglicher Kopfschmerz hinter seiner Stirn pulsierte. Kurz kniff er die Augen zusammen und beschloss, alles in Ruhe zu analysieren. Dann würde sich eine logische Erklärung für alles finden lassen. „Der skrupellose Kult hat mich gefunden und sie wollen die Maske zurück. Wenn ich sie ihnen überlasse, werden sie mich dennoch töten, denn ich habe den Propheten bestohlen. Den Mann, dem die Jünger folgen“, sagte Jasper laut zu sich selbst und starrte nebenbei auf die dunkle Straße, die sich wie eine graue Schlange durch Wald und Feld wand. Sein Atem wurde langsamer. „Ich muss ihnen entkommen, indem ich nach Osten fliehe. In Rumänien gibt es weniger Überwachung und es liegt weit von der Atlantikküste entfernt“, fuhr Jasper fort, da er die positive Wirkung des Selbstgesprächs fühlte. Sein Blick wanderte zu dem Rucksack auf dem Beifahrersitz und er kramte den Grund für die Misere mit einer Hand heraus. „Was ist an dir nur so besonders“, fragte er den leblosen Gegenstand in seiner Hand. Er befühlte das Holz und die kunstvollen Schnitzereien der Schuppen und Tentakel. Solche Tentakel hatte auch der Mann im Zug gehabt, dachte Jasper, während seine Finger den verschlungenen Pfaden der ledrigen Fangarme folgte. Das weiße Pulver, das sich dabei erneut von der Maske löste, wischte Jasper ungeduldig an seiner Hose ab. Die Berührung tat gut und in Jasper wuchs das unerklärliche Verlangen, die Maske erneut zu seinem Gesicht zu führen. Ohne einen logischen Grund dafür finden zu können, folgte er dem unwiderstehlichen Drang und drückte das Antlitz des Fischgottes auf sein vernarbtes Gesicht.

„Meine Fantasie hat mir einen Streich gespielt“, sagte er laut – aber seine Stimme klang weniger sicher als zuvor. Dennoch packte er das verwunschene Ding zurück, ohne dem Drang verstehen zu können – und zu wollen.

In diesem Moment wurde er abgelenkt, denn ein helles Licht erschien im Rückspiegel. Ein Auto hinter ihm hatte das Fernlicht eingeschaltet, blendete ihn und holte immer weiter auf. Wer fuhr so rücksichtslos? Jasper blickte auf den Taro: „Ich fahre schon 50 km/h zu schnell. Wer rast so, es sei denn, er will…“. Mitten im Satz brach er ab und das Gefühl aus dem Zug war schlagartig zurück: die Panik. Der Schweiß stand Jasper auf der Stirn, als er das Gaspedal durchtrat und dabei immer wieder versuchte, im Rückspiegel etwas zu erkennen.

Aber der fremde Wagen klebte ihm an der Stoßstange und blendete ihn gnadenlos mit dem Fernlicht. Straßenschilder wiesen auf eine scharfe Kurve hin und verlangten 70 km/h. Aber Jasper ignorierte sie und jagte mit unglaublicher Geschwindigkeit um die Kurve – in der Hoffnung, seinem Verfolger würde der Mut dazu fehlen.

Falsch gedacht, sagte eine Stimme in seinem Kopf – seine Stimme? Mit seiner rechten Faust schlug er gegen seinen Kopf und versuchte, sie zu vertreiben. Da kam ihm ein Gedanke: Verstecken! Schließlich hatte das bisher ganz gut funktioniert…

Fieberhaft suchte Jasper den rechten Straßenrand ab, als ihm ein unscheinbares Schild, das einen kleinen Feldweg auswies, wie gerufen kam. Die Zufahrt lag hinter einer weiteren Kurve und so bremste Jasper ruckartig ab und jagte in den Waldweg. Augenblicklich schaltete er alle Lichter aus und fuhr in Schritttempo tiefer in den Wald. Als sein Wagen, glücklicher Weise schwarz wie die Nacht, hinter der Baumgrenze verschwunden war, schaltete er den Motor ab und lauschte.

Nichts.

Er blickte in den Rückspiegel und wartete auf die Lichter des Verfolgers. Nichts. Vielleicht war er schon vorbei, als Jasper noch fuhr. Oder er stand direkt hinter ihm. Jasper duckte sich weiter in den Fahrersitz hinein und zog den Kopf ein. Er musste den Wagen zurücklassen, schließlich konnte er nicht blind durch den Wald fahren und mit Licht war er zu auffällig. Also tastete er nach seinem Rucksack und der Maske. Anschließend schälte er sich langsam aus dem Wagen und schaute sich um. Niemand war weit und breit in Sicht. Also schulterte er sein Gepäck, das sein schweißnasses T-Shirt gegen seinen Rücken drückte. Jasper fühlte die Kälte und den Schnee nicht, der sich in diesem Wald dreißig Zentimeter auftürmte.

Schnaufend bahnte er sich seinen Weg, schlug Äste zur Seite, sprang über umgestürzte Bäume und zugefrorene Bäche. Schwer atmend blickte er sich um und suchte den Schnee nach Fußspuren und den Wald nach verdächtigen Schatten ab. Seine Fantasie begann, ihm Streiche zu spielen. Hier knackte ein Ast. Da knirschte der Schnee. Und immer wieder tauchten verschwommene Schemen zwischen den Bäumen auf, die Kultisten sein konnten. Jasper rieb sich die Augen und sie verschwanden. Sie verschwanden jedes Mal und kamen dann nach einigen Augenblicken zurück. Dieses nervige Pulver, der Staub von der alten Maske, juckte überall an seinen Händen und im Gesicht. Doch inzwischen hatte Jasper das Jucken und die Schatten als Weggefährten akzeptiert und beruhigte sich damit, dass man sie hören müsste, wenn sie echt wären.

Und in diesem Moment spürte er warmen Atem in seinem Nacken und das typischen Knirschen des Schnees, wenn schwere Stiefel auf ihm laufen. Aber er stand! „Scheiße“, hauchte er und begann zu rennen. Jasper wagte es nicht, sich umzudrehen. Er spürte das Grauen direkt hinter sich und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Er hatte Angst, es könnte ihn direkt hier, in diesem einsamen Wald, verschlingen. Also rannte er. Seine Lunge brannte, seine Füße waren taub und mochten langsam erfrieren, doch es war ihm egal. Er dachte nur an die Flucht und den finsteren Weg vor sich.

