Maurice RichardsonDer verlorene Zwilling

1

 

Mit schlotternden Beinen betrat er den stickigen kleinen Verhörraum, in dem sich nicht mehr befand, als ein Tisch und zwei Stühle.

Ein Polizeibeamter positionierte sich mit strengem Blick direkt neben der Tür.

Auf Tills Stirn bildete sich ein feuchter Film. Verzweifelt vergrub er das Gesicht in seinen Händen. Wie konnte das alles nur passieren?

Bis vor wenigen Tagen war sein Leben noch in bester Ordnung. Er war doch eben erst in der Bank befördert worden und die standesamtliche Trauung von Kathrin und ihm stand kurz bevor.

Kathrin.

Und was sollten Mama, Papa und Jens nur von ihm denken? Eine einzige heiße Träne rann seine gerötete Wange entlang. Das Gefühl der Verzweiflung paarte sich mit aufgestauter Wut. Er war doch unschuldig… verdammt!

Zwei weitere Beamte betraten den Raum. Ein dickbäuchiger Mann nahm auf dem Stuhl gegenüber von Till Platz.

Die zierliche Frau mit dem blonden Pagenschnitt stellte sich direkt hinter ihren Kollegen und legte wortlos ein bereits laufendes Tonband auf den Tisch. Der füllige Polizist schnaufte so stark, dass sein Oberlippenschnauzer flatterte.
„So, Herr Müller, Sie wären uns wirklich eine große Hilfe, wenn Sie uns jetzt einfach verraten, wo sich das Mädchen befindet. Außerdem raten wir Ihnen
dringend dazu, einen Anwalt hinzuzuziehen. Ihnen werden schwere Tatbestände vorgeworfen“ sagte die Frau. Till verstand gar nichts. Er war unschuldig! Zum Tatzeitpunkt war er im Park eine Runde laufen. Er kannte das Mädchen überhaupt nicht. Wieso hätte er sie entführen sollen? Der Dicke lief hochrot an.

„Ich habe die Faxen so dicke! Rücken Sie jetzt endlich mit der Sprache raus, Müller! WO IST DAS MÄDCHEN?“ Die Frau klatschte mehrere vergrößerte Fotoausschnitte auf den Tisch.

„Jetzt sprechen wir mal Tacheles, Herr Müller. Sie wollen uns also weismachen, dass das nicht Sie auf diesen Bildern sind?“

Till blickte fassungslos auf die Fotografien vor sich. Auf den Ausschnitten der Überwachungskamera war eindeutig sein Gesicht zu erkennen, als er der 17-jährigen Saskia Lindner auf dem Parkplatz ihrer Schule von hinten ein weißes Tuch auf das Gesicht drückte und sie danach aus dem Sichtfeld der Kameras zerrte.

 

2

Einige Tage zuvor

 

“Ich habe die Zusage als Filialleiter in unserer Bank!“

Freudestrahlend fiel er Kathrin in die Arme. Sie wartete bereits mit seinem Lieblingsessen auf ihn.  
„Das ist wunderbar, Schatz! Damit hätte ich ja nie im Leben gerechnet.“ Kathrin verzog ihre Mundwinkel zu einem schrägen Lächeln. Er liebte ihre ironische Art. Kaum hatte sie sich von seiner stürmischen Umarmung gelöst, öffnete sie den Kühlschrank und zog eine Flasche Champagner heraus.

„Deswegen habe ich den hier auch schon kaltgestellt“ sagte sie neckisch.

Unzählige Stunden hatte er auf die Position des Filialleiters hingearbeitet und nun trugen all seine Bemühungen endlich Früchte, er konnte es kaum glauben.

Nach dem leckeren Essen schlug Kathrin vor, noch zur Eisdiele in der Fußgängerzone zu schlendern. Es war ein wunderschöner Sommertag mitten im Juli und Till fühlte sich, als könnte er die ganze Welt erobern. Das Leben hätte es nicht besser mit ihm meinen können.

Kathrin hatte nach einer 18-monatigen Beziehung seinen Antrag angenommen, beruflich lief es nach einer langen Flaute bestens und der Sommer war wärmer und schöner als die Letzten.

