Jeanine LeferingDer Verrat

I ∙ Jonas

Jonas schaut hinab auf die Stelle, an der er beerdigt werden soll – sein kleiner Bruder. Gerade erst war er wieder in Jonas’ Leben getreten.

Und jetzt war er tot.

An das noch unberührte Stück Rasen – an Xavis Platz, denkt Jonas – grenzt ein sich selbst überlassenes Grab, überwuchert mit Efeu, in der Mitte ein kleiner Engel. Ein Flügel fehlt ihm. Zu seinen Füßen liegt sein abgeschlagener Kopf.

Jonas sieht weg, blickt zum wolkenlosen Himmel. Er ist dankbar für die Ruhe, für die er diesen verschlafenen Teil des Berliner Westens so liebt. Er schließt die Augen, spürt das tiefe Schweigen des alten Friedhofs. Spürt die Glut der Mittagssonne. Einer dieser fiebrigen Hochsommertage in Berlin. Gnadenlos und kaum zu ertragen.

Plötzlich hört er jemanden hinter sich.

„Ich verstehe, dass das schwer sein muss.”

Er dreht sich um.

Diese Augen, denkt Jonas verwirrt. Waren sie immer so?

„Woher … ich habe keinem gesagt, dass er hier begraben wird“, beginnt er. Waren sie schon immer so kalt?

“Die Wahrheit begraben wir mit ihm. Aber wir beide kennen sie, nicht wahr?“

Sein Herz überspringt einen Schlag.

„Wir beide wissen, was damals geschehen ist. Wir wissen, wer ihn getötet hat. Doch eine Frage bleibt.“

Jonas wendet sich ab, will es nicht hören. Doch vor der einen Frage gibt es kein Entkommen.

„Warum, Jonas? Warum hast du es getan?“

II ∙ Drei Tage früher

Jonas betrat den Hausflur und war dankbar für die Kühle, die ihn empfing. Ein willkommener Nebeneffekt, wenn man wie Vera und er in einem von Berlins begehrten Altbauten wohnte.

Die Hitze hatte die Stadt seit Wochen fest im Griff. Sogar jetzt noch, um fast 20 Uhr, stand ihm der Schweiß auf der Stirn.

Während er die Briefkästen am Ende des Hausflurs ansteuerte, schweiften seine Gedanken zurück in den stickigen Konferenzraum, in dem er den ganzen Tag verbracht hatte. Vergeblich.

Er hatte die Dinge im Griff zu haben. Dafür hatten sie ihn doch zum Teamleiter befördert. Doch trotz seiner akribisch ausgearbeiteten Präsentation hatte es ihm vor den neuen Kunden an Souveränität gefehlt. Je mehr Rückfragen kamen, desto unsicherer wurde er. Sie würden den Auftrag nicht bekommen, da war Jonas sich sicher.

Er nestelte den Schlüssel aus seiner Tasche und öffnete den Briefkasten. Keine Post ist gute Post.

Das hatte Edgar immer gesagt. Warum fiel ihm das gerade jetzt ein? Jonas schüttelte den Gedanken ab und schleppte sich ins Treppenhaus.

 

„Da ist ein Brief für dich“, rief Vera, nachdem sie ihn mit einem Kuss begrüßt hatte und im Wohnzimmer verschwunden war.

Jonas lehnte sich an den Türrahmen. Der Esstisch war übersät mit Schleifenband und Stoffservietten. Die letzten Vorbereitungen – in einer Woche würden sie heiraten.

Jonas lächelte Vera an, stellte seine Aktentasche ab und sah zu der Schale, in der sie ihre Post ablegten.

Ein leuchtend roter Buchstabe thronte auf dem Briefstapel.

Vera sah zu ihm auf. „Ach ja, das lag mit im Briefkasten. Ein Magnet. Hat das was zu bedeuten?“

Ihr Handy klingelte. Sie sah aufs Display, seufzte lächelnd.

Nach wenigen Minuten legte sie auf und seufzte erneut.

„Meine Mutter. Sie holt mich gleich ab. Heute ist dieses Champagner-Tasting bei ihrem Lieblings-Caterer, hab ich natürlich vergessen. ‚Vera Liebes, da müssen wir euch was Schönes zum Anstoßen aussuchen!‘“ Vera verdrehte die Augen.

