LydiaWestphalDie Akte

Das war nicht unbedingt die Umgebung, in der sie in dieser Situation erwartet hatte aufzuwachen. Tief in ihrem Unterbewusstsein hat sie damit gerechnet irgendwo auf der Straße zwischen Müllcontainern und Junkies die Augen zu öffnen, aber das heimisch eingerichtete Wohnzimmer, in dessen Mitte sich eine weiße Ledercouch befand, bot ihr einen völlig unerwarteten Eindruck. Als sie die Augen öffnete, hatte sie nicht den geringsten Schimmer, wo sie sich befand und schon gar nicht, wer die Frau am anderen Ende des Raumes war, die gerade die in dem Regal stehende Blume goss. Sie versuchte ihre Umgebung aufzunehmen und sich zu erinnern… An das Bild, mit den verwinkelten Gassen und dem im Hintergrund aufsteigenden Heißluftballon, den weißen Couchtisch mit der eingelassenen Glasplatte, auf deren Mitte eine Blumenvase mit frischen Gerbera stand, den fransigen grauen Teppichboden, das auf Hochglanz polierte Parkett, die nach Autoren sortierten Bücher, die im Regal offensichtlich nach Größe sortiert aufgereiht standen… doch nichts von all diesen Dingen kam ihr bekannt vor. Als die Frau sich umdrehte und sah, dass sich der schlappe, von blauen Flecken übersäte Körper unter der kuscheligen Decke ein wenig bewegte, machte sie fast einen Freudensprung und war mit fünf Schritten bei ihr und setzte sich auf die Sofakante. „Klara, endlich hast Du die Augen geöffnet. Sag, wie geht es Dir? Tut es sehr weh? Kann ich Dir was bringen? Möchtest Du etwas essen oder trinken? Vielleicht duschen? Wie dumm von mir, Du hast gerade erst die Augen geöffnet und musst wahrscheinlich erst einmal zu Dir kommen und ich überfalle Dich hier gleich mit dutzenden von Fragen. Ich freue mich einfach so, dass Du aus deinem Dornröschenschlaf aufgewacht bist.“

Klara ist also mein Name und offensichtlich kennt diese Frau mich. Ich muss auf den Kopf gefallen sein. Klara brachte kein vernünftiges Wort über die Lippen und stammelte nur ziemlich missverständlich: Wo bin ich hier und wer bist Du? Die Frau, die so vertraut neben ihr saß, verzog das Gesicht, schaute sie einen Moment lang ungläubig an und sagte völlig gefasst, wie auswendig gelernt: „Klara, ich bin es, Linda, deine beste Freundin, fast so etwas wie deine bessere Hälfte, wir kennen uns unser ganzes Leben lang. Ich kann es einfach nicht glauben, dass Du offensichtlich keinen Schimmer davon hast, wer ich bin.“ Linda rang einen Moment um Fassung und sagte dann:“ In Ordnung, Du scheinst Dein Gedächtnis verloren zu haben oder so etwas in der Art. Ich würde vorschlagen, dass Du erst einmal ein bisschen wach wirst, ich uns einen Tee koche und wir ganz langsam und in Ruhe über die vergangenen Stunden sprechen. Ich kann Dir erzählen, was ich über die letzten Stunden weiß und wenn es Dir zu viel wird, gib mir einfach ein Zeichen oder versuche mir zu sagen, dass Du noch ein wenig Ruhe brauchst. Ich weiß nicht so wirklich, wie ich mich verhalten soll, ich will Dir auf keinen Fall zu viel zumuten.“ Klara zwinkerte in ihre Richtung, das glaubte sie jedenfalls und wollte Linda damit zu verstehen geben, fortzufahren. In Klaras Kopf hämmerten sämtliche Eindrücke, ihr war nur nicht bewusst, ob real oder geträumt und diese furchtbaren dröhnenden Kopfschmerzen machten ihr so sehr zu schaffen, dass sie glaubte, bald erneut das Bewusstsein zu verlieren. Sie kämpfte sich immer wieder zurück an die Oberfläche und wollte hören, was mit ihr passiert ist.

Linda zog die Augenbrauen kraus und hob theatralisch die Hände. „Wo soll ich nur anfangen? Heute Morgen wollte ich – obwohl das eigentlich überhaupt nicht dem entspricht, was mir besonders großen Spaß macht – eine Runde joggen gehen. Mir fällt es immer noch schwer, meinen Alltag alleine zu meistern und eine gewisse Routine in mein Leben zu bringen. Ich pellte mich also aus dem Bett, zog mich halbherzig an, guckte nicht einmal auf die Wetterverhältnisse und ging, bevor ich es mir doch wieder anders überlegen konnte, die Treppe runter, um unten am Hafen mit einer kleinen Runde mein Sportprogramm zu starten. Ich joggte tatsächlich direkt am Wasser entlang, obwohl der Wind mir ins Gesicht peitschte und ich glaubte, nicht einmal bis zum Fischmarkt durchzuhalten. Ich nahm mir vor, dieses Stück zu joggen und, sollte ich dann noch Kraft haben, die große Treppe hinter dem Hafen hochzulaufen und eventuell noch ein Stück über die Reeperbahn zu joggen, auch wenn mir dieses Pflaster nicht so unbedingt als die perfekteste Joggingstrecke erschien. Mir gefiel jedoch der Gedanke einen Plan zu haben, mit dem ich arbeiten kann. Ich kam allerdings nur bis zur Fischauktionshalle, vor deren Seiteneingang ich ein merkwürdig zusammengekauertes Etwas liegen sah. Ich spielte mit dem Gedanken, einfach vorbeizulaufen aber, wie Du ja weißt, bin ich von Natur aus neugierig, sodass ich direkt auf dieses „Knäuel“ zulief. Bei genauerem Betrachten musste ich erkennen, dass sich unter zwei versifften, mit Öl verschmierten und nach Undefinierbarem riechenden Decken ein Mensch zu verstecken schien. Ich wickelte vorsichtig die Decken ab und rief immer wieder, ob Du mich hören kannst, ob es Dir gut geht, ob Du einen Arzt brauchen würdest, doch ich erhielt keine Antwort außer einem leisen Röcheln.“ Klara versuchte sich zu erinnern, wo sie sich die Nacht über herumgetrieben hat. Mittlerweile konnte sie immerhin aus den Erzählungen von Linda schließen, dass sie sich in Hamburg befand und ihr ganz offensichtlich jemand übel mitspielen wollte, da sie sich wohl kaum selbst in diesen Zustand gebracht haben wird. Linda holte tief Luft und fuhr fort mit ihrer Erzählung. „Du hast mich mit leeren Augen angesehen, als ob ich von einem anderen Stern komme, hast Dir aber von mir helfen lassen. Ich hätte im Traum nicht daran gedacht, dass Du nicht weißt, wen Du da vor dir hast. Dein Knöchel scheint verstaucht zu sein, Du hast diverse blaue Flecken, soweit ich das erkennen konnte, Deine Haare sind völlig verzottelt und Du wirkst ziemlich ausgemergelt. Ich sollte Dir an dieser Stelle vielleicht erzählen, dass wir uns länger nicht gesehen haben und wir uns bei unserem letzten Treffen gestritten haben, umso mehr macht es mir zu schaffen, Dich so zu sehen. Du kannst mir glauben, dass es mir unendlich leid tut, ich vermisse Dich und möchte, dass wir wieder genauso miteinander umgehen können, wie vor unserem Streit. Es war ein großer Zufall, ja vielleicht Schicksal, dass ausgerechnet ich eine Runde joggen gehen wollte und ausgerechnet Dich in einer so großen Stadt wie Hamburg gefunden habe.

