LeitkuhUschiDer Werwolf

»Es war wieder derselbe Raum. Das Hotelzimmer mit den roten Wänden«, begann Paul ohne Umschweife zu erzählen, kaum dass er Platz genommen hatte. Nicht einmal die übliche Begrüßungszeremonie wartete er ab, die jede Sitzung mit den Worten »Hallo, Paul. Wie geht es dir heute?« begann.

Nein. Heute hatte er den Drang, sofort von dem neusten Traum zu erzählen, der ihn irgendwie nicht loslassen wollte.

»Das Wetter war anders. Es war zwar wie immer dunkel, aber es schiffte auch wie verrückt.«

Der Psychiater warf ihm diesen tadelnden Blick über den Rand seiner Brille immer dann zu, wenn Paul sich vergaß und nicht mehr auf seine Wortwahl achtete. Doch im Gegensatz zu sonst, fiel es ihm heute unglaublich leicht das einfach zu ignorieren.

»Erst habe ich kaum etwas gesehen. Dann geschah das, was immer geschieht.« Unbewusst grub er eine Hand in den Bezug des Stuhls auf dem er saß. Die andere ballte er zur Faust. »Der Raum wurde plötzlich hell. Ich denke, dass es diesmal ein Blitz war.«

Sein Blick war starr auf die Brust des Psychiaters gerichtet, ohne ihn überhaupt wahrzunehmen.

»Und dann sehe ich ihn, den Berg.«

Beim ‚Berg‘ handelte es sich um ein Konstrukt aus menschlichen Körpern, akkurat aufeinandergestapelt, direkt im Zentrum des Zimmers platziert. Die Parameter waren in jedem Traum gleich. Der blutgetränkte Boden.  Die Tatsache, dass sie alle nackt und verstümmelt waren und ein riesiges Loch in ihrer Brust klaffte. Lediglich die Gesichter und Geschlechter der Leichen unterschieden sich – und diesmal noch etwas anderes.

»In keinem meiner Träume hatte es bisher einen Überlebenden gegeben. In diesem schon.«

Ihm wurde ganz anders, als er sich an die vor Schreck weit aufgerissenen Augen der Frau erinnerte.

»Es war ein Mädchen, ungefähr in meinem Alter. Mitte, Ende zwanzig. Sie lag auf dem Boden und sie war verletzt. Aber sie atmete noch, griff nach mir und flehte mich an, sie nicht zu töten.«

Er schluckte und senkte den Blick zu Boden. Sagen, wie der Traum endete, musste er nicht.

Der Psychiater, der ihm bisher ganz ruhig gegenüber saß und Paul reden ließ, nickte nun.

»Hör mir zu, Paul.«

In aller Seelenruhe klappte er den Notizblock zu und legte ihn neben sich auf das kleine Beistelltischchen. Dann schob er sich die Brille in die für sein vorangeschrittenes Alter zwar grauen, aber noch überraschend vielzähligen Haare, und faltete die Hände im Schoß ineinander.

„Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen, kann ich dir sagen, dass diese Träume weder beunruhigend noch überraschend sind. Natürlich unterliege ich der Schweigepflicht, aber Fakt ist, dass du nicht der einzige mit derartigen Träumen bist. Seit sieben Monaten  ist der Werwolf jetzt da draußen. Die Leute haben Angst und es ist ganz normal, dass jeder unterschiedlich darauf reagiert. Manche können solche schrecklichen Geschehnisse einfach verdrängen. Andere nicht.«

Der Psychiater zeigte mit einer Handbewegung in Pauls Richtung und legte eine Pause ein, um das Gesagte sacken zu lassen.

»Das was du erlebt hast, ist traumatisch und ich denke, dass das ein Schutzmechanismus ist, um dich von dem abzulenken, was dich eigentlich beschäftigt. Habe ich Recht?«

Natürlich hatte der Psychiater Recht. Das hatte er immer.