„Sie hat mich heute auf Station ungelogen 20 Mal angerufen. Sie weiß, dass ich Dienst habe! Und beschwert sich, dass ich vor der Hochzeit noch arbeite. Wenn sie einen Dreh hat, lässt Madame Cronenburg doch auch nicht alles stehen und liegen. Soll ich hier eine Woche lang Servietten falten?“

Jonas setzte ein besorgtes Gesicht auf. „Wenn ich mir dein Werk so ansehe, ist das vielleicht keine schlechte Idee.“

Er duckte sich gerade rechtzeitig, um einem blassrosa Geschoss auszuweichen.

Die Serviette landete auf der Postschale.

 

Nachdem Vera aufgebrochen war, begutachtete Jonas den knallroten Magnetbuchstaben und wandte sich dem Brief zu. Der trug weder eine Marke, noch einen Absender. Er betastete den Umschlag und löste zögernd die zugeklebte Lasche.

Es war ein Handy. Eines, dass er noch nie gesehen hatte.

Was sollte das denn? War das eine Junggesellenaktion?

Automatisch wischte er über das Display, um das Handy zu entsperren. Fehlanzeige.

Verwenden Sie Ihren Fingerabdruck oder geben Sie Ihre PIN ein. Woher sollten seine Jungs seinen Fingerabdruck haben? Jonas versuchte es trotzdem.

Keine Übereinstimmung.  Welche PIN könnte es sein?

Jonas lachte und tippte 290720. Ihr Hochzeitsdatum.

PIN-Eingabe ungültig. Denk nach. Mein Geburtstag? Zu einfach. Veras Geburtstag?

Kannten seine Jungs den überhaupt? Was sonst? Das Abijahr?

Mit den meisten seiner Freunde war Jonas zur Schule gegangen. Eine harte Zeit, an die er nicht gern dachte. Nicht die Schulzeit selbst, er war ein guter Schüler gewesen. Ein guter Abschluss war sein großes Ziel, sein Sprungbrett, um wegzukommen, sein altes Leben hinter sich zu lassen, weiterzukommen, besser zu sein. Besser als früher.

Einige Jahre vor dem Abi, als er 14 war, war er in eine neue Familie gekommen. Es war im schwergefallen, bei seinen neuen Pflegeeltern wirklich anzukommen, er vermisste seinen kleinen Bruder – und dann die Sache mit Edgar …

Jonas schüttelte den Kopf. Jetzt nicht. Nicht das.

Er konzentrierte sich wieder auf das Smartphone in seiner Hand. Probieren wir’s mit dem Abi. Er tippte: 2005.

PIN-Eingabe ungültig. Verdammt.

Sein Blick fiel auf den Magneten neben dem geöffneten Briefumschlag. Es war ein Plastikbuchstabe. H für Happy Birthday? Doch mein Geburtstag?

So einfach würde es wohl nicht sein, dachte er und drehte den kleinen Magneten in der Hand hin und her. So ein Ding hatten doch Familien am Kühlschrank hängen.

Oder vielmehr: Das hatten WIR früher am Kühlschrank.

Die Erinnerung ließ Jonas zusammenzucken.

Als Kinder hatten Xavi und er sich mit den Magneten Nachrichten auf der Kühlschranktür hinterlassen. Kleine Codes. Das war wichtig, niemand anderes durfte sie lesen. Niemand anderes war Edgar.

Sie hatten statt der Buchstaben die Zahlen benutzt. So konnten sie sich gegenseitig warnen, je nachdem, wer zuerst zuhause war. Meist war es Xavi, der vier Jahre jünger war.

Die Küche lag schräg gegenüber der Wohnungstür. So musste Jonas beim Reinkommen nur einen Blick auf die scheinbar willkürliche Zahlenreihe aus bunten Magneten werfen, um zu wissen, ob Edgar zuhause und in welcher Stimmung er war. Ob er jeden Moment damit rechnen musste, einen Schlag zu kassieren. Oft in den Nacken, „Hilft beim Denken“, lallte Edgar dabei grinsend.