Klara interessierte sich eigentlich gerade überhaupt nicht für diesen Nebenschauplatz was den Streit mit Linda anging, sondern ihr brannte nur eine Frage unter den Nägeln. Wer zum Teufel bin ich? Als ob Linda ihre Gedanken erraten hat, fuhr sie mit ihrer Version zu dem letzten Gespräch zwischen den beiden Frauen fort: „Klara, ich kann einfach nicht gutheißen, dass Du Deinen Körper wildfremden Männern verkaufst, die Dich beschmutzen, begaffen und als Objekt ansehen. Du müsstest doch eigentlich aus Deiner Vergangenheit gelernt haben und der „Unfall“ liegt auch gerade erst zwei Jahre zurück und die Last die auf deinen Schultern ruht, muss mehr als erdrückend sein.“ Linda machte eine Pause und überlegte, ob das nicht schon zu viele Informationen für die ersten Minuten waren. Sie wollte auf Klara auf keinen Fall schocken. Sie sollte erst einmal zu sich kommen. Mit den ausgesprochenen Worten, riss Linda Klara ein Stück weit zurück in ihr Leben. Sie war offensichtlich eine Prostituierte. Das konnte doch nicht möglich sein. In gewisser Weise spürte man doch, was man selbst für ein Mensch ist und das war für Klara ein völlig abwegiger Beruf. Unterbewusst fiel ihr jedoch auf, dass die Wegbeschreibung der Joggingstrecke, die Linda ihr erzählte, ihr bestens bekannt ist. Sie liebte die Stadt Hamburg mit allen Ecken und Kanten. Sie liebte die Vielseitigkeit dieser wunderschönen Stadt. Sowohl das Stadtbild, als auch die Geschichte, die Architektur, der Hafen, die Speicherstadt, der Kiez, die Alster und der Stadtpark, das schmuddelige Wetter und die raue, freundliche Unkompliziertheit der Menschen gaben ihr ein Gefühl, überall in dieser Stadt zu Hause zu sein. Sie brauchte dringend eine Pause und gab Linda zu verstehen, dass sie die bis jetzt erhaltenen Informationen erst einmal verdauen müsse. Linda verstand sofort und ging in die Küche, um sich und ihrer Freundin erst einmal eine Tasse Tee zu kochen. Sie überlegte, ob Klara ihre plötzliche Entschuldigung annehmen würde. Auch Linda wollte sich eine kleine Pause von ihren Worten gönnen. Sie war den Tränen nahe und wünschte sich, wie nur allzu oft in letzter Zeit, einfach Normalität.

Linda kam mit zwei randvollen Tassen Tee zurück in das geräumige Wohnzimmer und stellte die Tassen auf den Tisch. Die beiden Frauen waren sich ohne große Worte einig darüber, erst einmal schweigend ihren Tee zu trinken. Klara setzte sich langsam auf und bat Linda darum, eine heiße Dusche nehmen zu dürfen. Linda sprang sofort auf, legte ihr frische Handtücher eine Jeans von und ein Shirt von sich selbst bereit und teilte Klara mit, dass sie noch einmal für eine Stunde aus dem Haus gehen würde, um ein paar Besorgungen zu machen. Sie solle sich einfach wie zu Hause fühlen und könne natürlich so lange bei ihr bleiben, wie sie mag. Klara war dankbar für diese Worte, nickte Linda kurz zu und verschwand ins Bad.

Klara schaffte es mühevoll zu duschen. Ihr fiel es immer noch schwer, auf beiden Beinen zu stehen, ihr war schwindelig und ihr Kopf fühlte sich an, als ob er auseinanderplatzen möchte. Unter der Dusche sah sie sich die blauen Flecken genauer an. Am Oberarm hatte sie ein so starkes Hämatom, dass sie darauf schließen ließ, von jemandem festhalten worden zu sein. Sie musste unbedingt herausfinden, was ihr passiert ist.

Nach gut zwei Stunden kam Linda wieder nach Hause, entschuldigte sich für ihre Verspätung und gab beiläufig nur an, dass sie noch einen Bekannten getroffen habe. Sie übergab Klara eine Tüte voller neuer Sachen. Neben starken Kopfschmerztabletten, einer Zahnbürste, einer Salbe gegen die blauen Flecken, befand sich auch neue Kleidung in der Tüte. Klara war sehr dankbar, für Lindas Mühe und beschloss, bis sie wieder Herr ihrer eigenen Sinne sein würde, bei ihr zu bleiben. Klara war relativ schwach auf den Beinen und wollte, nachdem sie eine Kleinigkeit gegessen hatte, gleich ins Bett gehen und sich ausruhen. Eine Frage brannte ihr jedoch noch unter den Nägeln und sie fragte Linda, wo sie selbst denn eigentlich wohnen würde. Als Linda sie fand, hatte sie weder ein Portemonnaie, einen Ausweis, noch ein Handy bei sich.  Die Antwort kam ziemlich zögerlich, aber Linda sagte ihr, sie würde in der Nähe des Hauptbahnhofes in einem Mehrparteienhaus leben. Vorerst gab sich Klara mit dieser Antwort zufrieden. Sie wollte ohnehin nicht sofort dorthin zurück. Sie fühlte sich in Lindas Anwesenheit sehr wohl und hoffte, ihre Erinnerungslücken mit ihrer Hilfe schließen zu können.

Am nächsten Morgen ging es Klara um einiges besser. Die Tabletten hatten gute Arbeit geleistet und sie freute sich sogar ein bisschen auf ein kleines Frühstück. Sie ging den dunklen Korridor entlang und fand auf der Anrichte in der Küche einen Zettel mit den Worten „Ich muss heute arbeiten, fühl Dich wie zu Hause. Ich habe dir einen Zweitschlüssel in den Flur gelegt. Bis später, Linda“.