Die ganze Stadt lebte in permanenter Angst vor dem Serienkiller. Der Werwolf mordete immer zum Vollmond, auf dieselbe Art und Weise. Man fand nie eine Leiche, sondern nur Haare, Hautfetzen und ein Herz. Gerade genug, um die Personen zu identifizieren. Niemand wusste, nach was für einem Muster er seine Opfer wählte oder ob man selbst das Nächste war. Trotzdem hatte Paul seine ganz eigenen Probleme und die fingen vor fünf Monaten an.

Im letzten Moment hatte man den fast zwei Meter großen Mann mit schulterlangen, braunen Haaren und dunklen, fast schwarzen Augen aus den eisigen Fluten des reißenden Flusses geborgen.

»So nennen sie dich? John Doe? Du siehst gar nicht aus wie ein John… Was hältst du von Paul?«, hatte die Schwester im Krankenhaus vorgeschlagen, in das man ihn nach der beinahe gescheiterten Rettungsaktion gebracht hatte. Für mehr als fünf Minuten stand sein Herz still. Zunächst war das die Erklärung für den vollkommenen Gedächtnisverlust.

Nicht einmal an seinen eigenen Namen konnte er sich erinnern. Ebenso ein Geheimnis blieb sein genaues Alter, Herkunftstort und warum er es offenbar für eine gute Idee hielt, mitten im Dezember schwimmen zu gehen. Dass der junge Mann versuchte sich das Leben zu nehmen, stand zwar im Raum. Diesen Gedanken verwarf man jedoch, als sich die Ärzte seinen geschundenen Leib zum ersten Mal ansahen.

Paul hatte einen recht athletischen Körper, als man ihn fand. Die unnatürliche Blässe und mehrere Nährstoffmängel wiesen allerdings darauf hin, dass er einige Jahre in Gefangenschaft gelebt haben muss. Ein weiteres Indiz dafür war seine Haut. Tiefe Narben übersäten seine Arme, Beine, Füße, den Oberkörper, sowie seinen Rücken und sogar das Gesicht. Der gut zehn Zentimeter lange Schnitt unter dem rechten Auge war mit Abstand die auffälligste Verletzung und anhand der Heilung geschätzt auch die älteste.

Das unverhoffte Erscheinen Pauls, wäre für gewöhnlich eine Attraktion in der kleinen Stadt gewesen, in der sonst kaum etwas Aufregenderes passierte, als die Wahl eines Bürgermeisters asiatischer Herkunft oder ausverkauftes Toilettenpapier im einzigen Laden im Umkreis. Doch durch die Krise, die der Werwolf ausgelöst hatte, wollten viele den fremden Eindringling so schnell wie möglich loswerden. Einige Bewohner starteten sogar Petitionen, zum Abschieben des ungewöhnlichen Sonderlings, während sich andere, trotz der aktuellen Lage, darum rissen, am Aufklären des Falls zu arbeiten.

Zu beschreiben, welcher Kategorie der Psychiater angehörte, war schwierig. Zu Beginn wirkte er nicht sonderlich begeistert, als man ihn bat, ein psychologisches Gutachten für Paul zu erstellen. Doch schon nach der ersten Sitzung war sein Ehrgeiz geweckt.

Und obwohl die beiden kaum unterschiedlicher sein konnten, hatten sie doch eine Sache gemeinsam: einen Verlust. Während der Pauls psychischer Natur war, war der des Psychiaters physischer und für jeden, in Form des Rollstuhls, sichtbar. Vielleicht gelang ihm deshalb als einziger zu ihm durchzudringen und ihn nach kürzester Zeit als einen funktionierenden Teil in die Gesellschaft zu integrieren.

Seit einigen Wochen lebte Paul allein in einer Wohnung und nicht mehr in der medizinischen Einrichtung am Stadtrand. Er hatte sogar einen Job in der einzigen Tankstelle weit und breit. Die Bedingungen für diese Privilegien waren, dass er sich nicht ohne Begleitung außerhalb der Stadt aufhalten durfte und regelmäßig zu den wöchentlich mindestens zwei Mal anberaumten Sitzungen erscheinen musste. Es war nicht schwer beide Kriterien zu erfüllen. Zum einen hatte er keine Freunde. Zum anderen mochte er die Zeit mit dem Psychiater.