Er ist nicht mein richtiger Vater, wiederholte Jonas in diesen Momenten, während er sich auf die Suche nach Xavi machte. Hoffentlich hat er ihn heute in Ruhe gelassen.

Xavi war zehn und klein für sein Alter. Er bekam das meiste ab.

Edgar war ihr Pflegevater. Xavi und er waren zu ihm und Nicole gekommen, als sie beide noch klein waren. Nicole hatte sich immer Kinder gewünscht und sich mit viel Liebe um sie gekümmert. Eine Zeitlang waren sie eine richtige Familie. Dann kam die Diagnose.

Nicole hatte Krebs. Es ging alles sehr schnell. Nach nur wenigen Monaten starb seine Mutter. Für Jonas war sie das immer gewesen, auch für Xavi. Sie hatten sie geliebt.

Mit Edgar war es anders. Er hatte beide Jungs nie ganz an sich herangelassen. Ohne Nicoles beständiges Wünschen, nachdem eines Tages festgestellt wurde, dass sie keine Kinder bekommen konnte, hätte sich Edgar nicht für eine Familie entschieden. Hätte sich nicht für die beiden Jungs entschieden. Er hatte es für Nicole getan.

Mit ihrem Tod zerbrach etwas in Edgar. Die Trauer riss ihn mit, begrub ihn unter sich, er verschwand. Es war ihm egal, ob sich die Welt um ihn herum weiterdrehte.

Jonas kümmerte sich um seinen Bruder, so gut er konnte. Um Edgars Schlafzimmer, das dieser kaum noch verließ, machte Jonas einen weiten Bogen.

Irgendwann begann Edgar, aus seiner Dämmerwelt aufzutauchen, doch die Dunkelheit, in die er sich so lange hatte fallen lassen, blieb an ihm haften. Er sprach nur noch, wenn es sich nicht vermeiden ließ, verbrachte lange Stunden am Küchentisch und starrte die Flaschen vor sich an, die er am frühen Morgen leer hinterließ. Jonas räumte sie weg, bevor er für sich und Xavi die Schulbrote schmierte. Vergaß er es, sorgte Edgar für eine Gedächtnisstütze.

Jonas schämte sich, in der Schule auf die blauen Flecken angesprochen zu werden. Er ließ seine Haare ins Gesicht hängen und trug auch im Sommer lange Ärmel.

Die gelegentlichen Schläge steigerten sich zu regelmäßigen Prügelattacken. In dieser Zeit hatten sie mit ihrem Code angefangen. Unser Kühlschrankcode.

 

Jonas blickte auf das fremde Handy und den Buchstaben in seiner Hand. Sein Brustkorb war mit einem Mal zu eng.

Das hier hatte nichts mit der Hochzeit zu tun. Das waren nicht seine Jungs gewesen, die ihm das Handy in den Briefkasten gelegt hatten.

Ein Bild blitzte vor seinem geistigen Auge auf, er wollte es wegschieben, presste die Fingerspitzen auf die geschlossenen Lider, bis er kleine Lichter sah, doch es blieb.

Edgar am Boden. Der Messergriff ragte aus seinem Rücken, wie ein windschiefer Mast. Seine eigenen Hände, blutüberströmt. Xavi, schreiend in der Ecke, mit gebrochenem Bein, seinen größten Schatz fest umklammernd. Er drückte sie an seine Brust, die kleine rote Kamera, die er von Nicole zum Geburtstag bekommen hatte. Dem letzten Geburtstag, den sie zu viert gefeiert hatten.

Was hat das alles zu bedeuten?

Nervös rieb sich Jonas über das Gesicht. Er hatte angefangen, im Flur auf und ab zu tigern.

Xavi ist doch immer mit seiner Kamera herumgelaufen. Gibt es etwa Fotos von damals? Von Edgar und … und von mir?

Er blieb stehen. Legte den Magneten weg, den er geistesabwesend geknetet hatte, und griff nach dem Handy.

Mit einem Mal war ihm klar, wie der PIN lautete. Er sah die Zahlen vor sich, als wäre es gestern gewesen.

Geben Sie Ihre PIN ein.