Und da, ganz plötzlich, erschien ein warmer Lichtschein zwischen den Bäumen. Wie ein wärmendes Feuer, flackerte dieses kleine Licht. Und damit kannte Jasper sein Ziel: Dort mussten Menschen sein und die konnten ihm helfen – oder ihm zumindest die Hirngespinste austreiben. Also rannte er auf das Licht zu – und während er der Zivilisation, ja, der Vernunft, immer näher kam, wurden die Schritte hinter ihm langsamer. Das ließ Jasper noch schneller rennen. Er achtet nicht auf Zweige, die ihm ins Gesicht peitschten und auf Dornen, die ihm die Arme zerkratzten. Stattdessen rannte er um sein Leben, so schnell, wie er niemals zuvor gerannt war.

Und dann brach er unvermittelt durch die Bäume und fand sich auf einer Lichtung wieder. Während er versuchte, sich zu sammeln und den Menschen mit seinem Auftauchen keine Herzattacke zu verpassen, hielt er unvermittelt inne, als ihm ein existentieller Gedanke kam: Habe ich die Maske? Wo ist sie?

Hektisch riss er sich den Rucksack von den Schultern, zerrte am Reißverschluss, der sich im Stoff der Tasche verklemmt hatte. Wütend schrie er auf – er schrie seine Verzweiflung heraus und zerriss den Reißverschluss. Wohlbehalten lag sie da, auf seinen Wertsachen, dem Rest seines Lebens. Er barg sie aus dem Rucksack und strich liebevoll über die Schuppen, welche im Mondschein glänzten und ihre Farbe zu verändern schienen. Für einen Moment vergaß Jasper alles um sich herum und legte seine unbezahlbare Maske an die Brust. Vorsichtig schob er sie unter Mantel und Pullover, damit er sie nicht verlieren konnte. Erst dann wurde ihm seine Situation bewusst und er klemmte sich den kaputten Rucksack unter den Arm und schritt auf die Fenster der kleinen Blockhütte zu.

Sie sah aus wie eine kleine Ferienhütte für einfache Leute. Vielleicht war sie sogar von einem Jäger eigenhändig erbaut worden, damit er einen Rückzugsort hatte, wenn er im Wald nächtigte. Jasper wusste es nicht, aber die Wärme, die den Schnee rund um die Hütte schmolz, zog ihn an. Er näherte sich langsam und vernahm Stimmen aus dem Inneren. Sie sprachen gedämpft und er konnte sie nicht verstehen. Als er am Fenster angelangt war, spähte er hinein, um sich einen Überblick zu verschaffen – so viel Verstand war ihm gerade noch geblieben.

Aber als er hineinschaute, sah er nicht den großen, dampfenden Suppentopf auf dem Tisch. Er sah auch nicht den kleinen Dackel, mit dem roten Halsband, der vor einem wärmenden Kamin lag und leise schnarchend schlief. Die Spielsachen der Kinder, die auf dem Boden verstreut waren, nahm er ebenso wenig wahr wie die schlichten Gemälde und die große hölzerne Uhr an der Wand.

Was er sah, war ein abartiges und perverses Bild der Realität: das personifizierte Grauen! Dort saßen keine Menschen bei Tisch, sondern blasse, blutleere Gestalten die ihn mit entstellten Fratzen anstarrten. Einer hatte Tentakeln, die Haut des anderen schien aus Leder zu bestehen und das Wesen gegenüber war übersät von schaurigen Schuppen. Statt Fingern hatten sie Krallen und ihre Münder entblößten ekelhafte, spitze Zähne. Jasper taumelte schockiert zurück, als erneut diese Stimme, die nun doch schon irgendwie zu ihm gehörte, in seinem Kopf ertönte: Du kannst uns nicht entkommen.

Diese unheimliche Stimme überlagerte alles: auch das Lachen der Kinder und die Gespräche der Erwachsenen im Inneren des Hauses.

Damit löste sich Jaspers Starre, er ließ den Rucksack fallen und rannte los. Er überquerte die Lichtung, die Blicke der Monster im Nacken. Er rannte schneller, schneller, hörte ein verzerrtes, irres Lachen hinter sich. Nein, nein, nein, dachte Jasper und schlug Äste beiseite. Dennoch peitschten sie ihm ins Gesicht, er bleib an einer Wurzel hängen, stürzte. Hart landete Jasper auf einem Stein und die Maske knackte bedrohlich unter seiner Last.

Nicht mein einziger Schatz, schoss es ihm durch den Kopf und er zerrte sie unter seinem Pullover hervor. Er stülpte den Halteriemen über seinen Kopf, schob das tentakelbesetzte Antlitz des großen Alten vor sein Gesicht und setzte die Flucht fort. Feiner, weißer Staub rieselte sachte von der Maske in seine Augen, aber er rannte einfach weiter, außer Atem stolperte er durch das Gebüsch und hörte dabei stets Schritte hinter sich. Schwere Schritte, schnelle Schritte und einen warmen Luftzug, als würde jemand in seinen Nacken atmen. Ein feuchter, nach verwesendem Fisch stinkender Hauch.

Seine Sicht wurde von den hölzernen Augenschnitzen behindert und so sah er den kleinen Abhang nicht, der direkt vor ihm lag. Jaspers Füße traten ins Leere und begleitet von einem körperlosen Gelächter, das ihm irgendwie bekannt vorkam, fiel er den Hang hinunter. Er rollte und verhedderte sich in seinem Mantel. Nichts war wichtig, er musste nur die Maske schützen. Schließlich blieb er liegen und fand sich an einem kleinen See wieder, der von Bäumen umsäumt mitten im Nirgendwo stand.

Jasper rappelte sich auf, streifte den zerrissenen Mantel, ein letztes Überbleibsel seines alten Selbst, ab und schleppte sich so gut er konnte zum Ufer. Hier war das Wasser gefroren und die Oberfläche war so spiegelglatt, dass man den Mond darin genau erkennen konnte. Langsam schob Jasper sein Gesicht über den zugefrorenen, spiegelglatten See und erblickte darin sein eigenes Spiegelbild: Ein gebrochener Mann mit Schuppen, lederner Haut und zuckenden Tentakeln.

 

Der Prophet stand in der Mitte seiner Jünger in einer verborgenen Höhle des Kults. Die Wellen des atlantischen Ozeans, die gegen die Klippen schlugen, schwappten schmatzend in die Grotte. Zahlreiche Fackeln spendeten ein fahles Licht, während er zur Mitte schritt, die heilige Truhe öffnete und die Maske barg, die es ihm ermöglichte, mit dem träumenden Alten zu sprechen. Der Lichtschein wurde von seiner teuren, goldenen Uhr reflektiert, die seinen erhabenen Status gegenüber der anonymen Masse lechzender Jünger unterstrich.

Er nahm den größten Schatz und drehte sich zur Gemeinschaft des Kults um. Die Jünger trugen die schwarzen Umhänge und einheitlichen Masken, die mit vielen Schuppen bedeckt waren. Der eine sah aus wie der andere.