Klara schaltete die Kaffeemaschine ein, setzte sich auf einen der beiden Barhocker und ließ den Blick durch die modern eingerichtete Küche schweifen. Die schwarzen Arbeitsplatten glänzten und jedes Regal war ordentlich aufgeräumt. Nur eine Ecke passte so überhaupt nicht in diesen, wie aus einem Hochglanzmagazin kopierten, Raum. Da stand ein alter aufgearbeiteter Küchenschrank mit kleinen Fenstern und Rüschchengardinen. In der Mitte des Buffetschrankes befand sich eine freie Fläche mit diversem Kleinkram. Eine Schale mit kleinen Zetteln, Notizen, Stiften, ein Büchlein in dem vermutlich Telefonnummern und Adressen notiert waren, ein paar Fotos, die aktuelle Ausgabe des Hamburger Abendblattes und ein Tablet. Klara kämpfte gegen einen inneren Drang an, den Schrank genauer zu durchsuchen und verlor. Die Fotos zeigten Linda, einen Mann und drei vermutliche Freunde bei einer Party. Alle grinsen glücklich in die Kamera und prosteten sich gegenseitig zu. Ein weiteres Bild zeigte Linda erneut mit diesem Mann, der ihr offenbar vertraut war. Das Tablet war in die letzte Ecke des Schranks aufrecht und ganz nach hinten geschoben gestellt worden. Klara zog es hervor und drückte, ohne eine große Erwartung zu haben, den On-Knopf des Tablets und dieses zeigte den ihr ebenfalls vertrauten Startbildschirm, ohne dass sie einen Code oder ein Muster eingeben musste. Sie war ein wenig erstaunt über den Leichtsinn. Heutzutage ist doch schließlich alles passwortgesichert oder mit anderen Mitteln, wie einem Fingerabdruck, verschlüsselt. In gewisser Weise ist ein Tablet oder ein Handy heutzutage so etwas wie ein elektronischer Fingerabdruck. Klara wunderte sich kurz darüber, warum ihr so etwas wie das Menü dieses Tablets geläufig ist, sie sich aber nicht daran erinnern kann, was ihr Leben ausmacht. Sie drückte den Butten „Galerie“ und es ploppten ordentlich beschriftete und sortierte Ordner mit diversen Fotos und Screenshots auf. Sie scrollte ein bisschen durch die Galerie, bis die Kaffeemaschine sie durch einen schrillen Piepton wieder in die Realität zurück riss. Sie schenkte sich eine Tasse schwarzen Kaffee ein und widmete sich mit schlechtem Gewissen wieder dem Tablet. Der Akku zeigte noch stolze 88 % an, sodass sie sich mit dem Ansehen der Bilder Zeit ließ. Sie stöberte gerade in einem Ordner mit der Bezeichnung „dies und das“, als ihr plötzlich der Atem stockte. Sie sah auf eine Fotografie von sich selbst in hochhackigen Schuhen, einem knappen Spaghettishirt und einem Minirock. Die Haare auf diesem Bild trug sie in einem Knoten, der nicht besonders ordentlich gebunden war. Im Hintergrund konnte man die Polizeiwache auf der Reeperbahn erkennen. Entgegen ihrer festen Überzeugung, konnte man schon vermuten, dass sie tatsächlich eine Prostituierte ist. Sie fand einen weiteren Ordner mit der Beschriftung „Unfall?“ Ihr Herz raste so sehr, dass sie glaubte, es würde ihr jeden Moment aus der Brust springen. Mit einem Doppelklick war der Ordner geöffnet und die Ansicht der sich schnell aufbauenden kleinen Bilder, ließ Klara das Blut in den Adern gefrieren. Neben zahllosen Bildern von einem Tatort, auf dem Markierungen klebten, guckte sie auf ein Bild, auf dem sie selbst zu sehen ist, in einem gut sitzenden Hosenanzug, die Haare offen und mit einem Lächeln im Gesicht. Merkwürdig war an diesem Bild, dass sie auf dem Kopf einen Baustellenhelm trug. Ihr wurde langsam schlecht und ihre Gedanken kreisten. Sie musste unbedingt hier raus und ein bisschen frische Luft schnappen. Irgendetwas eigenartiges ging hier vor sich. Klara zog sich ihre neue Jeans, die Linda ihr besorgt hatte, über und angelte sich das T-Shirt, was über der Stuhllehne hing, schlüpfte in ihre Sneakers, schnappte sich den Schlüssel vom Flur, rannte die Treppe hinunter und saugte, unten angekommen, die frische Luft ein.

Klaras Gedanken rasten und sie ging ziellos durch die Gegend. Sie war schon fast zwei Stunden unterwegs und konnte wieder einigermaßen kluge Gedanken fassen. Sie hatte sich überlegt, zunächst einmal Linda um die genaue Anschrift ihrer Wohnung zu bitten, dort hinzugehen und ihre Nachbarn vorsichtig zu fragen, was sie sonst so machen würde. Sie überlegte kurz einen Schlüsseldienst zu rufen, der ihre Tür aufbrechen könnte, aber sie konnte weder nachweisen, dass sie „dort“ wohnt, noch wollte sie Linda um Hilfe bitten, solange sie nicht wusste, was ihr passiert ist und wer weiß schon, was sie in ihrer eigenen Wohnung erwarten würde. Vielleicht jemand, der nur auf sie wartet und sie umbringen will oder irgendein düsteres Geheimnis, von dem sie selbst gerade nicht einmal etwas weiß.

Sie ging zurück zu Lindas Wohnung und wollte sich noch einmal dem Tablet widmen, in der Hoffnung hier eine Antwort zu finden. Sie hatte gerade die Tür hinter sich geschlossen, als es plötzlich klingelte. Klara drückte auf den Summer und der Postbote drückte ihr ein Päckchen in die Hand und bat sie um eine Unterschrift. Ihr Blick wirkte sehr wahrscheinlich etwas verdutzt und sie krakelte nur irgendetwas nicht Leserliches auf das Plastikdisplay, dass der Paketbote ihr unter die Nase hielt. Klara wollte das Päckchen gerade achtlos auf die Anrichte in der Küche stellen, als ihr auffiel, dass es an sie adressiert war. Sie holte ein Messer aus der Küchenschublade und schnitt das Paketband auf. Als sie den Inhalt des Päckchens sah, wurde ihr übel und sie musste sich auf den glänzenden Küchenfußboden übergeben. In dem Päckchen lag eine mit roter Farbe beschmierte Zeitung auf der stand: „Glück gehabt, ich krieg dich noch – Miststück“. Darauf lag ein aufgezogener Wecker, der symbolisch dafür stehen sollte, dass ihre Zeit bald abgelaufen sein soll. Klara versuchte sich zusammenzureißen und kauerte sich in die Ecke der weißen Ledercouch im Wohnzimmer. Sie beschloss, auf Linda zu warten um von ihr mehr über sich zu erfahren.