 

III ∙ Edgar

Er stand noch in der Tür, den Schulranzen über der Schulter, als er die Botschaft sah.

8 9 12 6 5.

Sie hatten das Alphabet durchnummeriert und sich die wichtigsten Codes eingeprägt. Sie waren kurz, damit Xavi sie sich mit seinen zehn Jahren gut merken konnte. 2 5 20 20 für BETT bedeutete, Edgar schläft, still sein. 23 15 4 11 1 für WODKA war eine regelmäßige Warnung: Edgar war betrunken, sie mussten auf der Hut sein. Und 8 9 12 6 5 – nur für den Notfall, falls es einmal ganz schlimm war. Bisher hatten sie den Code nicht gebraucht, doch jetzt hatte Xavi ihr heimliches SOS für Jonas hinterlassen.

8 9 12 6 5.

HILFE.

Jonas starrte die Zahlen an, sein Herz raste. Was war passiert?

Er schloss behutsam die Tür und legte leise den Rucksack ab. Wenn Edgar nicht bemerkt hatte, dass er nach Hause gekommen war, wäre er im Vorteil, dachte Jonas fahrig. Aus der Küche hörte er ein leises Wimmern.

„Halt die Schnauze!“ Edgar. Er lallte, sprach leise.

Auf Beinen, die sich plötzlich taub anfühlten, als würden sie jeden Moment unter ihm wegbrechen, näherte sich Jonas der Küche.

Xavi hockte auf dem Boden, den Rücken an die Wand gegenüber der Tür gepresst. Mit einer Hand hielt er sein Bein, mit der anderen drückte er die kleine rote Kamera an sich. Unterhalb seines linken Knies hatte sich seine Jeans dunkel verfärbt.

„Bitte, es tut so weh!“ Xavi sah flehend zu Edgar auf, sein Gesicht rot und geschwollen vor Tränen und Schmerz.

Edgar stand halb über ihn gebeugt, Xavis verletztes Bein lag ausgestreckt zwischen seinen Füßen, das andere hatte sein kleiner Bruder schützend an die Brust gezogen. Edgar hielt sich an der Herdkante neben ihm fest, sein massiger Oberkörper schwankte vor und zurück. In seiner Rechten baumelte der Fleischklopfer, den Nicole früher benutzt hatte, um Schnitzel zu bearbeiten. Die stumpfen Zacken des Holzklotzes hatten die gleiche Farbe angenommen, wie Xavis Hose. Dunkelrot, fast schwarz, dachte Jonas benommen.

Er war in der Tür stehengeblieben, sie hatten ihn noch nicht bemerkt. Edgar stand mit dem Rücken zu ihm.

„Ich hab gesagt, du sollst ruhig sein, verdammt!“

Was dann geschah, schien in Zeitlupe abzulaufen: Jonas sah, wie Edgar den Arm nach oben riss, der Fleischklopfer hing drohend in der Luft.

Xavi zuckte zusammen, hob reflexartig den Arm vors Gesicht.

Jonas sah sich panisch um, sein Blick flog durch die Küche, streifte den Tisch, fand das Messer, mit dem er morgens das Brot geschnitten hatte. Er stürzte zum Tisch, griff nach dem Messer, sah, wie Edgar den Arm anspannte, um den Fleischhammer hinabsausen zu lassen. Jonas sprang auf ihn zu, riss das Küchenmesser nach oben und rammte es mit beiden Händen in Edgars Rücken.

Edgar schrie auf, drehte sich ruckartig um, dabei blieb sein Fuß an Xavis ausgestrecktem Bein hängen. Er verlor das Gleichgewicht, stürzte nach vorn – und streckte noch im Fallen die Hände nach Jonas’ Kehle aus.

 

IV ∙ Xavi

8 9 12 6 5.

Mit zittrigen Fingern gab er den PIN ein. Das Handy entsperrte sich sofort. Jonas wischte über das Display, tippte auf Fotos. Da waren sie. Er und Edgar.

Edgar, der auf ihm lag – schwer. Und tot.

Die Bilder waren verwackelt, aber für Jonas glasklar zu erkennen. Oh Gott. Bitte nicht.

Die Erinnerung stürzte auf ihn ein. Es war alles wieder da.