Wie üblich war die Stunde schneller beendet, als ihm lieb war und der Psychiater klatschte in die Hände.

»Wir machen Fortschritte, mein Junge!«

Auf seinem Notizblock notierte er den nächsten Termin, riss den Zettel ab und reichte ihn Paul.

»Meine Bitte an dich ist: Lass die Finger von den Medien! Versuch keine Nachrichten zu gucken oder zu lesen. Es wird dich nur beunruhigen, so wie alle anderen auch.«

Während Paul beim Betreten der Praxis verunsichert und erschöpft war, verließ er sie wie üblich mit einem guten Gefühl und angeheiterter Stimmung. Doch änderte sich das, als dieser rücksichtlose Jogger ihn über den Haufen rannte.

Ohne sich die Mühe zu machen, Paul aufzuhelfen, der durch den Aufprall zu Boden gefallen war, richtete der Jogger sich nur das Cappy.

»Oh scheiße, Sorry«, murmelte der stämmige Typ mit Dreitagebart und Sonnenbrille auf der Nase, rappelte sich auf und lief weiter, als sei nichts geschehen.

Selbst als Paul wieder in seiner Wohnung ankam, tat ihm noch der Hintern von dem Sturz weh, doch davon ließ er sich den Tag nicht vermiesen. Stattdessen räumte er voller Tatendrang die Wohnung auf, sprang unter die Dusche und schmiss sich mit noch leicht feuchten Haaren auf die Couch.

Das erste, woran er beim Durchzappen des Fernsehprogramms hängenblieb, war der neuste Bericht über die brutalen Morde in der Stadt.

»Noch immer keine Spur der Leichen. Serienkiller terrorisiert Stadt seit über einem halben Jahr. Werwolf noch nicht geschnappt«, prangten die Schlagzeilen in großen weißen Lettern in der roten Bauchbinde und gaben Paul ein ungutes Gefühl. Schnell folgte er dem Rat des Psychiaters und suchte einen anderen Sender. Beim Gedanken an die letzte Therapiesitzung fiel ihm ein, dass er noch gar nicht nachgesehen hatte, wann sein nächster Termin stattfinden sollte. Als er in seine Hosentasche griff, war es jedoch nicht der Zettel, den er fand. Stattdessen ertasteten seine Finger ein Telefon, das nicht seins sein konnte. Das lag nämlich gut sichtbar direkt vor ihm auf dem Tisch.

Umständlich stemmte er den Körper von der Couch und zog das Gerät aus der Hosentasche. Skeptisch betrachtete er das Handy, drehte es in seiner Hand. Es war ein Smartphone irgendeiner unbekannten Marke mit einem Panda Emblem auf der Rückseite. Um sicher zu gehen, sah er erneut zu seinem Handy auf den Tisch, als das Gerät in seiner Hand plötzlich zu vibrieren begann.

 

 

 

Na, hast du mich schon gefunden?, kündigte das Display die neue Nachricht an und ließ Paul zögern. Einige Sekunden saß er nur da, betrachtete den mittlerweile wieder schwarzen Bildschirm und entschied sich schließlich dazu, das Handy zu inspizieren.

Ohne die Abfrage eines Pins ließ es sich entsperren und gab eine auffallend leere Oberfläche preis. Abgesehen von der Uhrzeit oben in der Mitte und den Einstellungen unten links, waren lediglich zwei Ordner auf dem gesamten Gerät zu finden. Ansonsten war da keine App, nicht einmal ein Browser. Auch die Anruferliste war sorgfältig gelöscht worden und ausschließlich die eine SMS im Postfach, die er schon gelesen hatte.

Wer ist da? Gehört Ihnen dieses Handy?, antwortete Paul und warf während des Wartens einen Blick in die Ordner. Der mit dem Namen Werwolf ließ sich nur mit einem Passwort öffnen. Der andere war zwar einsehbar, enthielt aber nur das einzelne Bild einer Frau.