In ihrer Stamm-Eisdiele, dem „San Daniele“ fanden sie glücklicherweise sofort einen Platz. Das Café war für die beiden ein ganz besonderer Ort. Dort hatten sie sich vor nahezu zwei Jahren kennengelernt.

Sie kamen durch einen, von der Kellnerin verschütteten, Eisbecher ins Gespräch, verstanden sich auf Anhieb, verabredeten sich noch einige Male und wussten dann, dass diese Beziehung etwas Langfristiges sein sollte.

Nun saßen sie wieder genau dort und genossen ihr Eis.

„Erika möchte ihren neuen Typen zur Trauung mitbringen, was hältst du davon?“ fragte Kathrin belustigt.

„Sie ist deine Freundin. Du musst wissen, ob das für dich in Ordnung ist. Ich bin da eher unkompliziert. Ich fände es aber schade, wenn du nicht kommen würdest“ spottete Till, als in seinem Augenwinkel etwas aufblitzte. Kathrin sprach unbeirrt weiter, doch Tills Gedanken kreisten um einen anderen Tisch in der Eisdiele. Das konnte doch nicht sein. Er konnte nicht hier sein. Tills Unterbewusstsein spielte ihm wohl wieder einmal einen Streich. Er war doch schon seit so vielen Jahren tot. Außerdem sah er nur einen Hinterkopf und konnte aufgrund der Schultern nur eine Statur erahnen. Es war unmöglich, besänftigte er sich selbst in Gedanken.

„… ähm Till?“

Till warf seiner Verlobten einen schuldbewussten Blick zu.

„Ist alles in Ordnung?“ fragte Kathrin.

„Ja klar! Alles gut, ich dachte bloß, ich hätte jemanden… ach schon gut.“

Kathrin erwiderte nichts, sondern blickte gedankenverloren auf die vor ihr liegende Eiskarte.

Er warf noch einen flüchtigen Blick in Richtung des Fremden, doch konnte nur noch kurz sehen, wie dieser auf die Toilette verschwand.  Kathrins Augen folgten Tills Blick, doch fanden niemand Bekannten in dem Café.

„Ich kenne dich doch, also raus mit der Sprache… Wen hast du gesehen?“

„Da war niemand, wirklich. Ich dachte, da wäre jemand… von damals… aus dem Kinderheim.“

Sie nickte verständnisvoll.

Kathrin hatte sich damit abgefunden, dass er nicht über dieses Kapitel seines Lebens sprechen wollte. Er liebte sie nur umso mehr dafür.

Alles in Till sträubte sich dagegen, weiterhin ruhig auf seinem Platz sitzend zu verharren. Er wollte dem mysteriösen Mann hinterher. Er musste das Gesicht des Fremden sehen und sich davon überzeugen, dass es nicht Sven war.

„Wollen wir zurück in die Wohnung gehen und uns noch einen gemütlichen Abend mit dem Rest des Champagners machen?“ fragte sie liebevoll.

„Ja, gerne! Ich muss nur noch kurz auf das stille Örtchen.“ Till blieb bemüht, nicht auf die Toilette zu stürmen, obwohl alles in ihm losrennen wollte. Die ganze Zeit über hatte er die Toilettentür weiter scharf im Auge behalten und niemanden mehr hinein- oder hinausgehen sehen. Im Herren-WC angekommen, schien keine der drei Kabinen besetzt zu sein. Unter den Schwingtüren erkannte er jedenfalls kein Paar Füße, weswegen Till sich mit einem Klopfen versicherte, ohne eine Antwort zu erhalten. Erleichtert wandte er sich zum Gehen um und war schon fast wieder aus der Tür getreten, als er ein Handy auf der Ablage des Waschbeckens entdeckte. Das hatte sicher jemand vergessen, dachte er sich und ergriff das Smartphone mit der Absicht, es anschließend an der Cafébar für seinen Besitzer hinterlegen zu lassen.

Durch die bloße Berührung sprang das Display an und offenbarte ein Hintergrundbild, das Till erschaudern ließ: Das Foto zeigte ihn.