Er hatte Edgar das Messer mit aller Kraft in den Rücken gestoßen und es instinktiv wieder herausgerissen. Das Blut an seinen Händen hatte er in dem Moment kaum bemerkt.

Als Edgar sich auf ihn stürzte, war er nach hinten gefallen, das Messer noch immer in beiden Händen. Er hatte es im Fallen nicht weggezogen, um sich abzufangen, er hielt es fest umklammert. Edgar landete auf der Klinge.

Einige endlose Herzschläge lag Jonas da, fühlte den schweren Körper auf sich, roch den Alkohol, den er verströmte.

Dann kam die Panik.

Er bekam keine Luft, Edgars Körper schien den letzten Rest Atem aus Jonas’ Lunge zu drücken.

Es gelang ihm, Edgar von sich herunter zu wälzen. Er schnappte nach Luft. Suchte Xavis Blick.

Sein Bruder starrte ihn ausdruckslos an, alle Röte war aus seinem Gesicht gewichen.

„Hör mir zu“, sagte Jonas. „Ich muss die Polizei rufen. Vielleicht ist die schon auf dem Weg, die Nachbarn müssen das gehört haben.“ Hektisch sah er sich um, als würde die Küche jeden Moment gestürmt werden.

„Wir müssen denen was anderes erzählen. Wenn wir die Wahrheit sagen, stecken die mich in den Knast!“

„Was?“, rief Xavi erschrocken.

„Ich bin 14, Mann! Das heißt, ich bin strafmündig.“

„Du hast mir geholfen. Er hat mir wehgetan.“

„Ja, aber ich hab … ich hab ihn umgebracht.“ Jonas hörte seine Stimme zittern.

„Wenn die sagen, ich hab ihn ermordet, dann komme ich ins Gefängnis. Xavi, ich kann nicht ins Gefängnis!“

Xavi sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und schüttelte wild den Kopf.

„Wir müssen sagen, dass du es warst. Du musst es denen sagen. Du bist noch ein Kind, dir kann nichts passieren. Verstehst du das?“

Ein langsames Nicken.

„Er war sturzbesoffen, er ist gestolpert und gestürzt. Du konntest dich am Tisch hochziehen und dir das Messer schnappen.“

Jonas drückte seinem Bruder das Messer in die Hand und begann, sich seine blutigen Hände abzuwischen.

„Du hattest Panik, du hast zugestochen. Als er sich berappelt und auf dich gestürzt hat, ist das Messer in seinem Bauch gelandet. Ein Unfall. Notwehr! Das Schwein hat dein Bein gebrochen!“

Ein zögerliches Nicken.

„Ich muss abhauen. Wenn sie mich hier finden, kriegen sie mich dran.“

Er kniete sich zu Xavi, ängstlich darauf bedacht, dessen geschundenes Bein nicht zu berühren, und nahm ihn fest in den Arm.

“So wird alles gut für uns. Dir kann nichts passieren und ich muss nicht ins Gefängnis. Ich kann weiter für dich da sein, so wie vorher. Versprochen.“

 

 Vorher, dachte Jonas. Bevor ich unseren ‚Vater‘ umgebracht habe. Sein Magen verkrampfte sich.

Ein schrilles Klingeln riss ihn aus seinen Erinnerungen, er ließ das Handy fast fallen.

Private NummerWer zum Teufel …

„Hast du dich erinnert, Jonas?“

Xavis vertraute Stimme, die er so viele Jahre nicht gehört hatte.

„Hat dir die kleine Gedächtnisstütze auf die Sprünge geholfen?“

„Xavi, was soll das alles? Wie hast du mich überhaupt gefunden?“

„Jemand hat mich besucht. Er hat dich gefunden. Hat über dich recherchiert, wollte Dreck ausgraben. Da ist mir meine alte Kamera eingefallen. Die hatte ich damals auch dabei, als Papa durchgedreht ist. Der Winkel war vom Boden aus nicht ideal, aber das Wesentliche erkennt man. Findest du nicht?“

Jonas wurde schwindlig.