Als Linda von der Arbeit nach Hause kam, war es bereits 20 Uhr. Sie wirkte genervt und angespannt, fragte Klara aber höflich nach ihrem Tag, wie es ihr ginge und was sie so gemacht hat. Von dem durchstöberten Tablet und dem grauenvollen Päckchen erzählte Klara vorerst nichts. Sie beschrieb einen langweiligen Tag, an dem sie sich erholt hat und beim Spazierengehen eine Menge frische Luft geschnappt hat. Sie erzählte Linda, dass sie morgen einmal zu ihrer Wohnung gehen wolle, um zu sehen, ob ihr das Haus und der Weg, die Umgebung und die Nachbarn irgendwie bekannt vorkommen. Linda hob die Augenbrauen an und fragte, ob sie sich wirklich schon dazu bereit fühlen würde. Sie bot ihr noch einmal an, so lange sie möchte, bei ihr bleiben zu können. „Wir könnten doch am Wochenende gemeinsam zu Deiner Wohnung gehen. Das erleichtert Dir diesen Gang ganz bestimmt.“ Klara war dankbar, für Lindas Hilfsbereitschaft und schenkte ihr ein Lächeln. „Danke, dass Du das alles für mich machst1“

Klara fasste sich ein Herz und konfrontierte Linda mit dem Thema, was diese sicherlich am wenigsten nach einem harten Arbeitstag besprechen wollte. Es platzte einfach aus ihr heraus und sie sagte: „Linda, ich muss Dich dringend etwas fragen. Was hat es mit diesem Unfall auf sich, von dem Du gestern gesprochen hast?“ Linda hielt in ihrer Bewegung sofort inne und man konnte wie in Zeitlupe sehen, dass es ihr schwerfällt, hierüber zu sprechen. Sie sank ein bisschen in sich zusammen und sah von einer Sekunde auf die andere um mindestens fünf Jahre älter aus. „Setz dich Klara, ich habe schon befürchtet, dass Du mir diese Frage früher oder später stellen wirst. Ich habe gehofft, dass es Dir von alleine wieder einfällt, aber ich will Dir den Unfall und unseren Streit nicht vorenthalten. Du sollst die Wahrheit kennen und wissen, warum ich an unserer Freundschaft gezweifelt habe.“ Klara zog sich der Magen zusammen und sie musste wieder gegen das Gefühl der Ohnmacht ankämpfen, als Linda ihr die ganze Geschichte erzählte:

„Ich hatte einen Freund. Zwei Jahre lang. Sein Name war Daniel. Er ist tot. Du hast ihn umgebracht. Klara glaubte, sich verhört zu haben, doch der Blick in Lindas Augen verriet ihr, dass es ihr vollkommen ernst war. Du warst von Anfang an nicht mit Daniel einverstanden. Wochen, Monate, hast Du auf mich eingeredet, dass ich mir jemand anderen suchen soll. Es ist ja nicht so, dass ich Dich hätte um Erlaubnis fragen müssen, mit wem ich mich einlasse und mit wem nicht, aber die Meinung meiner besten Freundin war mir schon wichtig. Daniels Vergangenheit war alles andere als grandios. Er war in seinem Leben eigentlich immer auf sich selbst gestellt, er hatte Kontakt zu den falschen Leuten, er hat zeitweise Drogen genommen und hat sich immer wieder an die Oberfläche zurück gekämpft. Er hatte zwar kein glanzvolles Leben, hat sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser gehalten, aber er war ehrlich, lieb und er war zufrieden mit dem was er hatte. Du hast den Umgang zu ihm für „nicht gut genug“ gehalten, obwohl Du selbst ja nun in einem Milieu verkehrst, was nicht gerade der Traum einer jeden Frau ist. Du hast mir erzählt, dass ich das absolut nicht verstehen kann, da Du angeblich nur in Clubs verkehren würdest, die einen äußerst guten Ruf genießen, Du Dir deine Freier selbst aussuchen kannst und Du genau das Leben führst, was Du immer führen wolltest. Die tolle Klara Richter, die immer mit den großen Fischen zusammen schwimmen wollte. Du hast gutes Geld verdient, hast Dich jeden Abend in schicken Hotels rumgetrieben oder Dich mit Luxusschlitten durch die Gegend fahren lassen, hast so getan, als ob Du zu den oberen 10000 gehören würdest und einfach vergessen, dass Du ein ganz „normales“ Leben geführt hast. Bei Daniel hat es Dir überhaupt nicht gefallen, wie er mit seinem Leben und mir umgegangen ist. Er wollte seine eigene Wohnung behalten, nicht mit mir zusammenleben, er wollte mir seine Freunde nicht vorstellen, bis unsere Beziehung gefestigt sein würde, über seine Familie sprach er nie und Hobbys hatte er auch keine. Dir war das alles zu schwammig und bei Dir ließ dieses Verhalten automatisch Misstrauen aufkommen. Du warst meiner Meinung nach auch in gewisser Hinsicht eifersüchtig, weil ich Daniel selbstverständlich in Schutz genommen habe, mir Deine harte Kritik an ihm angehört habe, aber nicht auf Dich gehört habe. Heute weiß ich, dass Du mich eigentlich nur schützen wolltest, damals – vor zwei Jahren – dachte ich, dass Du mir mein Glück nicht gönnst und Du selbst aus einer Misere herauskommen möchtest, von der Du nicht sprichst. Jedenfalls hast Du irgendwann damit angefangen, Nachforschungen über Daniel anzustellen. Wo er herkommt, was er gemacht hat usw. Selbstverständlich hast Du das für Dich behalten. Du warst irgendwann regelrecht besessen von der Idee, dass ich Daniel schnellstens aus meinem Leben verbannen müsse. Du hast mir die wildesten Geschichten erzählt, dass er im Rotlichtmilieu verkehren würde, er gefährlich sei, Menschenhandel betreiben würde und seinen Lebensunterhalt damit verdienen würde, dass er Leute beim Glücksspiel mit verschiedenen Maschen abzockt. Ich konnte einfach nicht glauben, was Du da von Dir gibst und fühlte mich in der Pflicht, Dir zu beweisen, dass das alles nicht wahr ist. Daniel hatte gerade einen Job auf einer Baustelle angenommen, von dem ich zufällig erfuhr und Dir davon erzählte.  Am Elbufer wurde gerade ein sechsgeschossiges Bürogebäude gebaut. Du hast mir natürlich kein Wort geglaubt und bist, natürlich ohne mein Wissen, zu der Baustelle gefahren und hast Dir vorgenommen, mit Daniel nun selbst ein Wörtchen zu reden. Ihr habt beide auf der heutigen Dachterrasse oberhalb des sechsten Stocks gestanden, um euch herum nur das Gerüst, es kam erst zum Wortgefecht, dann zu einer Rangelei, bei der Daniel das Gleichgewicht verlor und 25 Meter in die Tiefe stürzte. Er war sofort tot.