 

3

 

Das Feuer loderte meterhoch in den klaren Nachthimmel. Es brannte lichterloh, so hell und heiß, dass sich die Luft in unmittelbarer Nähe unangenehm trocken anfühlte.

Eigentlich sollte er sich schnellstmöglich aus dem Staub machen, doch seine Beine standen wie im Erdboden verwurzelt. Sven rief ihm zu, er solle sich beeilen und schnell weg von dem Feuer kommen. Sven. Er konnte unmöglich hier sein. Die Flammen schlugen immer weitere Kreise und er schrie, so laut er konnte. Schweißgebadet schreckte er hoch. Kathrins Hand schloss sich um seinen Oberarm.

„Es war nur ein Alptraum. Möchtest du darüber sprechen? Was ist denn los, Schatz? Ich mache mir wirklich Sorgen um dich.“ Sie klang ernsthaft besorgt, so hatte er sie noch nicht erlebt.

„Ist schon gut. Jeder hat doch mal einen Albtraum, oder?“ versuchte er sie zu besänftigen.
Mittlerweile waren seit dem Abend in der Eisdiele drei Tage vergangen.  Till hatte sich dafür entschieden, das mysteriöse Handy mit dem Bild, welches ihn lächelnd während der letzten Weihnachtsfeier in der Bank zeigte, vorerst vor seiner Verlobten zu verstecken.

Sie sollte sich nicht unnötig um ihn sorgen. Das Smartphone lag inzwischen in einem Tresor der Bank, wo es niemand so schnell finden würde. Hatte das Handy mit seiner Vergangenheit zu tun? Er würde sich in den nächsten Tagen in Ruhe damit auseinandersetzen. Bestimmt handelte es sich um einen Scherz oder ein Missverständnis. Till fand in dieser Nacht keinen Schlaf mehr.

Er stand auf, bereitete sich einen Kaffee zu und setzte sich dann bis zum Morgengrauen vor den Fernseher, wo ein Blockbuster mit Jason Statham lief. Nachdem die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster fielen, schlurfte Kathrin gemächlich ins Wohnzimmer, setzte sich neben ihn und umarmte ihn liebevoll. Schweigend genossen sie die Ruhe.

Das schrille Klingeln an der Wohnungstür zerriss plötzlich die friedliche Harmonie, in der sie sich befanden. Sie tauschten ungläubige Blicke. Wer konnte das sein, an einem Sonntag, so früh am Morgen? Kathrin warf sich schnell ihren Frotteebademantel über, während Till zur Tür eilte, um zu öffnen. Zwei uniformierte Polizisten fixierten ihn mit grimmigem Gesichtsausdruck. Ehe er sich versah, wurde er mit den Händen hinter dem Rücken zum Dienstwagen der Beamten geführt. Kathrin verfolgte die Szene ungläubig und verfiel in eine Schockstarre.

„Till Müller, Sie stehen unter dem Verdacht, Saskia Lindner entführt zu haben…“

 

4

Heute

 

Wie ein Löwe in Gefangenschaft zog er seine Kreise in der kleinen Zelle, in der ihn die Beamten untergebracht hatten. Till lief kreuz und quer durch den Raum und versuchte dabei, seine Gedanken zu sortieren.

Die Beweislage gegen ihn war eindeutig. Die Bilder der Überwachungskamera belasteten ihn schwer. Wie war das möglich? Er zweifelte an seinem gesunden Menschenverstand. War er wirklich joggen, als das Mädchen verschwand? Es gab einen dunklen Teil in ihm, das wusste er schon immer, war aber in den letzten Jahren der Meinung, diesen längst hinter sich gelassen zu haben.

Woher kamen diese plötzlichen Selbstzweifel, die Identitätskrise, die ihn plagten? Oder war es doch Sven? Sein eineiiger Zwillingsbruder, mit dem er sich seine gesamte Kindheit über mehr als nur verbunden gefühlt hatte? Hing das alles mit dem geheimnisvollen Smartphone zusammen? Till wusste nicht, was er noch glauben sollte und konnte. Sollte er der Polizei von Sven erzählen?

Seine letzte Erinnerung an Sven zeigte den 12-jährigen tränenüberströmt in der Einfahrt des Kinderheims, in dem die beiden Jungen ihre gesamte Kindheit gemeinsam verbracht hatten.

