AnnabellDer Voyeur

Die Morgensonne bahnt sich ihren Weg durch die halb zugezogenen, purpurfarbenen Gardinen. Die Vögel die ein Gesangskonzert vor dem Fenster veranstalten, wecken Amelie. Gestern Abend ist es spät geworden. Während sie sich aus dem Bett quält, bewegt sich der nackte Körper neben ihr. Sie steht auf, darauf bedacht eine dünne Decke um ihren ebenfalls nackten und verschwitzten Körper zu legen. Bierflaschen erzeugen ein lautes Geräusch, als sie diese mit dem Fuß umstößt.  Am Fenster stehend beobachtet sie den Sonnenaufgang. Die Aussicht in den kleinen Garten hinter ihrem Gebäudekomplex komplettiert dieses malerische Bild. Der Gärtnerdienst hat gute Arbeit geleistet. Das findet aller Anschein nach auch ihr Nachbar, der Kaffee trinkend auf dem Balkon schräg gegenübersteht. Bevor er sie entdecken kann, öffnet sie die weiße Flügeltür und lässt somit mehr Sonnenstrahlen ins Zimmer. Einem folgt sie. Er streicht das Gesicht des nackten Mannes in ihrem Bett. Er ist keineswegs ein Unbekannter. Adrian ist jetzt schon seit fast zwei Jahren ein fester Bestandteil von Amelies Lebens. Zusammen haben die beiden die vier-Zimmer-Wohnung nach nur acht Monaten bezogen. Anfangs war auch alles wie in einem dieser kitschigen Liebesfilme die sie sich regelmäßig mit ihrer besten Freundin anschauen muss. Dann kam der Alltag. Adrian trinkt, oft. Und sie muss ihn oft irgendwo Spätabends abholen, bevor er eine Prügelei anfängt. In letzter Zeit ist es noch schlimmer geworden. Sie sitzt an der Theke und schaut der Kaffeemaschine beim laufen zu. Während der Kaffee Tropfen um Tropfen mehr in der Kanne wird, denkt sie immer mehr über ihr Leben nach.

Frisch geduscht und in einem schwarzen Bleistiftrock und nur mit einem BH obenrum bekleidet steht sie vor ihrem Kleiderschrank. Amelie schiebt ihre Blusen immer wieder hin und her, kann sich nicht entscheiden, was sie anziehen will. Ihrem Chef ist es sicherlich egal, ob sie jetzt sie purpurfarbene oder die waldgrüne Bluse anzieht. Sie hatte schon öfter schmierig-anstößige Kommentare von ihm zu hören bekommen. Aber was will sie schon großartig machen? Immerhin ist er der Vater ihres ehemaligen Klassenkameraden. Mal ganz davon abgesehen, dass ihr niemand glauben würde, dass dieser hochangesehene Mann eine Mittzwanzigerin belästigen würde. Das hatte er doch gar nicht nötig, mit seiner neuen Frau die quasi so alt war wie sie, seiner wunderbaren Ex und seinem erfolgreichen Sohn, seiner rechten Hand. Amelie schüttelt den Kopf. Darüber sollte sie sich nicht auch noch Gedanken machen. Sie sollte froh sein unter Maximilian arbeiten zu können.  Das ist weitaus unkomplizierter. Sie entscheidet sich letztendlich für eine pastelpinke Bluse, vergisst aber dabei nicht das Unterhemd, um peinliche Situationen zu vermeiden. Auf dem Weg zur Wohnungstür sieht sie Adrian am Küchentisch sitzen, Kaffee trinkend. Mit einer knappen Verabschiedung schnappt sie sich ihre Jacke und verschwindet durch die Tür. Draußen atmet sie erst einmal durch. Sie weiß nicht, was sie noch tun soll.