Damals stürzte auch ich in ein tiefes Loch, aus dem es mir immer noch schwerfällt, herauszukrabbeln. Ich verlor an einem Tag meinen Freund, meine bessere Hälfte, die Liebe meines Lebens und meine beste Freundin, die mich besser kennt als eine Schwester und heute sitzt Du mir gegenüber und kannst Dich vermeintlich an nichts von alledem erinnern.“

Klara konnte überhaupt nicht auf die Worte reagieren, die sie gerade gehört hatte. Sie sollte also eine Mörderin sein. Getrieben von Eifersucht, obwohl sie selbst in ihrem Leben vermutlich mehr als eine Baustelle haben dürfte. Sie konnte nicht mehr, ihr liefen die Tränen über das Gesicht und sie stand tonlos und kopfschüttelnd auf und rannte aus der Wohnung. Sie musste für sich sein und erst einmal einen klaren Kopf bekommen. Sie lief die knarrenden Treppen des alten Gebäudes im Laufschritt herunter, wischte sich die Tränen aus den Augen, damit sie durch ihren verschwommenen Blick nicht auch noch stürzte und hätte am liebsten immer zwei Stufen auf einmal genommen. Auf dem Bürgersteig vor dem mit roten Backsteinen verklinkerten Haus angekommen, rannte sie fast eine ältere Frau um. Sie murmelte eine hastige Entschuldigung und drehe sich um, um in die andere Richtung weiterzulaufen, als die Frau sie ansprach. „Frau Richter? Sind Sie das? Sie habe ich ja schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Sie sehen etwas verstört aus. Ist alles in Ordnung?“ Klara wollte die ältere Dame schon ignorieren und einfach stehenlassen, aber irgendetwas an ihr kam ihr bekannt vor, oder vertraut oder sie hatte einfach nur so ein Gefühl, kurz stehenzubleiben, weil die Frau nett zu ihr war. Außerdem kannte sie sie offenbar. Klara stammelte: „Entschuldigen Sie, ich war ganz in Gedanken. Mir geht es gut, Danke Frau…?“ Die ältere Dame guckte sie ein wenig erwartend mit einer hochgezogenen Augenbraue an, lachte und winkte ab. „Tut mir leid Frau Richter, Sie lernen bei der Arbeit so viele Menschen kennen, dass Sie sich unmöglich alle Namen und Fälle merken können. Sie und Frau Wrogmann haben mir damals sehr geholfen. Ich bin so glücklich darüber, diesen Gang zu Ihnen gemacht zu haben.“ Sie beugte sich ein bisschen dichter zu Klara, hielt eine Hand vor den Mund und flüsterte: „Das Geld konnte ich gut gebrauchen“. Sie kicherte und fügte hinzu: „Ich muss nun leider weiter, es hat mich sehr gefreut Sie zu sehen. Vielen Dank noch einmal für alles, was Sie damals für mich getan haben und alles Gute für Sie!“ Die ältere Dame drehte sich um und ging unbeschwert den Weg in Richtung Hafen. Klara hatte für einen kurzen Moment fast vergessen, was Linda ihr noch vor wenigen Minuten oben auf dem schicken Sofa in dem schicken Wohnzimmer und dem exakt ihrem Geschmack entsprechenden urigen Haus erzählt hatte. Sie dachte kurz darüber nach, der Frau zu folgen und sie noch einmal anzusprechen, um eventuell etwas mehr Informationen aus ihr herauszubekommen, entschloss sich jedoch dagegen. Klara wusste, dass sich nicht weit von ihrem Standpunkt entfernt, in der Brigittenstraße, ein Internetcafe befindet und ging schnurstracks in diese Richtung. Sie wunderte sich darüber, dass ihr ein Internetcafe geläufig ist, beschloss aber, dass es gerade wichtigere Dinge zu klären gab. Sie betrat den Laden, in dem nur zwei weitere Plätze belegt waren und googelte den Namen, den die ältere Dame vorhin ihr gegenüber erwähnt hat. Frau Wrogmann… Unter den Suchergebnissen befand sich kein Name, der Klara in irgendeiner Art und Weise aufgefallen wäre. Einige Privatpersonen, eine Kosmetikerin, ein Reisebüro, und eine Rechtsanwaltskanzlei. Wobei… Rechtsanwaltskanzlei. In ihrem Kopf kreisten die Gedanken und ihr vielen diverse Fetzen ein, die ein gewisses Fachwissen voraussetzten. Sie kramte angestrengt weiter in den hintersten Schubladen ihres Gehirns und ihr fiel immer mehr ein. Sie wusste wie man Fristen berechnet, ihr kam in den Sinn wie man Kostenerstattungsanträge mit dem Gericht abrechnete und sie kannte jede Menge Kniffe in Zwangsvollstreckungsverfahren. Sie schrieb sich die Adresse mit einem Kugelschreiber, der achtlos von ihrem Vorgänger auf dem Tisch liegengelassen wurde, hastig in der Handfläche, googelte noch die Straße und machte sich kurzerhand auf den Weg zu dieser Kanzlei. Klara hatte nicht die geringste Ahnung was sie sagen sollte, wenn sie dort in der Tür stehen würde. Wie wäre es mit: „Hallo, ich bin Klara Richter. Das ist auch schon alles was ich weiß. Kann mir hier jemand helfen und mir erzählen, wer ich wirklich bin?“ Sie klammerte sich an die fixe Idee in ihrem Kopf, irgendetwas herauszufinden. Sie hatte ein Gefühl, vielleicht eine Spur. Klara bog in die Seitenstraße, eine Sackgasse, suchte die Hausnummer 17 und wusste noch immer nicht, was sie sagen sollte. Zur Not würde sie sich einfach etwas ausdenken, eventuell einen Beratungstermin machen und versuchen, sich in den Räumlichkeiten ein wenig umzusehen. Sie drückte auf die Klingel und der Türsummer sprang ein paar Sekunden später an, ohne dass sie etwas in die Gegensprechanlage sagen musste. Sie stieg die knarrenden Treppen in den ersten Stock und klopfte vorsichtig an die Tür, an der das Schild „Rechtsanwaltskanzlei Monika Wrogmann, Fachanwältin für Strafrecht“ prangte. Nachdem sie von drinnen ein freundliches „ja bitte“ hören konnte, trat sie ein und befand sich in einem hellen, freundlich wirkenden Flur. In der Mitte befand sich ein großer, grauer, edel wirkender Anmeldetresen, hinter dem eine Frau mittleren Alters stand und Klara freundlich anlächelte. Sie riss die Augen ein wenig weiter auf, als sie Klara sah, kam hinter dem Tresen hervor und kam direkt auf sie zu. „Klara! Wie schön Dich zu sehen. Was machst Du denn hier? Wie geht es Dir? Hattest Du endlich einmal Sehnsucht nach uns?