Sie war brünett und hatte strahlendweiße Zähne, die sie mit einem Lächeln der Kamera präsentierte. Ihr Gesicht wies keine herausragenden Besonderheiten auf, abgesehen von diesen strahlendblauen Augen, die Paul anstarrte, als hätte er einen Geist gesehen.

Das Passwort ist Fiona.

Aus den Augenwinkeln heraus sah er den Hinweis auf die neue Nachricht, konnte jedoch nicht sofort darauf antworten. Das ist das Mädchen aus meinem Traum. Aber wie ist das möglich?

Einer Panikattacke zum Greifen nahe, riss er sich im letzten Moment zusammen und suchte den verschlüsselten Ordner. Seine Finger zitterten derart, dass er die Eingabe zweimal wiederholen musste, bis er endlich das Bild sehen konnte.

Und dann glitt ihm das Telefon aus der Hand, während eine weitere Nachricht eintraf.

Ich weiß, wer du bist, Paul. Ich weiß, was du getan hast. Und wenn du nicht willst, dass ich das Foto zusammen mit den anderen an die Behörden weitergebe, solltest du besser tun, was ich dir sage.

Es war schwer zu sagen, wie lange Paul brauchte um den ersten Schock zu überwinden, nach seiner Jacke zu schnappen und die Wohnung zu verlassen.

Der Drang, den Psychiater zu konsultieren, war groß, aber die Forderung des Erpressers unmissverständlich.

»Das ist ein Traum. Das muss ein Traum sein«, murmelte er abwesend wie ein Mantra vor sich hin, wobei er die irritierten Blicke der ihm entgegenkommenden Passanten gar nicht mitbekam. Ununterbrochen hatte er stets das Bild im Kopf, das ihn dabei zeigte, wie er mit ausdrucksloser Miene in einem Zimmer stand; das Gesicht und die Klamotten über und über mit Blut bespritzt. Ein Bild direkt aus seinem Traum. Nur, dass es diesmal real war und sich in diesem Moment auf dem fremden Telefon in seiner Tasche befand, das ihm die Anweisung gab, bis zum Ende der Stadt zu fahren.

Argwöhnisch sah er sich auf dem freien Gelände um, welches einst zu einer Fabrik gehört haben musste. Es wirkte verlassen und er musste mehr als zwanzig Minuten von der letzten Bushaltestelle hierherlaufen. Entschlossen marschierte er auf das große Gebäude mit den teils kaputten Fenstern zu.

»Hallo?«

Zögerlich streckte er seinen Kopf in den Spalt zwischen dem meterhohen, verrosteten Eisentor. Auch im Inneren der Halle war keine Menschenseele. Doch bevor er sich in Sicherheit wiegen und das alles nur als schlechten Scherz abtun konnte, verspürte er plötzlich einen starken Schmerz am Hinterkopf und verlor kurz darauf das Bewusstsein.

»Du kannst dir nicht vorstellen, wie lange ich auf diesen Moment gewartet habe.«

Paul war noch nicht wieder ganz bei Sinnen, als die fremde, aber doch irgendwie bekannte Stimme ihn erreichte. Flackernd öffnete er die Augen und zuckte zusammen, als sein Blick auf den Jogger fiel, der ihn vorhin umgeschmissen hatte. Diesmal trug er weder Cap noch Sonnenbrille. Seine kurzen Haare standen wild vom Kopf ab, als er sich über Paul beugte und mit einem Gegenstand über seinem Kopf herum hantierte.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«, wollte er wissen und war erschrocken darüber, wie schwach seine eigene Stimme klang. Dem Fremden war das aber egal, denn er winkte nur ab.

»Es ist nicht wichtig, wer ich bin. Wichtig ist, was ich dir antun kann und werde, für all das Leid, das du verursacht hast.«

Erholt hatte Paul sich zwar noch nicht, trotzdem versuchte er instinktiv aufzuspringen und einen Abstand zwischen sich und den Fremden zu bringen. Er scheiterte kläglich. Irgendetwas hinderte ihn an der Flucht und als er einen Blick nach oben warf und die Kabelbinder sah, mit denen er ihn an ein Rohr gefesselt hatte, wusste er warum.