Im Büro angekommen, lässt Amelie sich in ihren Bürostuhl sinken. Die Fahrt hierher war nervenzehrend. Zum Glück war sie nun endlich hier, wenn auch fünf Minuten später als geplant. Als sie ihr Büro betrat, hatte sie bereits ein merkwürdiges Gefühl. Irgendetwas war anders. Als sie dann das Klingeln eines Telefons aus ihrem Schreibtisch hörte, setzte ihr Herzschlag für den Bruchteil einer Sekunde aus. Mit zittrigen Fingern öffnet sie die unterste Schublade ihres dunklen Schreibtisches. Das Handy was sie in der Hand hält ist ihr gänzlich unbekannt. Einen Code braucht sie nicht, denn das Smartphone ist in keiner Weise gesperrt. Wirklich viel ist darauf nicht zu finden. Bis auf die vorinstallierten Standardprogramme scheint nichts weiter auf dem Handy zu sein. Amelie öffnet nun die Nachricht, die sie überhaupt erst auf das mysteriöse Handy aufmerksam gemacht hat. Ein ungutes Gefühl macht sich in ihrer Magengegend breit. Nur eine Anweisung. Das ist das einzige was in der SMS steht. Öffne die Galerie. Sollte sie das tun? Anweisungen von jemanden entgegennehmen, den sie nicht kennt? Dazu kommt ja auch, dass dieses Handy nicht ihr gehört. Mit zittrigen Fingern streicht Amelie über das recht kleine Display. Sie schaut noch einmal kurz zu ihrer geschlossenen Bürotür um sicherzugehen, dass sie alleine ist. Die Galerie des Handys öffnet sich, es sind 15 Fotos gespeichert. Sie tippt auf den Bildschirm um das erste Bild zu vergrößern. Ihr stockt der Atem. Tränen treten in ihre Augen, ihre Sicht beginnt zu verschwimmen. Das Bild wird immer undeutlicher, aber eigentlich hat es sich schon in ihre Netzhaut eingebrannt. Es zeigt Amelie. Fast nackt mit Adrian. Sie kann nur schwer die Tränen zurückhalten, die ihre Wangen hinab rollen wollen. Sie darf jetzt nicht in Hysterie verfallen. Während sie versucht sich zu beruhigen, schließt sie die Galerie und öffnet die Nachrichten. Sie will die Nummer anrufen, aber als sie diese wählt, kommt nicht mehr als eine elektronische Ansage. „Ihr aktuelles Guthaben beträgt null Euro und null Cent…“ Amelie drückt den roten Hörer, noch bevor die automatische Ansage zu Ende sprechen kann. Das kann doch nicht wahr sein, warum passiert ihr sowas. Bevor sie weiter darüber nachdenken kann, überlegt Amelie sich einen Plan. Sie muss als erstes das Guthaben der Karte aufladen. Dieser dreckige Voyeur muss offensichtlich in seine Schranken gewiesen werden. Als nächstes sollte sie sich Gedanken machen, ob und wenn ja wie sie es Adrian beibringt. Um überhaupt festzustellen, ob es nötig ist, muss sie sich die restlichen Bilder auch ansehen. Sie öffnet also wieder die Galerie. Beim ansehen kommen nicht wirklich anzüglichere Bilder, als das welches sie als Erstes gesehen hat. Bis sie beim ersten Bild ankommt. Es zeigt sie, wie bei den anderen Bildern auch. Das ist nichts Ungewöhnliches. Das schockierende ist die Situation in der sie sich befindet. Sie steht unter der Dusche, ihr Rücken ist der Kamera zugedreht. Wer auch immer dahinter steckt, war bereits in Amelies Wohnung. Ein kalter Schauer läuft ihren Rücken hinab, die Kälte kriecht in ihre Knochen. Ihr ist schlecht, am liebsten würde sie sich gerade übergeben.