“ Klara lächelte freundlich und vermutlich ein wenig zu übertrieben, ging aber ebenfalls auf die Frau zu und erwiderte ihre herzliche Umarmung. „Hier brennt gerade der Tempel. Mädchen, Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was hier heute los ist. Das Telefon klingelt ununterbrochen, ständig kommen irgendwelche unangemeldeten Mandanten, erzählen mir ihr Leiden und stehlen mir die Zeit. Mein Fach ist voll mit Akten, die auf ihre Bearbeitung warten und Du weißt ja: Frau Wrogmann hat es nicht so gerne, wenn die Abrechnungen zu lange auf die lange Bank geschoben werden. Hast Du ein bisschen Zeit mitgebracht? Hol Dir doch einfach einen Kaffee, setz Dich einen Moment in den Wartebereich und ich schaufel mich ein bisschen frei, damit wir ein paar Sätze miteinander quatschen können.“ Aus dem hinter dem Empfangstresen liegenden Raum dröhnte eine rauere Stimme: „Brigitte, kannst Du bitte einmal kurz kommen und mir helfen?“ Die Frau, deren Name offensichtlich Brigitte lautete, rollte die Augen, guckte Klara entschuldigend an und sagte: „Du weißt ja, wo alles ist, bedien Dich einfach, ich bin gleich wieder da!“ Klara sah sich vorsichtig um und versuchte zu erahnen, wo sich denn die Küche befinden könnte. Komischerweise kam ihr die Raumaufteilung unbekannt vor, nicht jedoch der Geruch in diesem Räumen. Es war viel zu warm hier drinnen, der Fußboden roch recht neu und die Duftsteine, die wahrscheinlich in dem Waschraum aufgestellt waren, rochen so stark, dass der Flur gleich mit beduftet wurde. Sie öffnete die Tür, die sich schräg hinter ihr befand. Dahinter befand sich ein längerer schmaler Raum, an dessen Ende sich eine Küchenzeile befand. Die Kaffeemaschine war noch an. Klara nahm sich eine Tasse aus dem Schrank, ließ ihrem Blick durch die Küche schweifen und ging dann zurück in den kleinen Vorraum. Hier stand nur ein großer Schredder, ein Regal, das mit Aktendeckeln und veralteter Fachliteratur vollgestopft war, zwei gemütliche weiße Sessel und ein kleiner Tisch. Nicht gerade der Ort, an dem man eine gemütliche Mittagspause einlegen würde, aber immerhin. Klara ging zurück in die Anmeldung und setzte sich in dem kleinen Wartebereich, der in einer Nische auf dem Flur untergebracht war. Von hier aus, hatte sie einen guten Einblick in den Raum, aus dem vorhin Brigitte gekommen war. Sie stand auf und trat ein bisschen näher. Sie erinnerte sich an diesen Raum. Wie vom Blitz getroffen, stand sie vor dem riesigen Schreibtisch, an dem zwei Arbeitsplätze eingerichtet waren. In der Ecke stand ein großer Kopierer, der im Standby-Modus lief. Gegenüber des Tisches stand ein großer Schrank und daneben Regale, in denen die Fächer für die Mitarbeiter bezeichnet waren. Hier wurden die Akten zur Bearbeitung abgelegt. Sie erinnerte sich daran, was sich hinter den Schranktüren befand. Eine Porto- und Wechselkasse, Ordner, die eher private Inhalte der Chefin beinhalteten, Material wie Büroklammern, Tackernadeln, Heftstreifen, Klebezettel und Schlüssel. Klara dachte nicht darüber nach. Sie war mit fünf Schritten beim Schrank, öffnete die Türen, griff in die linke Ecke, des mittleren Regalbrettes und nahm das kleine Schlüsselbund an sich. Die Schlüssel gehörten zu den Türen im Keller. Klara wusste noch nicht genau, was sie damit machen sollte, aber „haben ist besser als brauchen“. Sie ging wieder zurück in den Flur und trank einen Schluck von ihrem Kaffee. Plötzlich kam ihr die Idee, dass sie sich ja vielleicht anwaltlich vertreten lassen hat, sollte sie tatsächlich für den Tot eines Menschen verantwortlich sein. Das war der Gedanke, den sie bislang nach hinten gedrängt hatte. Sie wurde wieder mutig. Das mit den Schlüsseln hat ja schon gut geklappt. Sie setzte sich an einen der beiden Computer, drückte die Tastenkombination „Alt Gr und M“ und gelang in das Menü, in dem nach Mandanten gesucht werden kann. Sie gab ihren Namen ein und drückte auf „suchen“. Auf dem Monitor blinkte ein Feld, auf dem zu lesen war: „keine Akten gefunden“. Klara war insgeheim enttäuscht, klickte aber noch einmal ein Feld zurück, und wählte im Menü eine weitere Suchoption aus. „Auch nach abgelegten Akten suchen“. Die Suche ergab tatsächlich Treffer. Gleich drei Stück. Sie überflog die Aktenbezeichnungen: Richter gegen Möller, Richter, Ordnungswidrigkeit und Richter, Strafsache. Sie notierte sich die Ablagenummer 19473 auf dem Unterarm und schloss schnell wieder alle offenen Fenster auf dem Monitor. Klara war so aufgeregt wie ein kleines Kind, das eine Runde Karussell fahren darf. Sie hörte Schritte im Nebenzimmer. Soweit sie sich erinnern konnte, stand hier ein großer Aktenschrank mit alphabetischem Register und ein weiterer Schreibtisch, der jedoch nur zur Postbearbeitung und zur Bearbeitung der Buchführung genutzt wurde. Brigitte steckte ihren Kopf wieder zur Tür herein und tuschelte hinter vorgehaltener Hand: „Sorry, Frau Wrogmann hat gerade von unterwegs ein zwanzig Minuten langes Diktat geschickt. Eine Eilsache. Ich muss mich leider sofort daran machen, das Diktat zu schreiben, damit ich den Antrag so schnell wie möglich an das Gericht faxen kann.“ Klara war eigentlich nicht besonders traurig darüber, dass Brigitte gerade keine Zeit für sie hatte. Sie hätte sich zwar gerne noch ein wenig mit ihr unterhalten und bestimmt auch noch mehr über sich selbst herausgefunden, aber sie wusste immerhin schon eine ganze Menge und zwar: Sie hat hier einmal gearbeitet und es gibt hier eine Antwort im Keller, die sie brennender interessierte, als alles andere. Klara sagte: „Schade, dass ich zur falschen Zeit vorbeigekommen bin. Ich versuche es einfach in den nächsten Tagen noch einmal. Dann haben wir vielleicht ein paar Minuten Zeit um uns mal wieder auszutauschen. Lass Dich nicht stressen und einen schönen Feierabend – später.“ Brigitte guckte sie freundlich an, wünschte ihr ebenfalls einen schönen restlichen Tag und sagte ihr, dass sie sich auf das nächste Treffen freuen würde.