„Du heiratest die Tochter von der Cronenburg, hat der Typ gesagt. Dass er Interviews mit der Familie führen will. Ich hab’s ihm erst nicht geglaubt, die Cronenburg? Die Schauspielerin?“ Ein trockenes Lachen. „Er hat mir Fotos gezeigt, aus seinem Klatschblatt. Da warst du, mit ‚Katarina Cronenburg und ihrer zauberhaften Tochter Vera‘ auf der Schlag-mich-tot-Gala. Nicht schlecht, Bruderherz!“

Wieso fängt er von Vera an?

„Was willst du, Xavi?“

„Ich hab dich schon früher gesucht. Du bist nirgends zu finden! Kein Facebook, kein nichts. Als wärst du wirklich verschwunden damals.“

Das war ich auch.

„Aber ich musste dich doch erreichen, Brüderchen. Es gibt einiges zu besprechen. In dem Klatschblättchen von diesem Journalisten gab es auch eine ‚Homestory‘ von der Cronenburg in ihrer Protzvilla am Wannsee. Man, das Ding sieht aus wie ‘n Schloss! Ich bin einmal um den See, schon hab ich’s gefunden. Und weißt du was? Die haben auch einen hübschen Briefkasten, genau wie du.“

„Warum erzählst du mir das alles?“

„Na komm, Jonas. Ich weiß, du hast mich immer unterschätzt. Aber ich bin nicht mehr der hilflose Trottel. Dieses Mal kannst du nicht abhauen. Jetzt sag‘ ich dir, wie’s läuft.“

 

V ∙ Cronenburg

Jonas lief eine spärlich beleuchtete Seitenstraße hinab und folgte den Anweisungen seines Handys. Xavi hatte ihn für den nächsten Abend zu einer Adresse am Spandauer Damm bestellt. Es war spät geworden. Er hatte gewartet, bis Vera schlief, bevor er losgefahren war.

Sie haben Ihr Ziel erreicht.

Er suchte den Namen am Klingelschild, den Xavi ihm genannt hatte. Die Tür öffnete sich sirrend.

Jonas betrat einen spärlich möblierten Raum. Ein Deckenstrahler tauchte eine Hälfte des Zimmers in hartes weißes Licht. Xavi stand mit gekreuzten Armen im Halbschatten, an die Küchenzeile gelehnt, und musterte ihn. Eine weite schwarze Jacke schlotterte um seine Schultern.

„Hast du’s dabei?“

Jonas ging langsam auf ihn zu. „Lass uns doch bitte miteinander reden. Es ist so lange her … Du hast einen neuen Namen. Hast du geheiratet?“

Xavi grunzte. „Das ist eine Ferienwohnung. Hältst du mich für so bescheuert, dass ich dir meine Adresse sage? Also, wo ist das Geld?“

„Hör mal, das funktioniert doch so nicht.“

„Verarsch mich nicht! Ich hab die Hütte gesehen, die Cronenburg und ihr Mann schwimmen im Geld, die berühmte Schauspielerin und der aufstrebende Politiker. Du bist doch so gut wie eingeheiratet. Also entweder, du besorgst mir die Kohle, oder ich hol die Leiche aus dem Keller und erzähle deiner Liebsten und den Schwiegereltern die Wahrheit.“

Xavi sah ihn unverwandt an.

„Liebe Frau Cronenburg, der Jonas hat als Kind seinen Vater ermordet und es seinem kleinen Bruder in die Schuhe geschoben. Wie hört sich das an?“

Jonas stand jetzt direkt vor ihm, suchte nach Worten.

„Bitte, hör mir zu“, setzte er an. „Wie stellst du dir das denn vor? Dass ich mit ‘nem Koffer zur Bank spaziere und mal eben ‘ne Viertelmillion abhebe?“

„Ist mir scheißegal, wie!“

Jonas stolperte rückwärts, mit dem heftigen Stoß hatte er nicht gerechnet, halb im Fallen griff er nach der Kante der Küchenzeile. Sein Blick fiel auf die Arbeitsplatte. Xavi folgte ihm. Sah den Messerblock.

„Willst du mich ins Messer laufen lassen, ja? So wie Edgar? Scheiß auf dich!“

Xavi trat nach ihm, außer sich vor Wut.