Noch lange danach hatte Till mit dieser Erinnerung und seinem schlechten Gewissen hart zu kämpfen. Er musste es tun, das war ihm nun klar. Er musste endlich reinen Tisch machen, sonst würden die Schatten seiner Vergangenheit seine Zukunft endgültig zerstören.

 

5

 

„Sie wollen uns also erzählen, dass Ihr totgeglaubter eineiiger Zwillingsbruder das Mädchen entführt hat, um sich an Ihnen zu rächen?“ Nathalie Port, die junge  Beamtin mit dem blonden Pagenkopf, klang ungläubig. Sie schüttelte lächelnd den Kopf, machte sich fast über ihn lustig. Till kochte vor Wut. Da sagte er endlich die Wahrheit und dann glaubte man ihm nicht. So würde er nicht weiterkommen. Er musste die komplette Geschichte erzählen, die ihn schon seit seiner Kindheit plagte.

„Sven Lippmann, mein eineiiger Zwillingsbruder, und ich, wurden gleich nach unserer Geburt in eine Babyklappe gegeben. Danach sind wir im Kinderheim „Gute Hoffnung“ aufgewachsen. Wir waren nicht nur Brüder oder beste Freunde, uns verband mehr, ein übersinnliches Band, das zwischen uns gespannt war. Wenn er sich einen Arm brach, habe ich den Schmerz gefühlt und einmal, als ich mich im Wald verlaufen hatte, konnte Sven mich intuitiv finden. Wir waren zwar zwei eigenständige Menschen, teilten uns aber eine Seele, klingt das logisch? Wahrscheinlich nicht, aber es war so… bis zu jenem Tag zumindest… dem Tag, an dem ich Sven verraten und unsere Verbindung für immer gekappt habe. In einer heißen trockenen Sommernacht stahl sich Jenny, eins der älteren Mädchen und mein Schwarm, in unseren Schlafsaal und fragte mich, ob ich mit ihr im Geräteschuppen eine Zigarette rauchen wollte. Ich war gerade einmal 12, hatte noch nie geraucht, war aber neugierig und fürchtete, vor Jenny uncool zu wirken, wenn ich ablehnte.

Sven wusste als einziger davon und machte sich nach einiger Zeit auf, um mich zu suchen, weil er sich Sorgen machte. Jenny erhielt plötzlich einen Anruf und verschwand, sodass ich alleine in dem Schuppen zurückblieb. Die Schachtel Zigaretten und das Feuerzeug hinterließ sie mir quasi als Pfand und Beweis dafür, dass sie zurückkommen würde. Ich fühlte mich unheimlich erwachsen, wie ich da so saß und auf sie wartete und zündete mir noch einen Glimmstengel an. Irgendwann tauchte dann statt Jenny aber Sven auf. Ich war total erschrocken und dachte, man hätte mich erwischt.

Unsere Adoptionen waren doch damals eigentlich schon in trockenen Tüchern. Das Ehepaar Müller wollte uns tatsächlich beide zu sich nachhause holen. Ein Regelbruch wie dieser hätte natürlich alles verändert.“ Till stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Und für was sollte sich Ihr Zwillingsbruder rächen wollen?“ fragte Port mit gesenkter Stimme. Till hoffte, sie würde ihm glauben.

„Jedenfalls kam Sven dann dazu. Ich fühlte mich ertappt und war furchtbar sauer auf ihn. Ich schickte ihn zurück ins Bett. Jenny konnte doch jeden Moment zurückkommen. Sven gehorchte. Es war immer so, dass ich in unserer Beziehung den Ton angab.

Als ich dann wieder allein war, merkte ich, dass irgendwo aus dem Schuppen Rauch aufstieg. Ich hatte die glühende Zigarette zuvor einfach in eine Ecke geworfen. Die Glut landete auf dem Papier, das in dem Lager aufbewahrt wurde. Ich konnte nichts tun. Auf einmal brannte es überall.

Jenny, die das Feuer wohl aus der Ferne bemerkt hatte, zog mich in ein Gebüsch und drohte mir damit, dass ich statt bei den Müllers im Knast enden würde, wenn ich irgendwem etwas erzählte.