„Wir wollen unseren neuen Jünger begrüßen und zu dem beten, den wir verehren“. Sein Blick fiel auf den Neuzugang, dessen Name einmal Jasper gewesen war, und er lächelte in dem Wissen, gesiegt zu haben. Er war nun einer von vielen, ein Teil der Massenbewegung, um den Einen zu ehren. Zärtlich strich er über die Maske und merkte, wie sich die Symptome des Entzugs durch die Berührung der bewustseinserweiternden Substanz langsam verflüchtigten.

Dann schob er sie vor sein Gesicht, spürte die einsetzende, berauschende Wirkung des Stoffes und begann ehrfürchtig das Gebet: „ph’nglui mglaw’nfh Cthulhu R’ley wgah’nage fhtagn“. Und seine Jünger echoten im Chor: „In seinem Haus in R’lyeh wartet tot der träumende Ctulhu“.

 

 

 

 

Nachwort: Ctulhu geht in seiner unheimlichen Unbestimmtheit auf den Autor H.P. Lovecraft zurück und wurde seit seinem Entstehen von verschiedenen Autoren verwendet, um Alpträumen ein Gesicht zu geben. Die Idee um Jasper stammt von meinem Verlobten Dorian Ammer.

Die einzelnen Menschen verschwammen zu einer großen unförmigen Masse. Jasper betrachtet dieses wogende Meer, bestehend aus unzähligen Fußballfans mit ihren gleichen Schals und Trikots – ihrer Uniform gewissermaßen. Abwertend schüttelte er den Kopf; für einen Mann wie ihn war es unverständlich, wie Menschen ihre Individualität aufgeben konnten, um einer gleichförmigen Masse anzugehören. Doch dieses Phänomen beobachtete Jasper immer wieder: Sei es Fußball oder eine andere Sportart. Farben eines Landes, die die Menschen vereinheitlichten oder Modetrends, die die Schäflein einheitlich schoren.

Er wand sich ab und überquerte den Augustusplatz, wodurch er die Fanmasse hinter sich ließ. Johlend zogen sie durch das beschauliche und doch anonyme Leipzig, um ihre Helden in den gleichen Farben anzufeuern. Im Gegensatz zu den Fans wollte er um keinen Preis auffallen… Bei diesem Gedanken lief es selbst einem Mann wie Jasper eiskalt den Rücken herunter. Er knackte mit den Fingerknöcheln und rieb die kalten Hände. Es hatte zwar im Osten Deutschlands nicht geschneit, doch die Luft war kalt und er zog den Wintermantel enger um seine Schultern. Trotz der Kälte hatte er auf Handschuhe verzichtet, da sie seine Arbeit behindern würden. Aus dem gleichen Grund war sein Mantel eng geschnitten und sein grauer Schal um Kinn und Mund gebunden. Durch seinen warmen Atem waren die Ränder des Schals leicht feucht geworden, doch sein Gesicht zu verdecken war wichtiger als solche Unannehmlichkeiten.  Mit gespielter Gelassenheit überquerte er die große Kreuzung und ging auf die Alte Post zu, die in den letzten Jahren zu einem Mehrzweckgebäude umgebaut worden war und nun ein Fitnessstudio, ein Restaurant und diverse Büroräume beinhaltete. Seit einigen Minuten folgte er unauffällig einem sehr elegant gekleideten Mann, dessen Kleidung die teuersten Markenlogos schmückten. Denn auch wenn er sich nicht um seinetwillen für Mode interessierte, so war sie doch ein hilfreicher Anhaltspunkt, um die großen Fische zu erkennen. Als wäre die goldene, klischeehafte Rolex am Handgelenk des Fremden nicht Hinweis genug gewesen. Der Kerl hatte sogar extra seinen linken Ärmel hochgekrempelt, um dieses Symbol des Reichtums zur Schau zu stellen.

Jasper atmete tief durch und beschleunigte seinen Schritt, als wollte er die Bahn an der gegenüberliegenden Haltestelle erreichen; er holte sein Opfer genau in dem Moment ein, als dieser sich zwischen einer Gruppe rücksichtsloser Schulkinder hindurchzwängen musste, um die andere Straßenseite zu erreichen. Geschickt ließ Jasper seine Hand in die Manteltaschen des Mannes gleiten, erfasste alle Gegenstände und zog mit routinierter Sicherheit ein Smartphone und eine Brieftasche hervor. Entspannt ließ er sich erneut zurückfallen und tat so, als würde er sich über die verpasste Straßenbahn ärgern, die gerade an der Haltestelle abfuhr. Dann wand er sich ab und ging die Dresdner Straße entlang, um sich zu seiner aktuellen Absteige im Osten Leipzigs zu begeben. Die große, mehrspurige Straße zog sich vom Zentrum bis weit in den Osten – durch verschiedene Viertel, wobei die meisten von wenig wohlhabenden Menschen bewohnt waren. Der Osten gefiel ihm einfach wesentlich besser als der Westen – im Allgemeinen gesprochen.

 

Als Jasper die Tür seiner anonym gemieteten Einzimmerwohnung öffnete, streift er die Stiefel achtlos ab und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden, um seine heutige Beute unter die Lupe zu nehmen. Es hatte eine Zeit gegeben, als er auf solche Kleinigkeiten wie Taschendiebstahl hatte verzichten können – eine Zeit, in der er zu den gefragtesten Auftragsdieben der Welt gehört hatte… Doch das war lange vorbei. Inzwischen wohnte er in einer Absteige, schlief auf einer Pritsche und unter einer fleckigen Zimmerdecke.

Die Brieftaschen leerte er routiniert aus und pfefferte Karten, Fotos und ähnlichen wertlosen Nippes achtlos in den Müll. Das Bargeld steckte er ein. Ein paar Euro waren immerhin rumgekommen. Doch vielversprechender waren die erbeuteten Smartphones. Nachdem er die Wohnung in dieser Gegend gegen Vorlage eines fetten Bündels Bargeld ohne persönliche Angaben angemietet hatte, war ihm schnell bewusst geworden, dass das Verschieben gestohlener Waren auf der Eisenbahnstraße am leichtesten war. Er begann, die Sim-Karten zu entfernen und die Telefone für den Hehler einzutüten. Bei dem letzten Gerät, dass er dem eingebildeten Rolex-Typen abgezogen hatte, stockte er und starrte den Display entgeistert an.

Dieses Hintergrundbild… Wie konnte das sein?  Das durfte nicht sein!

Den Sperrbildschirm schmückte ein mit Tinte gezeichnetes Symbol, dass ihn in seine dunkle Vergangenheit katapultierte. Es stellte ein aufgeschlagenes Buch dar, vor dem der Kopf eines Mannes angedeutet war – sofern man die entstellte Fratze mit Tentakeln überhaupt als menschlich bezeichnen konnte. Nur wenige Details waren dargestellt, wodurch sein sonst so klarer Verstand voreilige Schlüsse ziehen wollte: der Kult! Der Kerl mit der Rolex musste dieser Gruppe Gottesanbetern angehören!