Klara verließ das Büro und machte sich ohne Umwege auf den Weg in den Keller, sie schloss die Tür, hinter der sich das Archiv befand auf, knipste den Lichtschalter an und suchte nach der Aktennummer, die sie sich auf den Unterarm gekritzelt hatte. Da stand er: der Karton mit den Akten 19470 bis 19475. Sie packte den Karton, zog alle auf Heftstreifen gebündelten Akten auf einmal heraus und sah sofort das Aktendeckblatt, auf dem die Großbuchstaben „Richter Strafsache“ prangten. Sie hielt einen Moment lang inne, atmete tief durch und schlug die letzte Seite der Akte auf. Darauf befanden sich einige handschriftliche Notizen der Anwältin. Sie blätterte weiter, bis sie zur Anklage kam. Der Briefkopf der Staatsanwaltschaft guckte sie mahnend an und sie las: „

In der Strafsache gegen Klara Richter

Der Beschuldigten wird zur Last gelegt, Daniel Schulze während einer Rangelei vorsätzlich gestoßen zu haben. Dieser verlor das Gleichgewicht und stürzte 25 Meter von dem Dachgeschoss eines Bürogebäudes in die Tiefe ….

Klara konnte nicht glauben, was sie da las. Sie wollte nicht noch mehr grausige Details wissen, wie es dazu gekommen ist, was die Gründe gewesen sind und blätterte die Akte zügig auf der Suche nach dem Urteil durch. Sie las:

Urteil, Im Namen des Volkes

Die Angeklagte wird freigesprochen. Die entstandenen Kosten und Auslagen werden aus der Staatskasse erstattet ….

Klara fiel ein Stein vom Herzen. Wieder liefen ihr die Tränen über die Wangen. Sie rollte die Akte zusammen und stopfte sie unter ihre Jacke. Den Rest des Akteninhalts wollte sie sich später ansehen. Sie sortierte die herausgezogenen Akten wieder in den Karton und stellte ihn wieder an seinen Platz. Klara löschte das Licht, verschloss die Tür wieder und überlegte, was sie mit dem Schlüssel zu den Kellerräumen machen soll. Sie warf die Schlüssel kurzerhand in den Flur, damit es so aussieht, dass diese vielleicht jemandem aus der Hand gerutscht sind. Sie verließ die Kanzlei und fasste kurz für sich zusammen:

1. 1.   Ich bin keine Mörderin

2. 2,   Ich bin offensichtlich Rechtsanwaltsfachangestellte – oder war es

3. 3,     Ich bin wahrscheinlich keine Prostituierte

Das war schon eine ganze Menge an Fakten. Klara hielt es nicht mehr aus. Linda hatte ihr nicht die vollständige Wahrheit erzählt. Sie überlegte, nach Hause zu gehen und Linda mit ihren neu gewonnen Erkenntnissen zu konfrontieren, entschloss sich aber dazu, vorher einen weiteren Ort zu besuchen und zwar das Bürogebäude am Elbufer, das ihr ebenfalls bekannt vorkommen sollte.

Sie hatte ihre Müdigkeit und die vergangenen anstrengenden Stunden zwar weitestgehend verdrängt, da ihr das Adrenalin durch die Adern schoss, aber der Einfachheit halber, hielt sie ein Taxi an und ließ sich ein Stück fahren. Sie wusste nicht so genau, wo sich besagtes Bürogebäude befinden sollte, aber die Suche dauerte nicht lange. Direkt am Elbufer stand ein neuartig gebauter Komplex, der aussah wie ein Parallelogramm. Klara wusste sofort instinktiv, dass sie vor dem richtigen Gebäude stand. Sie ging die große Außentreppe hoch. Man konnte tatsächlich die Dachterrasse besuchen und von dort aus einen wundervollen Blick über den Hamburger Hafen genießen. Als sie hier oben stand und sie den Blick schweifen ließ, traf sie ein weiterer Erinnerungsfetzen wie ein Schlag. Sie erinnerte sich an das Foto auf dem Tablet in Lindas Wohnung, das sie selbst mit einem Baustellenhelm auf dem Kopf zeigte. Das Bild wurde hier aufgenommen und es wurde deshalb gemacht, weil Klara hier arbeitet. In diesem Gebäude. Sie sehnte sich damals nach einer beruflichen Veränderung, sie wollte einen Job mit mehr Verantwortung, bewarb sich bei großen Firmen und wurde genommen. Sie arbeitete noch nicht lange als Sachbearbeiterin für die Reederei mit dem Schwerpunkt auf Dokumentenabwicklung Import/Export und liebte ihren Beruf von der ersten Sekunde an. Von wegen Prostituierte. Linda hatte ihr wohl noch mehr verschwiegen. Und gelogen. Aber warum? Klara hatte fürs Erste genug herausgefunden und wollte Linda zur Rede stellen. Nein, sie wollte sie schütteln, sie wollte sie anschreien, sie wollte ihr am liebsten an die Gurgel gehen. Warum tat sie ihr so etwas an. Sie machte sich auf den Weg zu der Wohnung ihrer „Freundin“. Klara hechtete die Treppe auf, trommelte mit beiden Fäusten an die Wohnungstür, schrie, dass Linda die Tür aufmachen solle und kramte gleichzeitig in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, den sie ja bei sich trug. Sie stieß die Tür auf und hörte ein höhnisches Gelächter aus dem Schlafzimmer. Klara stieß die Tür auf und sah Linda, die mit einer angefangenen Flasche in der Hand vor dem großen Kleiderschrankspiegel auf- und ab stolzierte und sich selbst eine Geschichte erzählte. Klara blieb wie angewurzelt im Türrahmen stehen. Linda sah sie im Spiegel, drehte sich zu ihr um und sagte schwankend: „Na meine Liebe, hast Du die Wahrheit schon ein bisschen verdauen können? Du hast einen Menschen auf dem Gewissen und mein Leben hast Du auch kaputt gemacht. Ich dachte wir wären Freundinnen aber Du hast mich im Stich gelassen. Immer und immer wieder.“ Klara riss der Geduldsfaden: „Hast Du sie eigentlich noch alle beisammen? Ich habe niemanden ermordet. Wenn hier jemand jemanden belogen hat, dann Du mich. Weder bin ich eine Nutte, noch habe ich jemanden getötet.“ Sie pokerte ein wenig und sagte: „Ich führe ein ganz normales Leben, arbeite in einem Büro und mir genügt alles was ich habe.“