„Du willst dich doch nur aus der Affäre ziehen. Warum sollte sich etwas geändert haben? Warum solltest du etwas für mich tun? Trotz der verdammten Fotos, trotz der Be-wei-se! Du wirst nichts sagen, du wirst nicht zahlen, du wirst einfach weiter so tun, als existiere ich nicht. Aber dieses Mal irrst du dich.“

Xavi griff in seine Jackentasche, zog eine Waffe hervor. Entsicherte sie. Richtete sie auf Jonas.

„Gib mir das Handy. Ich fahre jetzt zu deiner kleinen Freundin, Verzeihung, Verlobten! Herzlichen Glückwunsch, der Herr! Ich zeige ihr und ihrer feinen Familie meine Fotos. Und wenn die auch zu blöd sind, mit der Kohle rüberzuwachsen, gehe ich direkt zur Presse.“ Xavi versuchte ein Grinsen. „Da habe ich ja schon meinen persönlichen Ansprechpartner!“

Jonas hielt sich die schmerzende Seite, versuchte sich hochzurappeln, seine Hand hing beschwichtigend in der Luft.

„Es tut mir leid. Wir können das klären. Du musst das doch nicht tun. Ich verstehe dich.“

„Tust du nicht.“

Jonas riss gerade noch den Arm vors Gesicht, bevor der Griff der Waffe seine Schläfe traf.

Er sackte zusammen, hielt sich den schmerzenden Kopf, sah seinen Bruder zur Wohnungstür laufen. Sein linkes Bein humpelte ein wenig.

Stöhnend zog Jonas sich hoch, versuchte den Schwindel abzuschütteln. Er schaffte es irgendwie die Treppen hinunter. Sah, wie Xavi ein Stück entfernt ins Auto stieg.

Jonas’ Wagen stand vor der Tür, er hastete zum Fahrersitz. Um diese Uhrzeit war der Spandauer Damm fast leer, er schloss fast zu Xavi auf. An der nächsten Kreuzung sprang die Ampel auf Rot, Jonas musste hart bremsen, sah Xavi vor sich, der Gas gegeben hatte. Sah den schwarzen Lieferwagen, der aus der Querstraße auf die Kreuzung schoss. Sah Xavis kleinen Polo, der beim Aufprall um die eigene Achse geschleudert wurde und in verkehrter Richtung zum Stehen kam. Sah die zerstörten Scheiben. Sah seinen Bruder.

 

VI ∙ Wir

„Warum, Jonas?“, wiederholt sie ihre Frage.

Sein Name hört sich falsch an aus ihrem Mund. Ihm fällt auf, dass sie es fast immer vermieden hatte, ihn direkt anzusprechen. Dass er es geschafft hat, sich in ihre Familie einzuschleichen, heißt nicht, dass sie ihn nicht auf Distanz zu halten weiß, denkt Jonas bitter.

„Ich kenne die Antwort“, sagt sie. „Wir sind uns am Ende doch sehr ähnlich, du und ich. Wir wollen die Dinge unter Kontrolle haben.“

Vera muss es ihr gesagt haben.

Nach Xavis Anruf hatte Jonas lange mit sich gerungen. Als Vera wiederkam, hatte er sich entschieden. Sie sollte es von ihm erfahren. Vera hatte gesagt, sie brauche Zeit zum Nachdenken. Sie musste mit ihrer Mutter gesprochen haben.

„Es geht hier nicht nur um euch“, sagt Katarina. „Nach allem, was wir ihr ermöglicht haben. Es hat ihr an Nichts gemangelt. Ich habe versucht, Vera die Position ihres Vaters klarzumachen. Gerade jetzt, wo Heinrich kurz davorsteht, die Führung in der Partei zu übernehmen und die Presse ihn unters Brennglas nimmt … will sie dich heiraten.“ Sie presst die Lippen zusammen. Ihre Schultern straffen sich.

„Ich musste wissen, woran ich bin. Wenn es keinen Dreck mehr gibt, kann man ihn nicht mehr ans Licht ziehen.“

Er wollte Dreck ausgraben. Xavis Worte fallen ihm ein.