Das Feuer sprang auf das Haupthaus über und zerstörte den Flügel mit den Schlafräumen der Mädchen, bevor die Feuerwehr eintraf. Mehrere der anderen Bewohner erlitten leichte Rauchvergiftungen und es dauerte nicht lange, bis der Verdacht auf mich fiel. Einige der Jungen hatten zuerst mich und dann Sven aus dem Schlafsaal schleichen sehen. Als die Heimleitung uns beide konfrontierte, bekam ich Panik. Ich habe Jenny ihre Drohung wirklich geglaubt. So kam es dazu, dass ich… naja ich…“

Tills Atem stockte. Sein Herzschlag beschleunigte sich. „… ich habe es Sven in die Schuhe geschoben. Ich habe gesagt, er wäre allein in den Schuppen gegangen, um dort zu rauchen… Er hat alles abgestritten.

Die Aussagen der anderen Jungen reichten nicht aus, um Svens Schilderung zu bekräftigen. Sie waren sich selbst nicht sicher, wer von uns beiden wann den Schlafsaal verlassen und wer wann zurückgekehrt war. Jenny bekam von ihren Freundinnen ein wasserdichtes Alibi, was Svens Version unglaubwürdig wirken ließ. Für ihn hatte es aufgrund seines Alters zwar keine rechtlichen Konsequenzen, er wurde aber letztendlich nicht adoptiert. Wir sahen uns das letzte Mal, als die Müllers mich aus dem Heim holten.“

 

6

 

Nathalie Port blätterte konzentriert in der Akte, die ihr ein Kollege vor wenigen Minuten überbracht hatte.

Till und Bauer saßen sich nach wie vor schweigend gegenüber. Seitdem er seine Schilderung über die Ereignisse seiner Kindheit beendet hatte, sprach niemand ein Wort.

„Hier steht, ihr Bruder, Sven Lippmann, starb im Alter von 16 Jahren an einer Überdosis. Sein Leichnam wurde in einem verlassenen Bürogebäude gefunden. Die toxikologischen Befunde der Rechtsmedizin sind eindeutig. Es ist ausgeschlossen, dass ihr Bruder die Tat begangen hat“ erklärte Port sachlich.

Till wich das letzte Stück Farbe aus dem Gesicht. Obwohl er mit dieser Aussage gerechnet hatte und die Hintergründe kannte, schockierte sie ihn. Nach seinem 18. Geburtstag fand er mit Hilfe seiner Adoptiveltern heraus, dass sein Bruder schon vor geraumer Zeit verstorben war. Die Frage, wieso er dies nicht gespürt hatte, stürzte ihn in eine tiefe Depression. Seine Adoptivfamilie und einige Therapien halfen ihm damals enorm bei der Trauerbewältigung.

„Ich… das weiß ich doch… aber er muss es gewesen sein! Vielleicht war es eine andere Leiche, die seinen Ausweis bei sich trug… ach, ich weiß es doch auch nicht! Sie müssen mir glauben! Ich war es nicht… Sven lebt!“

Tills Stimme brach ab. Er hatte nichts mehr zu sagen.

Bauer und Port waren gerade dabei, die Vernehmung zu beenden, als ein weiterer Beamter das Zimmer betrat und beide auf ein Wort bat. Die darauffolgenden Minuten zogen sich für Till bis in die Unendlichkeit. Vielleicht hatte man etwas gefunden, das ihn entlastete. Dann wäre er frei von allen Anschuldigungen. Port und Bauer kamen nacheinander zurück. Ports Gesichtsausdruck wirkte mehr als betreten. 

„Das Mädchen wurde gefunden. Sie ist tot. Ihre Leiche wurde in einem Waldstück in unmittelbarer Nähe Ihres Arbeitsplatzes von einem Passanten gefunden.“

In Tills Kopf explodierte etwas. Das konnte einfach nicht wahr sein!

Nathalie Port stützte sich mit den Armen auf den Tisch und sah ihm tief in die Augen. Till hielt ihrem Blick stand.