»Hören Sie zu!«

Plötzlich bekam Paul es mit der Angst zu tun. Jetzt wusste er, dass es ein Fehler war, dem Psychiater nicht Bescheid zu sagen, wie sein Instinkt ihn dazu überreden wollte.

»Das hier ist ein riesiges Missverständnis! Ich weiß nicht, woher Sie dieses Bild haben, aber das muss gefälscht sein!«

Der Fremde schnalzte mit der Zunge und schüttelte mit dem Kopf.

»Du hast mir nicht zugehört. Ich weiß alles über dich. Gegenüber den anderen leichtgläubigen Idioten kannst du das arme Opfer spielen, das sich an nichts erinnern kann. Aber mir machst du nichts vor!«

Jetzt schrie der Fremde und machte einen Schritt auf Paul zu. Mit dem Finger deutete er auf ihn.

„Ich habe dich beobachtet. Du hast sie getötet, sie hatten keine Chance!«

Er machte eine Pause und in Paul stieg die Anspannung unaufhörlich.

Trotzdem reagierte er nicht so, wie es andere in einer Situation wie dieser getan hätten. Nachdem man sie k.o. geschlagen, verschleppt und mit wirren Unterstellungen konfrontiert hätten.

Er beruhigte sich schnell und fragte den Fremden in die nicht enden wollende Stille hinein: »Wer ist sie?«

»Die Frau auf dem Bild?«, entgegnete der Fremde und lächelte jetzt sogar. Allerdings sprach dieses Lächeln nicht für Fröhlichkeit. Es wirkte irgendwie verzerrt.

»Ihr Name war Fiona und sie war das vierte Opfer des Werwolfs. Wie bei allen anderen auch, hat man nur ihr Herz gefunden. Was komisch ist, nicht wahr? Ich meine, der Typ wütet seit sieben Vollmonden da draußen. Sieben Menschen sind ihm zum Opfer gefallen und niemand hat ihn bisher finden können- und das obwohl unsere Behörden doch angeblich unter Hochdruck an der Sache arbeiten und alle während des Vollmondes eine Ausgangssperre haben.«

Der Fremde schien in Gedanken zu sein und ließ die Blicke schweifen. Paul nutzte diese Gelegenheit und machte sich währenddessen an seinen Fesseln zu schaffen. Unauffällig ruckelte er immer wieder daran, nachdem er feststellte, dass sie nicht sonderlich fest saßen.

»Sie denken, dass jemand auf dem Revier hilft?«, fragte er den Fremden zur Ablenkung und es funktionierte.

»Ich denke, dass er zumindest bei den Morden Hilfe hatte. Aber ich weiß, dass er jetzt in der Falle sitzt und niemanden informierte. Wobei mir etwas einfällt.«

Wieder kam ihm der Fremde nahe. Wieder bewegte Paul sich nicht einen Millimeter und ließ sich von ihm in die Jackentaschen fassen.

»Es ist faszinierend, was diese kleinen Dinger heute alles können, wenn man nur weiß, wie es geht.«

Triumphierend hielt er das Handy in die Höhe und ließ es in der eigenen Jackentasche verschwinden.

»Man kann damit den Standort des Besitzers herausfinden und ihn abhören.

Wenn man dann die Kamera aktiviert, kann man sogar sehen, wie derjenige reagiert und ob er die Polizei verständigt oder anderweitig Hilfe ruft.«

Der Fremde durchbohrte Paul fast mit seinen Blicken, woraufhin dieser seinen Fluchtversuch einstellte und zurückstarrte.

»Moment… Sie haben mich beobachtet und Sie denken, dass ich der Werwolf bin?«

Paul fiel alles aus dem Gesicht und ihm wurde schlecht.

Was erzählte ihm dieser Wahnsinnige da? Paul kam her, um Fragen beantwortet zu bekommen und nicht, damit sich noch viel, viel mehr auftaten.

»Ich bin kein Mörder! Außerdem fanden die Morde schon vor meiner Ankunft hier statt!«

Ungläubig schüttelte er mit dem Kopf. Der Fremde nickte und sein Gesichtsausdruck verriet, dass er diese Frage hatte kommen sehen.