Den restlichen Tag über war sie nur ein Schatten ihrer selbst. Die Tatsache, dass jemand ein Handy mit Bildern von ihr und Adrian in ihrem Schreibtisch deponiert hat, ist schlimm genug, aber dass die Person die dahinter steckt offensichtlich auch in ihrer Wohnung war, lässt sie immer wieder innehalten. Amelie fühlt sich angegriffen, entblößt und will eigentlich gar nicht zurück in die Wohnung. Sie steht aber schon seit einer geschlagenen halben Stunde vor der Wohnungstür. Warum hatte sie nichts bemerkt? Das Handy steckt irgendwo in ihrer Tasche, zusammen mit einem Prepaid-Guthaben, zwischen Portemonnaie und ihren Schlüsseln. Dadurch fühlt sich ihre Tasche viel schwerer an, als sie eigentlich ist. Während Amelie so vor der Tür steht, geht sie Möglichkeiten in ihrem Kopf durch, wie jemand in ihre Wohnung gelangen konnte ohne, dass es jemand gemerkt hat. Hatte sie vergessen die Tür zu schließen oder, und das ist eine Option die sie am meisten fürchtet, kennt Amelie die Person? Eine Stimme dringt zu ihr durch, sie fühlt sich wie in Watte gepackt. Adrian greift sacht ihren Arm. Als Amelie ihn ansieht, schaut er sie besorgt an. Er öffnet die Wohnungstür und zieht sie mit sich. Amelie versucht zu reagieren, aber schaffen tut sie es nicht. Sie muss sich zusammenreißen, Amelie hatte beschlossen Adrian nichts davon zu sagen. Zumindest vorerst. Aber so wie sie sich gerade verhält, wird es schwer zu erklären, weshalb sie sich so gestört benimmt. Als sie aus ihren Gedanken aufwacht, steht Adrian nicht mehr vor ihr, scheinbar ist er in der Küche. Sie muss in das Schlafzimmer. Dort angekommen, schaut sie sich um. Es muss ein gutes Versteck sein, an dem sie das Handy deponieren kann. Ihr Blick schweift über das große anthrazitfarbene King-Size-Bett, darunter wäre es zu schnell zu finden. Weiterhin sieht sie ihren Nachtschrank, doch auch hier könnte es Adrian viel zu schnell finden. Dann fällt ihr ein, dass der Voyeur Amelie vielleicht auch jetzt, in diesem Moment beobachten könnte, also geht sie zu den bodentiefen Fenstern und zieht die purpurfarbenen Vorhänge zu. Amelie streicht sich durch ihre Haare, sie fühlen sich knotig an. So wie sie vorhin durch die Stadt gehetzt ist, ist das auch kein Wunder. Als sie den Fenstern den Rücken kehrt, fällt ihr Blick automatisch auf ihre Schrankseite und sieht eine kleine unscheinbare Kiste, welche vorher noch nicht da war. Während sie darauf zugeht, streift sie ihre Schuhe ab. Normalerweise hasst sie es, wenn jemand mit Straßenschuhen durch die Wohnung läuft, aber gerade ist das nebensächlich. Das Objekt ihrer Begierde ist gerade die kleine Kiste. Als sie diese öffnet, trifft sie der Schlag. Mehr Bilder. Sie zeigen Amelie auf dem Weg zur Arbeit, beim Einkaufen und beim Schlafen. Am Boden der Kiste steht etwas geschrieben. Es ist krakelig. Derjenige, der das geschrieben hat, war anscheinend in Eile. Und er war in ihrer Wohnung, erneut. Ihre Brust zieht sich zusammen und sie bekommt nur noch schwer Luft. Sie keucht mittlerweile laut, versucht sich zu beruhigen. Aber es fällt ihr schwer. Alles um sie dreht sich. Sie sieht an die Decke. Diese weiße, aber hölzerne Decke ist gerade alles, was sie noch wahrnehmen kann. Von weitem hört sie etwas zersplittern, spürt Vibrationen wie, wenn jemand los sprintet, hört eine tiefe Stimme nach ihr rufen. Das nächste was Amelie mitbekommt ist, wie sich Adrian über sie beugt. Sein Gesicht ist von Besorgnis durchzogen.

Na, wie fühlt es sich an, so nackt, Amelie?

Immer öfter und öfter wiederholen sich diese geschriebenen Worte in ihrem Kopf. Sie verschwimmen miteinander. Unmöglich sich noch darauf zu konzentrieren, hofft Amelie aus diesem Albtraum aufzuwachen. Dann ein brennender Schmerz auf ihrer Wange. Sie kommt mehr und mehr in die Wirklichkeit zurück. Als erstes greift sie reflexartig an ihre Wange und reibt diese. Dann schaut sie in Adrians moosgrüne Augen. Wortlos nimmt er sie in den Arm. So fest wie er sie hält, hat sie für einen Moment weder Paranoia noch Todesangst. Wer soll schon davon wissen? Warum sollte diese Sache nach all den Jahren wieder zur Sprache kommen? Adrian bemerkt die umgekippte Kiste auf dem Teppich vor dem Kleiderschrank. Bevor Amelie ihn aufhalten kann, hebt er sie an und sieht die Bilder. Sie sieht seinen Kiefer mahlen, sein Gesicht wird zunehmend ernster und seine Augen verdunkeln sich. Als sein Blick sich wieder auf Amelie richtet, erkennt sie die unausgesprochene Frage die auf der Zunge brennt. Wer tut das Alles? Wenn sie das nur wüsste. Aber obwohl Amelie keine Ahnung hat, wie es jetzt weiter gehen soll, ist sie zumindest nicht mehr alleine damit. Sie greift zu der Tasche die ihr von der Schulter gerutscht ist und dessen Inhalt sich über den Boden verteilt hat. Amelie sucht das Handy. Stumm reicht sie es ihrem Freund. Er greift danach und umso länger er sich die Bilder ansieht, umso wütender wird er. Von den Problemen der Beziehung, dem Alkoholmissbrauch ist gerade nichts mehr zu spüren. Er legt ihr seine Hand auf die Schulter. Gerade als er ansetzen will etwas zu sagen, vibriert das Handy in seiner Hand. Es geht also weiter. Bevor Adrian die Nachricht lesen kann, schnappt sie sich das Handy. Es geht um sie, also schaut Amelie sich auch als erste die Nachricht an. Ich hoffe meine Geschenke haben dir gefallen. Bald weißt du wie es ist bloßgestellt zu werden. Wieder ergreift sie ein kalter Schauer. Amelie springt auf und sprintet ins Bad. Geradeso kann sie den Klodeckel hochmachen, als es schon aus ihr herausbricht. Adrian hält ihr die Haare zurück und streicht über Amelies Rücken.