Jasper zwang sich, tief durchzuatmen. Das konnte auch alles ein großer Zufall oder ein kranker Streich des Schicksals sein. Er musste das Handy genauer überprüfen. Also öffnete er eine seit langem verschlossene Tür in seinem Gedächtnis und probierte Stichworte aus, die der rätselhafte Kult als Passwort verwenden könnte: große Alte, Abdul Alhazred, Necronomicon. Nichts. Weder der Autor ihrer heiligen Schrift, Abdul Alhazred, noch andere Kult-Begriffe lieferten ein Ergebnis.

Er kratzte sich am Kopf. Das Passwort wäre vielleicht weniger offensichtlich, überlegte Jasper und erinnerte sich an die fanatischen Stimmen die in einem orgastischen Chor den träumenden Alten anbeteten. Und da kam Jasper der Gedanke: R’lyeh. Der Bildschirm wurde kurz schwarz und dann erschienen das Hintergrundbild und die Kacheln der Apps. Er war drin! Jasper durchsuchte das Handy akribisch, fand aber nichts Verdächtiges. Er begann schon aufzuatmen, als er die Galerie-App öffnete, und sein Herz einen Schlag aussetze.

Panisch fuhr er sich durch sein ordentlich gekämmtes, halblanges schwarzes Haar und starrte dabei gebannt auf die Fotos. Sie zeigten ihn! Vor circa einer Woche in Leipzig. Es waren unspektakuläre, leicht verwackelte Aufnahmen aber sie machten eine erschütternde Erkenntnis deutlich: Der Kult wusste wo er war! Sie waren ihm auf der Spur und sie waren nah! Schockiert starrte er das unheilvolle Gerät an. Er dachte nur an seine Vergangenheit, seinen jüngsten Fehler, der sein Leben veränderte und ihn vom Jäger zum Gejagten gemacht hatte. Was wäre, wenn sie ihn genau jetzt beobachteten? Wenn sie sein Diebesgut bereits gefunden hätten? Dann wäre er so gut wie tot!

Jasper sprang unvermittelt auf, stieß dabei den Stapel Smartphones um und begann, ein paar Sachen in einen schwarzen, leicht ausgefransten Rucksack zu werfen.

Wie hatten sie ihn so schnell finden können? Wie viele Jünger des Tintenfischgottes waren gekommen, um ihren heiligen Schatz zurückzuerobern? Gehetzt hob er den Blick und starrte durch die halbdurchlässigen Vorhänge, die er stets geschlossen hielt. Stumme Hausfassaden, die ihre besten Tage bereits jahrelang hinter sich hatten, starrten zurück. Panisch zog er den Reißverschluss des halb befüllten Rucksacks zu und schlüpfte in seine Schuhe und den Mantel. Dann öffnete er die Wohnungstür und verließ die Absteige ohne sie eines letzten Blickes zu würdigen.

Leichter Schneefall hatte eingesetzt, der vom Wind erbarmungslos durch die Häuserschluchten getrieben wurde und Jasper stetig peinigte. Doch er spürte die Kälte und Nässe nicht, während er entschlossen durch den angrenzenden, verlassenen Park schritt. Die Sonne begann bereits unterzugehen und Dunkelheit legte sich über die Stadt. Er hatte diesen Ort so sorgfältig ausgewählt und hatte naiv angenommen, dass sie ihn hier nicht finden würden. Die Stadt war übersichtlich genug um schnell zurecht zu kommen, aber immer noch groß genug, um anonym zu bleiben.

Vielleicht hätte er sich doch den zahllosen, gleich aussehenden Fußballfans anschließen sollen. Stattdessen hastete er durch den Park auf die verlassene Kirche zu, die von zahlreichen Graffitis und den Wetterbedingungen entstellt worden war. Jasper bahnte sich seinen Weg sicheren Schrittes. Behände kletterte er durch die Ruine Richtung Kirchturm, wobei ihm das regelmäßige Training, das seine Muskel gestählt hatte, zugutekam. Im Giebel angekommen, löste er routiniert ein paar Bodenplatten und förderte einen in ein Wachstuch geschlagenen Gegenstand zutage. Fast liebevoll strich er darüber, während der Schnee durch die kaputten Fenster drang. Er dachte zurück, an seinen großen Coup, der mehr seinem Selbstvertrauen als allem anderen gedient hatte.

Einen ominösen Kult hatte er an der Atlantikküste aufgespürt. Wie andere Religionen und Sekten auch, beteten die Kultisten ihren Götzen an, dem sie nahe sein wollten. Sie opferten ihm Reichtümer und wohl auch Leben. Doch das interessierte Jasper damals wenig… Er fühlte sich unbesiegbar, nachdem die Presse über seine Diebstähle berichtet hatte und er als „unfassbar“ eingestuft worden war. Er wollte das heiligste und unabdingbare Relikt dieser Fanatiker stehlen: die Maske.

Denn nur damit konnte ihr Prophet, der nichts anderes als ein Medium war, Kontakt zu ihrem heiligen Alten aufnehmen. Einem Wesen, dem die bedrohliche und angsteinflößende Maske nachempfunden war: Sie war mit Schuppen bedeckt, die im Licht des aufgehenden Mondes verführerisch schimmerten. Ledern wirkten die unästhetischen Tentakel, die sich wie ein Bart um das Kinn wandten. Angewidert betrachtete er das hässliche Relikt und fragte sich, was diese Verrückten nur daran fanden, dass sie ihn von den Pyrenäen bis in die ehemalige DDR verfolgt hatten.

Jasper drehte sie in seinen Händen hin und her. Die Innenseite schien staubbedeckt zu sein, denn er sah eine dünne Schicht, die auf seinen Fingerspitzen schimmerte. So richtig konnte er die Fanatiker nicht verstehen – noch weniger als die Fußballfans. Was war so außergewöhnlich daran? Langsam führte er die Maske zum Gesicht. Der Staub rieselte auf sein Gesicht und zu Boden. Jasper wusste nicht warum, aber er wollte die Motive seiner Jäger verstehen. Zögerlich drückte er sie gegen Stirn, Wangen und Kinn und blickte sich im Kirchturm um. Würde er jetzt den abscheulichen Tintenfischgott des Kults sehen?

Genervt nahm er die das Gottesabbild ab und wickelte es erneut in das Tuch. Was für ein Mist, dachte Jasper wütend, während die Dunkelheit ihn immer weiter einhüllte. Eine Wolke war vor den Mond gezogen und die Umgebung wurde undurchdringlich. In diesem Moment entdeckte er eine Gestalt am anderen Ende des Turmes. Erschrocken sog er die Luft ein, rückte gegen die verfallene Wand des Turmes und starrte den Schemen an.