„Dieser Journalist, der bei meinem Bruder aufgetaucht ist. Hast du den geschickt?“

„Das war kein Journalist. Dein Bruder hat ihn noch auf dem Weg zum Auto angerufen, wollte reden.“

„Du hast Xavi beschatten lassen?“, krächzt Jonas.

„Dein Bruder wollte zu uns, wollte alles erzählen, wer weiß, wem sonst noch. Ich musste handeln. Meine Familie schützen. Ich habe grünes Licht gegeben.“

Grünes Licht. Der Lieferwagen, der wie aus dem Nichts kam.

Nein. Er schüttelt den Kopf, weicht zurück.

Katarina tritt auf ihn zu.

„Jetzt wissen wir beide, woran wir sind. Da eure Heirat nun stattfindet – denke ich, wir beide kennen die Antwort auf meine Frage. Du hast erreicht, was du wolltest.“

Ihre eisblauen Augen taxieren ihn. Er will sich abwenden, überwindet sich, bleibt stehen.

„Das bessere Leben stellt einen oft vor die Wahl. Du hast dich schon früh entschieden, Jonas.“

Katarinas Blick lässt ihn los. Sie dreht sich um, lässt ihn stehen, ihre hohen Absätze bohren sich bei jedem Schritt in den sandigen Boden. Sie erreicht das Friedhofstor, ohne sich noch einmal umzudrehen, steigt in ihren glänzend schwarzen SUV und rollt davon.

 

Jonas bleibt zurück. Sein Schädel pocht zum Zerspringen, sein Herz rast. Er versucht, seine galoppierenden Gedanken einzufangen, sieht den schweren Lieferwagen in Xavis Auto krachen, hört das Kreischen des Metalls.

Die Kreuzung liegt nur wenige Hundert Meter vom Friedhof entfernt.

Leben und Tod, so nah beieinander.

Er verharrt vor der unberührten Stelle Rasen, vor dem noch fehlenden Grab. Xavis Platz.

„Es tut mir so leid, kleiner Bruder. Ich war nicht für dich da. Aber diesmal bin ich es.“

Jonas hält inne, schluckt Tränen herunter.

„Ich werde die Wahrheit sagen. Wir werden es beide tun.”

Er zieht ein zerknittertes Formular aus der Tasche, das ihm der Steinmetz des Friedhofs am Vormittag mitgegeben hatte, klopft seine Taschen nach einem Stift ab. In der Innentasche seines Jacketts findet er seinen „Unterschriftenfüller“. Veras Geschenk zu ihrer Verlobung.

Vera. Er hatte sie nicht verloren. Sie will ihn immer noch heiraten, hatte Katarina gesagt. Hatte sie gelogen?

Kann Vera damit leben, was ich getan habe – was ich bin?

Jonas geht zu dem verwitterten Stein des verwilderten Nachbargrabes, vorbei an dem kopflosen Engel, legt das Formular auf die Kante des Grabsteins und streicht es glatt.

Er öffnet den Füller und schreibt mit zittrigen Fingern auf die mit „Inschrift“ versehene Zeile:

MEINEM KLEINEN BRUDER

22 5 18 26 5 9 8  13 9 18.

 

Verzeih mir.

4 thoughts on “Der Verrat

  1. Moin Jeanine,

    was für ein Erzähltempo, dadurch bekommt deine Geschichte ihren eigenen Drive. Dramatik, Spannung, alles Da!

    Keine Post ist gute Post….mein Lieblingsspruch zum Wochenende, auf dem Weg zum Briefkasten. 😅👍🏻

    Ein richtig guter Plot, mit einem unerwarteten Twist zum Schluß. Die Idee mit dem Kühlschrank Code zeigt deine Kreativität.
    Kurzgeschichte at his Best! Hat mir wirklich gut gefallen.
    Wie du die Szene zwischen Xavi, Jonas und Edgar beschreibst war richtig krass.
    Du benutzt einen sehr flotten Schreibstil.

    Wirklich nichts dran auszusetzen. Außer vllt, warum hast du so wenig Likes? Deine Geschichte ist besser, als die Anzahl der Herzen.

    Ich lass dir auf alle Fälle ein Like da und hoffe das noch viele meiner Empfehlung folgen. Deine Geschichte braucht Leser!

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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