Linda lachte so dreckig, dass es Klara eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Ich erzähl Dir mal was meine Hübsche… Aber pssst. Sie kicherte. Jetzt wo wir uns wieder so gut verstehen und wieder die besten Freundinnen sind, kann ich es Dir ja sagen: „Ich war einfach eifersüchtig auf Dein perfektes Leben. Das war schon immer so. Ekelhaft. Du warst schon immer Liebling von Mama und Papa – ach so: das weißt Du ja wahrscheinlich auch schon, dass ich nicht deine Freundin, sondern Deine Schwester bin… Tja, Familie kann man sich eben nicht aussuchen. Du hattest es immer gut. Warst immer der Liebling, hast Deine Schule gut beendet, hast eine Ausbildung gemacht, bist in die Stadt gezogen, die Dich schon immer fasziniert hat, hast gelebt, gearbeitet, gefeiert, wohnst in dieser Schickimicki-Bude und Du sagst, dass Du „zufrieden“ bist.“ „Du hast sie doch nicht mehr alle.“ Linda lachte angewidert auf. „Ich hingegen, lebte in Deinem Schatten, hatte Affären, hab Dummheiten gemacht und dann lernte ich Daniel kennen. Er war perfekt und ihr alle habt ihn gehasst. Habt gegen ihn gehetzt – Du allen voran. Ihr habt mich alle zerstört. Klara – ich musste es tun. Ich konnte Eure Hetzerei und das Gerede nicht mehr ertragen. Ich wollte nicht, dass er stürzt, ich wollte nicht, dass er stirbt, ich wollte nur, dass ihr ein wenig Mitleid habt. Ich stand damals mit ihm zusammen auf diesem Dach. Ich habe ihn zur Rede gestellt, wollte dass er meine Familie kennenlernt. Ich wollte, dass er „ordentlich“ wird. Ich wollte all das, was er nicht wollte. Wir haben uns gestritten. Es muss ja immer erst etwas passieren, bevor man positive Aufmerksamkeit bekommt. Ich wollte, dass ihr Daniel besser kennenlernt und ihn akzeptiert. Ich wollte Dir mit meinen Geschichten einen Denkzettel verpassen!“

Klara brachte fast kein Wort hervor: „Was redest Du da? Das hier ist meine Wohnung? Du hast das alles inszeniert? Den Unfall, meinen Erinnerungsverlust? Die ganzen Geschichten die Du mir erzählt hast?“

Linda grinste und guckte unschuldig zur Decke: „Schlau nicht wahr? Ich bin von „Zuhause“ weggelaufen, habe Dir aufgelauert, Dich k.o. geschlagen, Dich in Deine eigene Wohnung verschleppt. Ich musste nur ein bisschen umdisponieren. Ich konnte nicht damit rechnen, dass Du wirklich so krasse Erinnerungslücken davontragen würdest. Die Lösung, die ich Dir injiziert hatte, sollte nach ein paar Tagen ihre Wirkung verloren haben. Das war gar nicht so einfach. Du hast Dich ganz schön gewehrt. Ich wollte, dass Du einmal in Deinem Leben so fühlst wie ich.“

„Du bist doch krank“ brüllte Klara.

Linda verzog eine Schnute: „na na, ich bin auch genial. Mein Daniel wäre bestimmt stolz auf mich gewesen. Ich hatte in den letzten Wochen eine Aufgabe. Ich habe das Medikament studiert, das ich Dir verabreicht habe, ich habe Deine Wohnung ausgekundschaftet, Deinen Alltag. Wie findest Du übrigens das Foto von Dir auf der Reeperbahn, auf dem Du aussiehst wie eine billige Nutte? Das waren noch Zeiten was?“

„Wie kann man nur so sein? Fast hätte ich mich auf dem Kiez vielleicht auf der Suche nach meinem Ich in mein Verderben gestürzt. Hast Du eine Ahnung, dass Du alles zerstört hättest. Warum hast Du das nur getan? Ich kann das nicht verstehen! Du Monster!“

„Ich muss zugeben, dass mir das am besten gefallen hätte. Ein Skandal um die tolle Klara Richter. Würg. Weißt Du eigentlich wie schwer es ist, nett zu jemandem zu sein, aufzupassen nicht aufzufliegen und alle Eventualitäten zu bedenken? Weißt Du, wie es ist, immer hinten an zu stehen? Neeeein, das weißt Du nicht.“

„Ich rufe jetzt die Polizei. Ich habe genug gehört. Du gehörst eingesperrt.“

„Hahahaha, Klara, Schatz, sei nicht so nachtragend. Wir sind doch jetzt quitt. Lass uns von vorne anfangen. Aber schick mich nicht zurück. Zurück in diese Musterklinik.“ Die glauben da auch nur, dass ihr Auftreten in ihrer Klinik nach außen hin chic ist. Da drinnen passiert gar nichts.“

Klara wollte nicht mehr hören, sie wählte vom Festnetztelefon aus die Nummer der Polizei und ließ ihre Schwester abholen. Sie nahm sich vor, sie irgendwann einmal zu besuchen. Irgendwann. Aber jetzt wollte sie ihr Leben erst einmal neu ordnen.

Ihre Schwester hatte Recht. Sie ist immer gut durchs Leben gekommen. Aber jeder ist für sich selbst verantwortlich. Manchmal hatte sie sich aber auch etwas mehr Chaos in ihrem Leben gewünscht. Sie war stets behütet, ist nie ein Risiko eingegangen, strebte nach ihren Träumen. Sie wünschte sich manchmal ein bisschen riskanter zu leben. Aber fürs Erste reichte ihr der Trouble der letzten Stunden.

Klara setzte sich in ihr schickes Wohnzimmer, atmete tief durch, ließ die letzten Stunden Revue passieren und nahm sich vor am nächsten Tag alles was in Schieflage geraten war, gerade zu rücken. Denn so war sie eben.

 

ENDE

 

 

2 thoughts on “Die Akte

  1. Hallo Lydia,
    ich mag deine Kurzgeschichten wirklich gerne und habe sie mit Neugier und Freude gelesen. Mir gefällt vor allem deine Art zu schreiben und auch wie du die Dinge beschreibst sehr gut (;
    Niemals wäre ich auf die Gedanken gekommen, dass es sich bei der “besten Freundin” eigentlich um die Schwester handelt.

    Liebe Grüße
    Sarah

    Vielleicht hast du ja auch Lust meine Kurzgeschichten zu lesen, kommentieren oder zu liken. Sie heißt “Unschuldskind”.

  2. Hallo Lydia

    Ich bin zufällig auf deine Geschichte gestoßen und finde, du hast dir da etwas Tolles ausgedacht.

    Ich habe zwar von Anfang an geahnt, dass die “beste Freundin” was im Schilde führt, aber mit einer Schwester habe ich nicht gerechnet.

    Ich mag deine Art, wie du schreibst, aber es würde es etwas einfacher machen, wenn du mehr Absätze einbauen würdest. Das würde auch den Anfang wirkungsvoller machen.
    Zudem könntest du manche Stellen etwas einkürzen und den Fokus noch etwas mehr auf das Spiel zwischen den Schwestern legen – das würde mir richtig gut gefallen.

    Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg,

    Jenny /madame_papilio
    (Nur ein kleiner Schlüssel)

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