Immer deutlicher schälte sich ein Umriss aus der Dunkelheit und Jasper glaube, den Gestank toten Fischs wahrzunehmen. Das Gesicht schien unmenschlich, wie Schlangen oder Tentakel um die Fratze zuckten und ein Eigenleben führten. Bedrohlich richteten sie sich auf und zischten.

Jasper schluckte, doch sein Mund war ausgetrocknet. Panisch tastete er nach seinem Rucksack, während er den Schemen fest im Blick behielt. Dann fand er, was er gesucht hatte und zielte mit der Waffe auf ihn. „Verschwinde!“, rief er mit einer rauen, gebrochenen Stimme, die nicht seine eigene zu sein schien. Mit diesen Worten drückte er mehrfach ab und der Schemen verschwand vor seinen Augen, während die Schüsse unerträglich laut durch die Kirchenruine hallten.

Jaspers Herz schlug ihm bis zum Hals, während er den Rucksack mit der kostbaren Fracht schulterte und die Waffe in seine Manteltasche steckte. So würde sie sich zwar sichtbar abzeichnen, aber dieses Risiko musste er eingehen, wenn er sich gegen die Hirngespinste und Tricks der Kultisten erwehren wollte. Entschlossen schritt er durch die Ruine und schlug wütend gegen die flatternden Reste einer Abdeckplane, die vom Wind unsanft hin und her bewegt wurde.

Er rannte, als er die Kirche verließ. Doch wohin? Diese Frage spukte durch seinen Kopf und verdrängte alle anderen Gedanken. Ein Auto klauen und abhauen? Die Bullen wollte er nicht auch noch am Hals haben. Der Zug? Ja, der Zug, beschloss Jasper und begann, schnell Richtung Hauptbahnhof zu laufen. Währenddessen nutzte er das Handy seines Opfers, um eine passende Zugverbindung zu finden. Sie musste unauffällig sein und weiter Richtung Osten führen. Weg von den Wahnsinnigen. Er entschied sich für einen Nachtzug Richtung Prag, der in circa dreißig Minuten fahren würde und zertrümmerte anschließend das Handy. Er ließ es durch eine Rinne in den Abfluss fallen und setzte seinen Weg fort – gejagt von dem Gedanken an die Anhänger des Kultes, die ihm auf den Fersen waren.

 

Der Zug bestand aus verblichen-blauen Wagons. Die kleinen, eckigen Fenster waren mit Außenjalousien ausgestattet, die überwiegend geschlossen waren. Als er einstieg, bemerkte Jasper, dass es leicht muffig roch und die meisten Kabinen geschlossen waren. Auf dem engen Flur war es sehr still und Jasper suchte verzweifelt nach seiner Kabine. Er hatte das ganze Bargeld für eine Einzelkabine ausgegeben – schließlich brauchte er seine Privatsphäre. Erleichtert atmete er aus, als er sein Abteil fand, eintrat und die Tür leise hinter sich schloss. Vorher schaute er nach rechts und links, um sich zu vergewissern, dass er allein war. Es war niemand zu sehen. Aus Sicherheitsgründen verzichtete er sogar darauf, das Licht anzuschalten und wartete stattdessen, bis sich seine Augen an die schummrige Dunkelheit gewöhnt hatten.

Das Abteil war ähnlich verbraucht und abgenutzt wie das Äußere des Zuges. An den Wänden standen zwei Doppelstockbetten aus Metall, die fest verschraubt und immerhin frisch bezogen waren. Es waren nur schäbige Laken auf einer hauchdünnen Matratze, aber Bequemlichkeit hatte Jasper nicht erwartet. Er zerrte zwei wollene Überdecken von den Betten und schlang sie sich um die Schultern, während er sich neben dem Fenster auf dem unteren Bett niederließ. Mit dem Blick Richtung Tür umklammerte er den Rucksack und hielt die Waffe so lange entsichert in der Hand, bis ein Pfiff ertönte und der Zug den Bahnhof verließ.

Noch lange verharrte Jasper in der Position und dachte über die letzten Stunden nach und wie schnell alles eskaliert war. Der Kult verfolgte ihn seit Monaten – seit er ihnen ihr höchstes Heiligtum aus der versteckten Höhle an der Atlantikküste gestohlen hatte. Und trotz seiner Vorsicht hatten sie ihn nun in Leipzig gefunden – schneller als erwartet.

Um unentdeckt zu bleiben, hatte Jasper seinen Namen und seine Vergangenheit aufgegeben – alles, was ihn auszeichnete. Nun war er ein gejagter Namenloser, der in einem Zug ins Nirgendwo saß. Und das alles nur wegen dieser dummen, wertlosen Maske. Erbost zerrte er sie erneut aus dem Rucksack und die Augenschlitze wirkten in der Dunkelheit undurchdringlich. Der Prophet nutzte sie, um Kontakt zu ihrem uralten, unheiligen Gott aufzunehmen, was sie wertvoll machte. Deswegen war sie seinem Antlitz nachempfunden.

Lächerlich!, sagte sich Jasper wütend und starrte weiterhin gebannt auf das Diebesgut. Vorhin hatte ihm seine Angst einen Streich gespielt, dessen war er sich sicher. Und das konnte er beweisen. Er führte sein Diebesgut erneut zum Gesicht und blickte durch die Augenschlitze. Er blinzelte das staubige Pulver weg und die Dunkelheit schien noch dunkler zu werden, als würde die Maske jeden Lichtstreif aufsaugen und nur Finsternis und Kälte zurücklassen. Jasper fröstelte und packte seinen Schatz wieder weg. Als er den Blick von seinem Rucksack hob, bemerkte er, dass seine Kabinentür einen Spalt offen stand. Hatte er vergessen, sie ordentlich zu schließen? Oder war der Schließmechanismus kaputt? Solche Patzer passten eigentlich nicht zu ihm. Vorsichtig erhob er sich, steckte seinen Schatz zurück und entsicherte die Waffe. Er schob seinen Kopf in den Flur und blickte nach rechts und links. Da erschrak Jasper so heftig, dass er die Waffe fast fallengelassen hatte. Dort stand jemand am anderen Ende des Ganges! Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen, doch es sah so aus, als würde der Mann einen schwarzen Umhang tragen. So wie es der Kult tat! Sein Gesicht lag im Schatten.

Nein, redete Jasper sich ein, während er den Kopf langsam in das Abteil zurückzog, ohne die Gestalt aus den Augen zu lassen. Es war nur ein Passagier, der einen Wintermantel trug – so wie er selbst. Heftig atmend stand er im Abteil und versuchte, sich an dieser Vorstellung festzuhalten.