»Deswegen hat es auch ewig gedauert, bis ich auf dich gekommen bin. Und auch wenn du alleine kamst, weiß ich, dass du all das nicht alleine auf die Beine gestellt hast. Irgendwer hilft dir und ich werde herausfinden, wer.«

Paul wusste nicht woher, doch plötzlich zauberte der Fremde anstelle des Telefons ein Klappmesser hervor. Als würde es sich um einen Ball und nicht um eine potentielle Mordwaffe handeln, warf er es in die Luft und fing es wieder auf.

»Oh und hab keine Angst. Wir haben alle Zeit der Welt. Niemand weiß, dass du hier bist.«

Der Fremde lief auf ihn zu und Paul schloss schließlich die Augen, als er realisierte, dass das hier die Endhaltestelle war.

Geduldig wartete er auf das unvermeidliche Finale, oder wenigstens Schmerzen, die dieses ankündigten. Doch blieb all das aus und ein lauter Knall zerriss die Stille.

Erschrocken riss Paul die Augen auf, als irgendetwas auf ihn fiel – oder eher jemand.

Perplex sah er zu dem reglosen Körper des Fremden herunter, der ihm in den Schoss gekippt war. Das Messer hatte er losgelassen und Paul erspähte ein Loch in seinem Rücken, aus dem ein kleiner Blutvulkan sprudelte.

Erst als die sonst so beruhigend auf ihn wirkende Stimme des Psychiaters seine Aufmerksamkeit auf sich zog, begann er langsam zu verstehen, was eigentlich gerade geschehen war.

»Du bist jetzt in Sicherheit, Paul. Du musst mir nur sagen, was passiert ist«, forderte der Psychiater Paul auf und sah ihn besorgt an. Und obwohl seine Worte anderes vermuten ließen, wirkte er keineswegs aufgebracht, als er sich die Handfeuerwaffe in den Schoß legte.

Die Gelassenheit, die Paul vorhin noch an sich gelobt hatte, war plötzlich verflogen. Hektisch strampelte er mit den Beinen und versuchte den Fremden von sich zu schieben.

»Was haben Sie getan? Ist er tot? Wir hätten ihn retten können! Er war wahnsinnig und ich denke, dass er Hilfe brauchte.«

Der Psychiater sah Paul ausdruckslos an und bewegte sich nicht vom Fleck.

»Was hat er dir erzählt, Paul? Was wollte er von dir?«

Dass er nicht auf eine seiner Fragen eingegangen war, bemerkte Paul nicht und machte sich wieder an seinen Fesseln zu schaffen. Immerhin machte der Psychiater keine Anstalten, ihn zu befreien.

»Er dachte, dass ich der Werwolf bin und dass ich nicht allein arbeite«, erklärte er knapp und atmete erleichtert auf, als er die erste Hand bis zur Hälfte befreit hatte.

»Hat er irgendwelche Beweise? Hat er dich erpresst? Und arbeitete er allein?«

Wieder hielt Paul inne und sah zu dem Mann im Rollstuhl auf, der kaum eine Miene verzog.

»Es überrascht Sie gar nicht, was er sagte? Und… woher wussten Sie eigentlich wo ich bin?«

Der Psychiater seufzte schwer.

Er wirkte zwar noch immer gefasst und routiniert, wie in ihren Sitzungen, aber auf irgendeine Weise war er jetzt auch kühl und reserviert.

»Es sollte nicht so zu Ende gehen«, sagte er und fuhr etwas weiter in den Raum hinein.

»Ich wusste, dass du es versaust. So, wie du es immer tust.« Er machte eine kurze Pause.

»Fairer Weise muss ich zugeben, dass es diesmal nicht allein deine Schuld war. Ich habe diesen dämlichen Soldaten und sein Verlangen, seine Frau zu rächen, unterschätzt.«

Paul fühlte sich, als habe man ihm eine Ohrfeige verpasst. Und das nicht, weil der Psychiater plötzlich wie ein ganz anderer Mensch redete. Sondern wegen dem, was er ihm erzählte.