Es ist mittlerweile spät in der Nacht. Während Adrian schläft, liegt Amelie noch wach und rollt sich hin und her. Sie kann nicht aufhören daran zu denken, wer ihr das antun will, was sie selbst getan hat. Was sie bis heute zutiefst bereut. Aber wer soll das sein? Die einzigen, die noch übrig sind und davon wissen, sind Amelie, ihre beste Freundin und die Familien aller Beteiligten. Sie hätte da nie mitmachen dürfen. Von ihrem Nachttisch kommt ein vibrieren, kurz darauf wird das Schlafzimmer in ein leichtes Licht gehüllt. Die Vorhänge sind immer noch geschlossen. Zu groß war die Angst, wieder beobachtet zu werden.

Halte deine Freunde nah bei dir, aber deine Feinde noch näher.

Eine weitere kryptische Nachricht. Über den Abend hinweg kamen immer Mal Nachrichten oder neue Bilder. Wenn sie geschrieben hat, kam nie eine Antwort zurück. Ob sie die einzige ist, die in diese Sache hineingezogen wurde? Wollte der Voyeur ihr sagen, dass er in ihrem Umfeld agiert? Aber wer sollte von ihrer Vergangenheit wissen?

Es ist Sommer. Ganz München ächzt unter der Hitze. Der Regen wird sehnlichst erwartet. Das Eis läuft langsam über ihre Finger, sie kommt nicht hinterher damit es aufzulecken. Während sie auf der Wiese vor sich hinsitzt, lauscht sie nur mit halbem Ohr dem, was ihre Beste Freundin sagt. Bis Amelie auf einmal von ihr angestoßen wird. Die Eiskugel rutscht verdächtig in ihrer Waffel, aber fällt letztendlich doch nicht. „Schau mal, der Freak ist da.“ Während Karolin hämisch lacht, folgt Amelie der Richtung in die der Finger ihrer Besten Freundin zeigt. Sie hat recht. Der Junge der von allen gehänselt wird ist da, obwohl er weiß das die Häme hier nicht abbrechen wird. Irgendwie tut er ihr leid, aber wenn sie für ihn Partei ergreift, würde es ihr ganz schnell genauso ergehen. Amelie sieht, wie jemand ihm ein Bein stellt. Er stolpert und fällt. Sie wendet ihren Blick ab, sie sollte sich dafür nicht interessieren. „Es wird Zeit, dass er seine Lektion lernt. Freaks gehören nicht zu uns.“

Es ist dunkel. Nur die kleine Taschenlampe leuchtet den steinigen Weg aus. Seit dem Nachmittag sind einige Stunden vergangen. Amelies Beste Freundin hatte sie zu dem hier überredet. Sie denkt, was soll es? Es ist ja nur ein harmloser Streich. Durch ihre fehlende Aufmerksamkeit rennt sie fast in Karolin rein. Die Blonde schaut Amelie nur mahnend an, zumindest denkt sie das. Es ist zu dunkel und sie erkennt nur die Hälfte. Die Taschenlampe wird ausgemacht. Die beiden stehen unter seinem Fenster. Aus dem Zimmer des Jungen kommt noch ein leichter Lichtschimmer, er ist noch wach. Amelies Herz klopft ihr bis zum Hals. Jetzt ist der Punkt erreicht an dem sie nicht mehr umkehren kann. Karolin zückt ihr Handy, natürlich nur das neueste für Papis Prinzessin. Sie hebt es so hoch, wie es nötig ist um zu sehen, was er in seinem Zimmer macht, dann drückt sie ab. Macht immer mehr Bilder. Dann ist es auch schon vorbei. Sie gehen so schnell wie sie gekommen sind und am nächsten Tag tun beide etwas, was das Leben aller in ihrem Umfeld ändern wird.