Sicher?, fragte eine fremdartige Stimme in seinem Kopf und er erschrak erneut. Panisch rieb er sich die Schläfen. Seine Gedanken mussten endlich schweigen, sonst würde er noch wahnsinnig werden. Ganz ruhig, versicherte er sich selbst. Du überprüfst das jetzt und dann kannst du dich beruhigen.

Mit erzwungener Ruhe öffneten seine zitternden Hände erneut die Tür und er blickte in die Richtung des Fahrgastes. Doch da standen zwei! Nein, drei! Drei Schemen, gesichtslose Gestalten, die auf ihn zukamen. Langsam aber unaufhaltsam schoben sie sich auf ihn zu und schienen dabei keinen Laut zu verursachen.

In diesem Moment setzte erst sein Herz, dann sein Verstand aus. Jaspers Instinkte übernahmen die Kontrolle: Ruckartig zog er sich in die Einsamkeit seines Abteils zurück. Flach legte er sich auf den Boden und schob erst seinen Rucksack und dann sich selbst unter das Bett. Jahrzehnte alter Staub drang ihm in Augen, Nase und Mund und er musste kämpfen, um keinen Laut von sich zu geben. Angsterfüllt und mit tränenden Augen schlug er beide Hände vor das Gesicht und verharrte still.

Warren sie vorbei? Zehn weitere Sekunden ertrug er das Warten, dann konnte er nicht mehr an sich halten. Jasper krabbelte verschmutzt aus seinem Versteck und öffnete langsam die Tür. Es war niemand zu sehen! Also schulterte er den Rest seines alten Lebens und lief in die Richtung, aus der die Gestalten gekommen waren. Sie suchten ihn und gingen Richtung Zugende. Also musste er weiter zum Lokführer! Jasper rannte und öffnete eine kleine mechanische Tür, die zu einem anderen Wagon führte. Er schlüpfe hindurch und die Tür schloss sich, sodass der hintere Teil des Zuges außer Sicht war.

Wohin?, fragte sich Jasper erneut, doch er wusste, dass er nicht viele Alternativen hatte, da er den Zug nicht verlassen konnte. Ängstlich rieb er sich mit feuchten Händen über die Stirn, als könnte er die bösen Gedanken so vertreiben. Ich muss mich erneut verstecken! Zumindest bis zur nächsten Haltestelle.

Also öffnete Jasper leise eine beliebige Kabinentür und blickte hinein. Er brauchte einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Zwei liegende Gestalten schälten sich aus der Finsternis. Er schien die Passagiere nicht geweckt zu haben. Also schob er sich leise durch den Türspalt und schloss die Tür so lautlos wie möglich. Als er das geschafft hatte, atmete Jasper erleichtert aus und wand sich wieder der Kabine zu. In diesem Moment erwachte der Passagier, der in dem rechten, unteren Bett lag, und blickte sich im Raum um. Als sich sein Gesicht Jasper zuwandte, sah er keine menschlichen Züge, keine Überraschung oder Angst, sondern lange Tentakeln, die sich über die Brust des Mannes schlängelten, wie zahllose lebendige Schlangen. Jasper wollte schreien, doch er brachte keinen Laut heraus, als sich die Schlangen von dem Gesichtslosen lösten und auf ihn zu krochen!

Was willst du, hörte er das Ungeheuer fragen. Flucht war sein einziger Gedanke und er stürzte Hals über Kopf aus der Kabine. Prompt lief er einem Menschen in die Arme, der eine dunkle Hose, ein weißes Hemd und darüber eine dunkelblaue Weste trug. Jasper blickte auf und wollte sich für das Auffangen bedanken, als er sah, dass der Schaffner kein Gesicht hatte, sondern eine unheilvolle Maske des Kultes trug.

Kann ich Ihnen helfen?

„Nein!“, schrie Jasper, prallte von dem Mann zurück und rannte weiter. Während er kopflos den Gang des Zuges entlang rannte, ohne zu wissen, was er am Ende tun sollte, erscholl eine blecherne Stimme aus den Lautsprechern: „Nächster Halt…“ Knack.

Nächster Halt was?, fragte sich Jasper panisch und entschied kurzerhand, dass es keine Rolle spielte. Der Zug wurde langsamer und Jasper blieb an der nächsten Tür stehen. Der Knopf verfärbte sich grün und er hämmerte mit aller Gewalt darauf. Ein letzter Blick zurück – kein Schaffner, keine Gestalten, keine Monster. Jasper sprang aus dem Zug, auf den Bahnsteig und schaute sich schnell um. Der Bahnsteig war nur von wenigen Laternen erhellt. Er schien in der Pampa gelandet zu sein.

Rechts oder links? Wohin?

Intuitiv entschied sich Jasper für links und folgte dem Bahnsteig zu einem kleinen Parkplatz. Als der Zug seinen Weg mit einem Rumpeln fortsetzte und in der Nacht verschwand, setzte eine unerträgliche Stille ein. Jeder Atemzug schien unerträglich laut und Jasper hatte den Eindruck, dass man sein Herz noch im nächsten Ort klopfen hören musste. Er versuchte, gleichmäßiger zu atmen, um die Panik niederzukämpfen. Er musste eine Entscheidung treffen.

Angestrengt kniff er die Augen zusammen, doch eine gute, sichere Lösung wollte ihm nicht einfallen. Also lief er wahllos zu einem der geparkten Autos, es war schwarz und hatte nur zwei Türen. Ein Suzuki? Egal. Behände entriegelte er das Fahrzeug, warf den Rucksack auf den Nebensitz, schloss den Motor kurz und raste vom Parkplatz. Er folgte einer einsamen Landstraße und fuhr so schnell, wie es das kleine Auto zuließ.

Der Motor und sein klopfendes Herz hallten in Jaspers Ohren, während ein unerträglicher Kopfschmerz hinter seiner Stirn pulsierte. Kurz kniff er die Augen zusammen und beschloss, alles in Ruhe zu analysieren. Dann würde sich eine logische Erklärung für alles finden lassen. „Der skrupellose Kult hat mich gefunden und sie wollen die Maske zurück. Wenn ich sie ihnen überlasse, werden sie mich dennoch töten, denn ich habe den Propheten bestohlen. Den Mann, dem die Jünger folgen“, sagte Jasper laut zu sich selbst und starrte nebenbei auf die dunkle Straße, die sich wie eine graue Schlange durch Wald und Feld wand. Sein Atem wurde langsamer. „Ich muss ihnen entkommen, indem ich nach Osten fliehe. In Rumänien gibt es weniger Überwachung und es liegt weit von der Atlantikküste entfernt“, fuhr Jasper fort, da er die positive Wirkung des Selbstgesprächs fühlte. Sein Blick wanderte zu dem Rucksack auf dem Beifahrersitz und er kramte den Grund für die Misere mit einer Hand heraus. „Was ist an dir nur so besonders“, fragte er den leblosen Gegenstand in seiner Hand. Er befühlte das Holz und die kunstvollen Schnitzereien der Schuppen und Tentakel. Solche Tentakel hatte auch der Mann im Zug gehabt, dachte Jasper, während seine Finger den verschlungenen Pfaden der ledrigen Fangarme folgte. Das weiße Pulver, das sich dabei erneut von der Maske löste, wischte Jasper ungeduldig an seiner Hose ab. Die Berührung tat gut und in Jasper wuchs das unerklärliche Verlangen, die Maske erneut zu seinem Gesicht zu führen. Ohne einen logischen Grund dafür finden zu können, folgte er dem unwiderstehlichen Drang und drückte das Antlitz des Fischgottes auf sein vernarbtes Gesicht.