»Sie meinen, dass er Recht hatte? Ich bin der Mörder?«

Der Psychiater nickte und Paul drehte sich der Magen um.

»Natürlich hatte er Recht! Vor allem mit der Hilfe. Allein hättest du nie etwas derartiges zustande bekommen.«

Er machte eine abwertende Handbewegung in Pauls Richtung. »Schon als dich deine Mutter damals zur Welt brachte, wusste ich, dass aus dir nichts werden würde. Du warst eine Enttäuschung als Mensch sowie als Sohn. Und wie sich herausstellt, bist du auch ein miserabler Mörder.«

Der Psychiater wirkte verärgert. Paul hingegen fing an zu stottern.

»Sohn?«, fragte er und schüttelte vehement den Kopf. »Sie sind nicht mein Vater! Ich würde doch meine Familie erkennen!«

Offenbar fand der Psychiater das amüsant, denn der lachte auf. »Du glaubst mir also, dass ich dazu in der Lage bin, dich Morde begehen zu lassen, ohne, dass du es selbst merkst. Aber dass ich dein Vater bin, findest du unwahrscheinlich?« Wieder lachte der Psychiater abfällig.

»Du erinnerst dich nicht an mich, weil ich deine Erinnerungen genauso steuern kann, wie deinen Drang zu töten.«
Alles um Paul herum verschwamm und er fühlte sich, als würde sein Wesen außerhalb seines Körpers schweben. Währenddessen erzählte der Psychiater davon, wie er ihn gequält und mittels Manipulation zu seinem persönlichen Spielzeug gemacht hatte.

Abwesend deutete er mit der Hand, die er mittlerweile befreit hatte, auf die Narbe auf seiner Wange.

»Oh, die ist nicht von mir. Die ist vom Unfall.«

Unfall? Welcher Unfall?, fragte er nur in Gedanken. Der Psychiater hatte sie offenbar aber gelesen.

»Der Unfall, dem ich das hier zu verdanken habe.« Er deutete auf seinen Rollstuhl. »Und der mir meine Frau genommen hat. Als ich sah, wie sie dich wiederbelebten und sie einfach sterben ließen, wusste ich, dass es nichts mehr gab, was mich zurückhalten konnte. Ich wollte den Mensch, der mir meine Liebe genommen hat, leiden sehen. Blöderweise verlor ich bei dem Unfall beide Beine und brauchte deswegen einen Plan B. Und der warst du.«

Wie in einem Film rauschten zig Erlebnisse in kurzen, abgehackten Bildern vor seinem inneren Auge vorbei. All die Träume, die Nächte in denen er nicht schlafen konnte und die Sitzungen, in denen der Psychiater ihn beruhigte.

»Warum?«, war das einzige Wort, das er über die Lippen brachte. »Warum hast du mich diese schrecklichen Dinge tun lassen?«

»Warum haben Dahmer, Haarmann, Sells und Bundy Morde begangen?«, konterte der Psychiater mit einer Gegenfrage und zuckte mit den Achseln. »Mich trieb außerdem die Motivation an, die Körperteile der Leichen zu modifizieren und für mich zu benutzen, damit ich irgendwann wieder laufen kann. Bis mir das gelingt, brauchte ich dich.«

Die Wut, die Paul lange unterdrücken konnte, brach in diesem Moment hervor, als er verstand, was der Psychiater ihm erzählte.

Er hatte ihn schamlos manipuliert und benutzt. Somit war nicht nur der Psychiater, nicht der, für den er sich ausgab. Auch Paul war offenbar nicht der, für den er sich hielt.

In erster Linie war er ein Mörder, der dem falschen Menschen vertraut hatte.

Ohne Vorwarnung schrie Paul laut auf. Impulsiv riss er an dem zweiten Kabelbinder und schaffte es tatsächlich, sich mit einem kräftigen Ruck zu befreien.

»Du hast nur mit mir gespielt!«

Dadurch, dass er so lange saß, taumelte er kurz.