Mit Gänsehaut überzogenen Armen und einem mordsmäßig schlechten Gewissen wacht sie aus ihrer Vergangenheit auf. Sie greift ihr eigenes Handy und öffnet den Chat mit ihrer Karolin. Wir hätten ihm das nie antun dürfen. Fast direkt kommt Karo online und liest ihre Nachricht. Während die Blonde schreibt, hört Amelie ihren eigenen Herzschlag und das Blutrauschen in ihren Ohren. Es ist jetzt so wie es ist. Er ist Tod. Lass ihn, genauso wie die Vergangenheit ruhen. Direkt danach ist sie wieder offline. Ja, Karo, er ist Tod. Wegen uns. Weil sie ihre beste Freundin nicht aufgehalten hatte, die Bilder überall herumzuschicken. Amelie hatte es verdient, dass ihr das jetzt passiert. Aber ist sie die einzige? Wenn ja, warum? Karolin ist genauso schuld daran, dass dieser Streich komplett aus dem Ruder gelaufen ist.

Der Morgen ist verregnet. Sie steht total verschlafen vor dem Spiegel und versucht die tiefen Augenringe zu überschminken. Adrian ist schon längst weg. Natürlich nicht ohne ihr zu raten, dass sie heute lieber zu Hause bleiben sollte. Doch Amelie will zumindest versuchen auf Arbeit zu gehen. Auch wenn sie nicht weiß, was sie noch erwartet. Der Voyeur hat seit seiner letzten Nachricht nichts weiter von sich hören lassen, was sie nicht unbedingt beruhigt. Sie hatte sich die restliche Nacht den Kopf zermartert, wer er, oder sie, sein konnte. Sollte sie die letzte Nachricht so gewichten und in ihrem Umfeld schauen? Aber wer könnte ihr das antun? Sie dreht sich immer weiter im Kreis. Letztendlich gibt sie es auf sich für die Arbeit zu schminken. Oder sich generell dafür fertig zu machen. Nachdem Amelie sich für den heutigen Tag krank gemeldet hat, beschließt sie ihre Mutter anzurufen. Amelie muss sie fragen, ob der Bruder des Jungen auch in Hamburg ist.

Ernüchterung. Das ist wahrscheinlich das Gefühl, was gerade dem am nächsten kommt, was sie empfindet. Ihre Mutter meinte, dass bevor sie selbst nach Hamburg gezogen sind, um das letzte Schuljahr fernab von der Tragödie zu verbringen, ist auch die Familie des Jungen aus München weggezogen. Wohin, wusste ihre Mutter nicht. Verständlicherweise wollte die Familie Ruhe um trauern zu können. Als sie sich auf die Couch fallen lässt, stöhnt sie kurz laut auf. Nahezu gleichzeitig geht ein Anruf ein. Von ihrem Maximilian, ihrem Klassenkameraden und ihrem jetzigen Chef. Sie runzelt die Stirn. Was will er? Sie hatte sich krank gemeldet und es waren keine Aufgaben liegen geblieben. Amelie nimmt den Anruf entgegen und noch bevor sie sich melden kann, redet der Mann am anderen Ende der Leitung los. Wie ein Wasserfall. Sie hat Probleme ihm zu folgen, aber umso mehr bei ihr durchsickert, umso bleicher wird Amelie. Max warnt sie. Und er gibt ihr auf unbestimmte Zeit frei.

Der Voyeur hatte ihre Bilder an den Vorstand geschickt und in ihrer Abteilung aufgehangen. In Amelie herrscht eine Leere, die sie zuletzt bei der Nachricht des Selbstmordes von Vincent gefühlt hatte. Tränen rinnen stumm über ihre Wange. Was sie jetzt tun sollte? Das wusste sie nicht. Was Amelie wusste war, dass dieses ihr mittlerweile gar nicht mehr so fremde Handy klingelt. Wirklich klingelt. Mit einer Gleichgültigkeit nimmt sie den Anruf entgegen. Mehr als ein kratziges Hallo bekommt sie nicht über ihre Lippen. Ihr Mund ist staubtrocken.