„Meine Fantasie hat mir einen Streich gespielt“, sagte er laut – aber seine Stimme klang weniger sicher als zuvor. Dennoch packte er das verwunschene Ding zurück, ohne dem Drang verstehen zu können – und zu wollen.

In diesem Moment wurde er abgelenkt, denn ein helles Licht erschien im Rückspiegel. Ein Auto hinter ihm hatte das Fernlicht eingeschaltet, blendete ihn und holte immer weiter auf. Wer fuhr so rücksichtslos? Jasper blickte auf den Taro: „Ich fahre schon 50 km/h zu schnell. Wer rast so, es sei denn, er will…“. Mitten im Satz brach er ab und das Gefühl aus dem Zug war schlagartig zurück: die Panik. Der Schweiß stand Jasper auf der Stirn, als er das Gaspedal durchtrat und dabei immer wieder versuchte, im Rückspiegel etwas zu erkennen.

Aber der fremde Wagen klebte ihm an der Stoßstange und blendete ihn gnadenlos mit dem Fernlicht. Straßenschilder wiesen auf eine scharfe Kurve hin und verlangten 70 km/h. Aber Jasper ignorierte sie und jagte mit unglaublicher Geschwindigkeit um die Kurve – in der Hoffnung, seinem Verfolger würde der Mut dazu fehlen.

Falsch gedacht, sagte eine Stimme in seinem Kopf – seine Stimme? Mit seiner rechten Faust schlug er gegen seinen Kopf und versuchte, sie zu vertreiben. Da kam ihm ein Gedanke: Verstecken! Schließlich hatte das bisher ganz gut funktioniert…

Fieberhaft suchte Jasper den rechten Straßenrand ab, als ihm ein unscheinbares Schild, das einen kleinen Feldweg auswies, wie gerufen kam. Die Zufahrt lag hinter einer weiteren Kurve und so bremste Jasper ruckartig ab und jagte in den Waldweg. Augenblicklich schaltete er alle Lichter aus und fuhr in Schritttempo tiefer in den Wald. Als sein Wagen, glücklicher Weise schwarz wie die Nacht, hinter der Baumgrenze verschwunden war, schaltete er den Motor ab und lauschte.

Nichts.

Er blickte in den Rückspiegel und wartete auf die Lichter des Verfolgers. Nichts. Vielleicht war er schon vorbei, als Jasper noch fuhr. Oder er stand direkt hinter ihm. Jasper duckte sich weiter in den Fahrersitz hinein und zog den Kopf ein. Er musste den Wagen zurücklassen, schließlich konnte er nicht blind durch den Wald fahren und mit Licht war er zu auffällig. Also tastete er nach seinem Rucksack und der Maske. Anschließend schälte er sich langsam aus dem Wagen und schaute sich um. Niemand war weit und breit in Sicht. Also schulterte er sein Gepäck, das sein schweißnasses T-Shirt gegen seinen Rücken drückte. Jasper fühlte die Kälte und den Schnee nicht, der sich in diesem Wald dreißig Zentimeter auftürmte.

Schnaufend bahnte er sich seinen Weg, schlug Äste zur Seite, sprang über umgestürzte Bäume und zugefrorene Bäche. Schwer atmend blickte er sich um und suchte den Schnee nach Fußspuren und den Wald nach verdächtigen Schatten ab. Seine Fantasie begann, ihm Streiche zu spielen. Hier knackte ein Ast. Da knirschte der Schnee. Und immer wieder tauchten verschwommene Schemen zwischen den Bäumen auf, die Kultisten sein konnten. Jasper rieb sich die Augen und sie verschwanden. Sie verschwanden jedes Mal und kamen dann nach einigen Augenblicken zurück. Dieses nervige Pulver, der Staub von der alten Maske, juckte überall an seinen Händen und im Gesicht. Doch inzwischen hatte Jasper das Jucken und die Schatten als Weggefährten akzeptiert und beruhigte sich damit, dass man sie hören müsste, wenn sie echt wären.

Und in diesem Moment spürte er warmen Atem in seinem Nacken und das typischen Knirschen des Schnees, wenn schwere Stiefel auf ihm laufen. Aber er stand! „Scheiße“, hauchte er und begann zu rennen. Jasper wagte es nicht, sich umzudrehen. Er spürte das Grauen direkt hinter sich und konnte ihm nicht in die Augen sehen. Er hatte Angst, es könnte ihn direkt hier, in diesem einsamen Wald, verschlingen. Also rannte er. Seine Lunge brannte, seine Füße waren taub und mochten langsam erfrieren, doch es war ihm egal. Er dachte nur an die Flucht und den finsteren Weg vor sich.

Und da, ganz plötzlich, erschien ein warmer Lichtschein zwischen den Bäumen. Wie ein wärmendes Feuer, flackerte dieses kleine Licht. Und damit kannte Jasper sein Ziel: Dort mussten Menschen sein und die konnten ihm helfen – oder ihm zumindest die Hirngespinste austreiben. Also rannte er auf das Licht zu – und während er der Zivilisation, ja, der Vernunft, immer näher kam, wurden die Schritte hinter ihm langsamer. Das ließ Jasper noch schneller rennen. Er achtet nicht auf Zweige, die ihm ins Gesicht peitschten und auf Dornen, die ihm die Arme zerkratzten. Stattdessen rannte er um sein Leben, so schnell, wie er niemals zuvor gerannt war.

Und dann brach er unvermittelt durch die Bäume und fand sich auf einer Lichtung wieder. Während er versuchte, sich zu sammeln und den Menschen mit seinem Auftauchen keine Herzattacke zu verpassen, hielt er unvermittelt inne, als ihm ein existentieller Gedanke kam: Habe ich die Maske? Wo ist sie?