„Herr Müller, es geht jetzt nicht mehr nur um eine Entführung, sondern um Mord! Was ist zum Tatzeitpunkt geschehen? Wo waren Sie?“

Till bekam nur einen schluchzenden Ton heraus. Er wusste keine Antwort mehr.

 

7

 

Nathalie hatte in der letzten Nacht keinen Schlaf gefunden. Sie konnte nicht aufhören, an Till Müller zu denken. In seinem Blick lag während des Verhörs nichts Widersprüchliches. Nathalie hätte ihm die Geschichte mit dem rachsüchtigen Bruder, fast abgekauft, doch alle Indizien sprachen eindeutig gegen ihn. Ihre Arbeit war getan, die Beweislage klar und deutlich. Sie wollte sich gerade einem Stapel Ermittlungsakten zum Fall „Saskia“ widmen, als die dienstjunge Kollegin Stephanie Hartmann hereingestürmt kam.

„Ein Herr Heinrich Müller wartet vorne auf dich. Er ist der Vater des Verdächtigen Till Müller.“

Nathalie deutete ein Nicken an, wenngleich sich in ihrem Kopf ein großes Fragezeichen bildete.

Müller Senior wartete bereits in einem leeren Besprechungsraum auf sie. Er blickte sie aus müden und wässrig blauen Augen an.

„Guten Tag Herr Müller“ begann sie das Gespräch freundlich.

„Tach… Der Till kann nichts dafür! Ich mein… Sie müssen das verstehen!“ Die Worte sprudelten nur so aus Müller Senior heraus.

„Ich verstehe momentan überhaupt nichts, Herr Müller, aber ich gehe davon aus, Sie wissen inzwischen, was Ihrem Sohn vorgeworfen wird?“

Müller Senior nickte. Tränen bahnten sich einen Weg in sein Sichtfeld.

„Na gut, also es ist so… Der Till hatte einen Zwillingsbruder, den Sven. Eigentlich wollten wir beide adoptieren, aber dann war da die Sache mit dem Brand… Es ist alles unsere Schuld, wissen Sie?“ Nathalie sah ihn verwirrt an.

„Was ist Ihre Schuld?“ bohrte sie nach.

„Es ist, weil wir damals nur den Till adoptiert haben. Aber der Sven hat ja das Kinderheim abgefackelt. Wir konnten ihn nicht adoptieren. Rückblickend betrachtet, hätten wir dem Jungen doch eine Chance geben sollen, dann wäre er nicht an die Drogen geraten, die ihn das Leben kosteten“ sagte Müller Senior mit brüchiger Stimme.

„Ich verstehe immer noch nicht. Was hat das mit dem Mord an Saskia Lindner zu tun?“ fragte Nathalie ungeduldig.

„Der Till hat weder die Trennung von seinem Bruder, noch die Nachricht von dessen Tod gut verkraftet. In der ersten Zeit, nachdem wir nur den Till adoptiert hatten, bekam er immer wieder Schmerzen, von denen wir uns die Ursache nicht erklären konnten. Till sprach immer davon, dass Sven sich verletzt hätte. Das wurde so schlimm, dass wir am Ende nicht mehr wussten, ob wir Till oder Sven vor uns hatten und dann eines Tages war es einfach vorbei. Von einem auf den anderen Tag hat er nie wieder über seinen Bruder gesprochen.“

Nathalie hatte schon mehrere Berichte über das Phänomen des „Zwillingsschmerzes“ gelesen, tat dies aber bisher immer als Humbug ab.

„Als der Till 18 war… Da haben wir dann gemeinsam nach seinem Bruder gesucht und fanden heraus, dass der Sven schon vor einigen Jahren gestorben war… danach ging es dem Till richtig schlecht.“

Heinrich Müller senkte seinen Blick bedrückt ab.