Jedoch fing er sich schnell wieder und stürmte auf den Psychiater zu.

Dieser wirkte alles andere als beunruhigt. Ja, nahezu tiefenentspannt.

»Wenn man es richtig anwendet, ist Hypnose ein mächtiges Werkzeug in meiner Welt. Ich habe den perfekten Weg gefunden, wie du genau das tust, was ich dir sage. Die einzigen Nebenwirkungen waren diese Träume, aber die hatte ich mit den Sitzungen im Griff.«

Paul ignorierte seine Worte und schüttelte mit dem Kopf. Er wollte nicht hören, was dieser schmierige Verräter zu sagen hatte. Er hatte schon genug gesagt! Trotzdem hörte er einfach nicht auf zu reden.

»Niemand vermutete dich hinter der Sache, da du offiziell erst später auftauchtest. Nachdem du mir durch einen blöden Zufall den einen Abend entwischt bist, sah ich die Mission schon scheitern. Aber schließlich ging mein Plan doch auf.«

Mitten im Gehen hielt Paul inne und starrte den Psychiater ungläubig an.

»Du kannst versuchen, mich zu töten. Vor einem Jahr wäre dir das vielleicht sogar gelungen. Bis dahin brauchte ich zwei Komponenten, um dich zu beeinflussen. Das war erstens eine Naturerscheinung und zweitens ein Wort. Ich entschied mich für den Vollmond und das Wort Werwolf. So simpel und doch so genial, findest du nicht?«

Der Psychiater lächelte selbstgefällig, woraufhin Paul sich wieder in Bewegung setzte.

Zum ersten Mal hatte er bewusst vor, einen Menschen zum Schweigen zu bringen. Auch wenn er den Psychiater vielleicht nicht unbedingt töten wollte, wollte er, dass er wenigstens zu reden aufhörte. Und er sollte bezahlen. Bezahlen für das, was er ihm und all diesen unschuldigen Menschen angetan hatte.

Doch dachte der Psychiater gar nicht daran, sein Geschwafel zu unterbrechen und Angst hatte er offensichtlich auch keine.

»Mittlerweile genügt ein einziges Wort aus meinem Mund, damit du mir gehörst. Du glaubst mir nicht?«

Natürlich glaubte er ihm nicht und er hatte ihn fast erreicht, als es plötzlich schwarz wurde.

 

Katharina, drang der Name noch wie durch einen Schleier zu ihm hindurch. Darauf reagieren konnte er jedoch nicht mehr.

Dass es sich dabei um den Namen seiner Mutter handelte, würde er also nie erfahren.

2 thoughts on “Der Werwolf

  1. Das war all in all eine nette Geschichte, wenn sie mich auch nicht in so weit begeistern konnte, dass ich ein Herz da lassen würde.
    Mein größtes Lob geht jedoch an deine Fähigkeit, dich an all die vorgegebene Parameter zu halten; dich daran lang zu hangeln, ohne das es mir dabei auffällt. Du bist jetzt meine 67te Geschichte die ich hier lese. Niemand hat es auch nur ansatzweise so gut hinbekommen, das Handy zu platzieren bzw zu finden, wie du es das konntest. In vielen anderen Geschichten, wurde der Handyfund immer so bewusst deklariert, dass es irgendwann nervig wurde zu lesen… bei dir war das absolut anders! Das hat die Geschichte auch wirklich spannend gemacht. Auch die Intension „vertraue nie den falschen Menschen“ so böse aber doch so wahr..
    Dran bleiben! 🙂

  2. Hallo! Du kannst gut schreiben, das steht fest. Ich fand deine Story einigermaßen spannend, auf jeden Fall gut formuliert. Das “einigermaßen” ist, weil man sehr schnell darauf kommt, dass es Patient und Psychiater sein müssen, weil es keine falschen Fährten oder weiteren Personen gibt. Was die Spannung dann irgendwie nimmt, leider.

    Trotzdem ein Herzchen hab ich dagelassen ;-))

    Falls du Lust hast, auch meine Geschichte zu lesen: Der Gesang der Zikaden.

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