Hektisch riss er sich den Rucksack von den Schultern, zerrte am Reißverschluss, der sich im Stoff der Tasche verklemmt hatte. Wütend schrie er auf – er schrie seine Verzweiflung heraus und zerriss den Reißverschluss. Wohlbehalten lag sie da, auf seinen Wertsachen, dem Rest seines Lebens. Er barg sie aus dem Rucksack und strich liebevoll über die Schuppen, welche im Mondschein glänzten und ihre Farbe zu verändern schienen. Für einen Moment vergaß Jasper alles um sich herum und legte seine unbezahlbare Maske an die Brust. Vorsichtig schob er sie unter Mantel und Pullover, damit er sie nicht verlieren konnte. Erst dann wurde ihm seine Situation bewusst und er klemmte sich den kaputten Rucksack unter den Arm und schritt auf die Fenster der kleinen Blockhütte zu.

Sie sah aus wie eine kleine Ferienhütte für einfache Leute. Vielleicht war sie sogar von einem Jäger eigenhändig erbaut worden, damit er einen Rückzugsort hatte, wenn er im Wald nächtigte. Jasper wusste es nicht, aber die Wärme, die den Schnee rund um die Hütte schmolz, zog ihn an. Er näherte sich langsam und vernahm Stimmen aus dem Inneren. Sie sprachen gedämpft und er konnte sie nicht verstehen. Als er am Fenster angelangt war, spähte er hinein, um sich einen Überblick zu verschaffen – so viel Verstand war ihm gerade noch geblieben.

Aber als er hineinschaute, sah er nicht den großen, dampfenden Suppentopf auf dem Tisch. Er sah auch nicht den kleinen Dackel, mit dem roten Halsband, der vor einem wärmenden Kamin lag und leise schnarchend schlief. Die Spielsachen der Kinder, die auf dem Boden verstreut waren, nahm er ebenso wenig wahr wie die schlichten Gemälde und die große hölzerne Uhr an der Wand.

Was er sah, war ein abartiges und perverses Bild der Realität: das personifizierte Grauen! Dort saßen keine Menschen bei Tisch, sondern blasse, blutleere Gestalten die ihn mit entstellten Fratzen anstarrten. Einer hatte Tentakeln, die Haut des anderen schien aus Leder zu bestehen und das Wesen gegenüber war übersät von schaurigen Schuppen. Statt Fingern hatten sie Krallen und ihre Münder entblößten ekelhafte, spitze Zähne. Jasper taumelte schockiert zurück, als erneut diese Stimme, die nun doch schon irgendwie zu ihm gehörte, in seinem Kopf ertönte: Du kannst uns nicht entkommen.

Diese unheimliche Stimme überlagerte alles: auch das Lachen der Kinder und die Gespräche der Erwachsenen im Inneren des Hauses.

Damit löste sich Jaspers Starre, er ließ den Rucksack fallen und rannte los. Er überquerte die Lichtung, die Blicke der Monster im Nacken. Er rannte schneller, schneller, hörte ein verzerrtes, irres Lachen hinter sich. Nein, nein, nein, dachte Jasper und schlug Äste beiseite. Dennoch peitschten sie ihm ins Gesicht, er bleib an einer Wurzel hängen, stürzte. Hart landete Jasper auf einem Stein und die Maske knackte bedrohlich unter seiner Last.

Nicht mein einziger Schatz, schoss es ihm durch den Kopf und er zerrte sie unter seinem Pullover hervor. Er stülpte den Halteriemen über seinen Kopf, schob das tentakelbesetzte Antlitz des großen Alten vor sein Gesicht und setzte die Flucht fort. Feiner, weißer Staub rieselte sachte von der Maske in seine Augen, aber er rannte einfach weiter, außer Atem stolperte er durch das Gebüsch und hörte dabei stets Schritte hinter sich. Schwere Schritte, schnelle Schritte und einen warmen Luftzug, als würde jemand in seinen Nacken atmen. Ein feuchter, nach verwesendem Fisch stinkender Hauch.

Seine Sicht wurde von den hölzernen Augenschnitzen behindert und so sah er den kleinen Abhang nicht, der direkt vor ihm lag. Jaspers Füße traten ins Leere und begleitet von einem körperlosen Gelächter, das ihm irgendwie bekannt vorkam, fiel er den Hang hinunter. Er rollte und verhedderte sich in seinem Mantel. Nichts war wichtig, er musste nur die Maske schützen. Schließlich blieb er liegen und fand sich an einem kleinen See wieder, der von Bäumen umsäumt mitten im Nirgendwo stand.

Jasper rappelte sich auf, streifte den zerrissenen Mantel, ein letztes Überbleibsel seines alten Selbst, ab und schleppte sich so gut er konnte zum Ufer. Hier war das Wasser gefroren und die Oberfläche war so spiegelglatt, dass man den Mond darin genau erkennen konnte. Langsam schob Jasper sein Gesicht über den zugefrorenen, spiegelglatten See und erblickte darin sein eigenes Spiegelbild: Ein gebrochener Mann mit Schuppen, lederner Haut und zuckenden Tentakeln.

 

Der Prophet stand in der Mitte seiner Jünger in einer verborgenen Höhle des Kults. Die Wellen des atlantischen Ozeans, die gegen die Klippen schlugen, schwappten schmatzend in die Grotte. Zahlreiche Fackeln spendeten ein fahles Licht, während er zur Mitte schritt, die heilige Truhe öffnete und die Maske barg, die es ihm ermöglichte, mit dem träumenden Alten zu sprechen. Der Lichtschein wurde von seiner teuren, goldenen Uhr reflektiert, die seinen erhabenen Status gegenüber der anonymen Masse lechzender Jünger unterstrich.

Er nahm den größten Schatz und drehte sich zur Gemeinschaft des Kults um. Die Jünger trugen die schwarzen Umhänge und einheitlichen Masken, die mit vielen Schuppen bedeckt waren. Der eine sah aus wie der andere.

„Wir wollen unseren neuen Jünger begrüßen und zu dem beten, den wir verehren“. Sein Blick fiel auf den Neuzugang, dessen Name einmal Jasper gewesen war, und er lächelte in dem Wissen, gesiegt zu haben. Er war nun einer von vielen, ein Teil der Massenbewegung, um den Einen zu ehren. Zärtlich strich er über die Maske und merkte, wie sich die Symptome des Entzugs durch die Berührung der bewustseinserweiternden Substanz langsam verflüchtigten.

Dann schob er sie vor sein Gesicht, spürte die einsetzende, berauschende Wirkung des Stoffes und begann ehrfürchtig das Gebet: „ph’nglui mglaw’nfh Cthulhu R’ley wgah’nage fhtagn“. Und seine Jünger echoten im Chor: „In seinem Haus in R’lyeh wartet tot der träumende Ctulhu“.

 

 

 

 

Nachwort: Ctulhu geht in seiner unheimlichen Unbestimmtheit auf den Autor H.P. Lovecraft zurück und wurde seit seinem Entstehen von verschiedenen Autoren verwendet, um Alpträumen ein Gesicht zu geben. Die Idee um Jasper stammt von meinem Verlobten Dorian Ammer.

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