„Die Ärzte sagten damals so etwas wie, dass er eine multiple Persönlichkeit hätte. Manchmal hat er Dinge getan und im Nachhinein behauptet, es wäre der Sven gewesen und erzählt, dass dieser noch am Leben wäre. Beispielsweise hat er den Nachbarskindern Alkohol und Zigaretten besorgt. Wir hatten einen gewaltigen Ärger damals. Ich weiß auch nicht mehr so wirklich, bin ja kein Psychodoktor. Die Ärzte meinten, das wäre Tills Art der Trauerbewältigung. Ne schlimme Sache ist das. Mit den richtigen Medikamenten haben sie unseren Sohn dann wieder auf die Beine bekommen. Schon kurz, nachdem er mit der Medizin angefangen hatte, war er wieder ganz klar im Kopf. Es ist nun schon mehrere Jahre her, dass er die das letzte Mal genommen hat und bisher lief auch alles sehr gut. Ich fürchte, es hat wieder angefangen. Sie dürfen Till nicht ins Gefängnis stecken. Er braucht Hilfe. Und das ist alles nur meine Schuld… Verstehen Sie jetzt?“ Nathalie legte dem verzweifelten Mann verständnisvoll eine Hand auf die Schulter.

„Jetzt verstehe ich. Wir werden uns sofort die Krankenakten von damals besorgen und einen Psychologen beauftragen. Trotzdem wird es in diesem Fall mit einer Therapie nicht getan sein. Ein Mädchen wurde ermordet.“

Ihre Worte brachen den Damm, der Müller Seniors Tränen zurückgehalten hatte, endgültig.

 

Epilog

 

Nathalie starrte seit Stunden wie gebannt auf den Computerbildschirm. Noch nie hatte sie einen derartigen Polizeibericht verfasst. Till Müller hatte bereits des Öfteren den Kontakt zu Saskia Lindner gesucht. Man hatte während der Untersuchung seines Arbeitsplatzes sogar ein Handy gefunden, das auf den Namen Sven Lippmann angemeldet war. In dem Telefon war die Nummer des Opfers sowie ein reger Chat nachgewiesen worden. Ein schlechtes Verhältnis zu ihren Eltern und die falschen Kontakte führten dazu, dass die junge Saskia sich an anderen Orten nach Bestätigung und Aufmerksamkeit umsah. Saskia Lindners Freundinnen berichteten, dass sie wohl öfter mit einem älteren Mann namens Sven verkehrte.

Sie hatte die Informationen des Psychiaters knapp zusammengefasst. Till Müller litt an einer dissoziativen Identitätsstörung. Früher bezeichnete man diese auch als multiple Persönlichkeitsstörung. Bei dieser psychischen Erkrankung handelte es sich um eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung, bei der Betroffene zwischen zwei oder mehreren Identitäten hin- und herwechseln. Außerdem kann sich die erkrankte Person auch nicht an Informationen erinnern, die normalerweise problemlos abrufbar wären, wie etwa alltägliche Ereignisse, wichtige persönliche Daten und traumatische oder belastende Erlebnisse. Laut dem Bericht des Psychiaters erlitt Müller in den letzten Jahren aufgrund beruflichen Stresses einen schweren Rückfall. In Momenten, in denen er „wirklich“ Till war, erinnerte er sich nicht mehr daran, was er als Sven getan oder gesagt hatte. Er war der festen Überzeugung, nichts verbrochen zu haben. An Tills Täterschaft und seiner schweren Erkrankung gab es nicht den geringsten Zweifel. Sie hatten den Täter überführt. Was genau das Motiv von „Sven“ war, musste in intensiven Gesprächen mit fachkundigem Personal herausgefunden werden. Nathalie überlegte, ob es nicht tatsächlich möglich sein konnte, dass ein Teil von Sven Lippmann sich nach dessen Tod an seinen Bruder geklammert und sich in dessen Psyche manifestiert hatte. Es mochte verrückt und übersinnlich klingen, aber das war es auch… das Phänomen des ominösen „Zwillingsschmerzes“. Darüber hätte sie sich stundenlang den Kopf zerbrechen können. Die Abgründe der menschlichen Psyche waren für sie der Hauptgrund, eine Polizeilaufbahn anzustreben.

„Kommst du noch auf einen kleinen Feierabendumtrunk mit?“

Nathalie schreckte hoch. Stephie stand in der Tür.

„Ja, ich glaube, das tut mir jetzt gut.“

Sie warf sich die Tasche locker über die Schulter und folgte ihrer Kollegin in den wohlverdienten Feierabend.

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