„Du wirst niemals auch nur ansatzweise wissen, wie sich Vincent gefühlt hat. Du hast es nicht anders verdient. Es ist noch nicht vorbei. Ich hoffe du schmorst in der Hölle.“

Die Stimme ist verzerrt und doch kommt ihr der Klang so vertraut vor. Sie kann es nur nicht einordnen. Als wäre das alles heute noch nicht genug, ruft Amelies Mutter erneut an. Sie ahnt böses, normalerweise telefonieren die beiden nicht so oft an einem Tag. Fast verpasst sie es, den Anruf entgegen zu nehmen. Kurz bevor ihre Mailbox übernimmt, hebt sie ab.

„Mama, gerade ist es echt schlecht.“

„Du meinst, weil jemand dir dasselbe antut, wie es damals dem armen Jungen widerfahren ist?“

Amelie unterdrückt ein Schluchzen. Ihre Kehle wird durch einen unsichtbaren Strick immer mehr zugeschnürt. Ihre Mutter merkt, dass sie wohl nicht antworten wird und redet weiter. Noch mehr Hiobsbotschaften.

„In der Post war ein Umschlag. Ich habe mir nur ein Bild angesehen, wer tut dir das an, Schätzchen?“

Jetzt bricht Amelies Welt endgültig zusammen. So schnell wie das Spiel angefangen hat, so schnell hat es seinen Höhepunkt erreicht. Amelie hört ihre Mutter nach ihr fragen, aber das ist nur noch nebensächlich. Wie in Watte gepackt, weiß sie selbst nicht welche Handlungen ihr Körper ausführt. Das war einfach zu viel. Sie kann weder mit der Schuld noch mit dieser totalen Blamage vor all ihren Liebsten und vor ihren Kollegen leben. Sie ist ruiniert. Hoffentlich hat Adrian nicht auch was von diesem Schlamassel abbekommen. Wie auf Stichwort dreht sich der Schlüssel im Schloss der schlicht-weißen Wohnungstür. Adrian betritt die Wohnung. Er sieht zufrieden aus. Warum weiß sie nicht. Aber wenigstens ein Leben ist nicht ruiniert. Als sein Blick sie trifft, blitzt etwas in seinen Augen auf, was Amelie nicht zuordnen kann. Er setzt sich zu ihr und nimmt sie in den Arm. Als hätte sie das ermutigt, fängt sie an ihm zu erzählen, was passiert ist. Er streichelt wieder ihren Rücken, hört sich an wie sie ihm ihr Herz ausschüttet, ihr Leid beklagt. Im selben Atemzug äußert Amelie auch ihre Vermutung, dass es jemand der Vincent nah stand gewesen sein muss, vielleicht sein Bruder?

Dann fällt ein Satz, den Amelie so nie erwartet hätte. Nicht von ihm. Nicht von dem Mann, mit dem sie das Bett teilt, dem sie vertraut.

„Du hast Recht. Ich wollte meinen Bruder rächen. Das es so schnell gehen würde dich zu brechen, habe ich nicht erwartet. Ich hätte gerne noch mehr mit dir gespielt.“

Dann wird alles schwarz.

 

 

One thought on “Der Voyeur

  1. Moin Annabell,

    dann schenke ich dir mal deinen ersten Kommentar.

    Eine tolle Geschichte die du dir hier für den Wettbewerb ausgedacht hast.

    Lies sich gut lesen und der Plot hat mir auch gut gefallen.

    Magst du mir noch erzählen was du mit „ wie in Watte gepackt „ aussagen willst? Der Sinn zu der Metapher erschließt sich mir nicht, kann natürlich auch sein das es was mit regionaler Ausdrucksweise zu tun hat. Ich als Hamburger habe dieses Beschreibung, in Verbindung mit deiner Formulierung noch nie gehört.

    Das Stilmittel mit der Beschreibung der Farben ist für die Geschichte nicht wichtig. Das solltest du vllt nur ab und zu einsetzen. Als du von purpurfarbenen Gardinen/Vorhängen geschrieben hast und dann kurze Zeit später von purpurfarbener Bluse, wollte ich Amelie zu schreien…“ nimm die purpurfarbene Bluse, die passt zu deinen Vorhängen“ 😅😅

    Aber insgesamt hat deine Geschichte viel gutes enthalten und ich fühlte mich gut unterhalten.

    Ich lass dir gerne ein Like da, dafür das du an diesem Wettbewerb teilgenommen hast und wünsche dir alles gute für‘s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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