OlgaGDie Entscheidung

Die nächtliche Stille im Krankenhaus kann zuweilen unerträglich sein. Insbesondere wenn die Einwohnerzahl in dem Ort, wo man sich aufhält, nicht einmal die Zahl 4000 überschreitet. Das ansonsten idyllische Örtchen im Süden Deutschlands scheint in der Nacht wie ausgestorben zu sein.

Ich wachte um drei Uhr morgens und starrte an die Decke. Die Zimmertür öffnete sich und eine vertraute Stimme sprach zu mir.„Nicht erschrecken. Ich muss nur kurz Ihre Körpertemperatur messen., sagte die Krankenpflegerin. Frau Berger war eine kleine, kräftige Dame, die ihrer Berufswahl definitiv richtig getroffen hatte. „Es tut mir Leid, meine Hände sind etwas kalt“, sagte sie und zog mir das Ohr nach hinten. Sie schielte auf das Thermometer und lächelte. „Es ist alles in Ordnung.“

Schnellen, leisen Schrittes bewegte sie sich Richtung Tür, doch ich hielt sie mit meiner Frage auf. „Frau Berger… Ist heute sehr viel los?

„Nicht wirklich. Sie sah mich genau an. „Geht es Ihnen gut?“

„Nein. Ich meine, ja, es geht mir körperlich gut.“, sagte ich und blickte auf den Boden. „Ach, vergessen Sie es.“ Ich gab mir Mühe zu lächeln.

Sie neigte ihren Kopf zur Seite, kniff die Lippen zusammen und hob die Augenbrauen hoch. Sie glaubte mir kein Wort.

„Wissen Sie was?“, sagte sie, „Ich muss so oder so eine Pause machen. Kommen Sie mit.“ Sie zeigte mit ihrem Kopf in Richtung Kantine, gab kurz dem Kollegen Bescheid und wir gingen schweigend die sanft beleuchteten Korridore entlang.

„Mögen Sie Geschichten?“, rutschte mir die Frage heraus.

„Und wie.“ Sie sah zu mir hoch und klopfte beim Gehen behutsam auf meinen Rücken.

Wir setzten uns an einen Tisch am Fenster, das zum Krankenhausgarten hinausging und in dem sich die einzige schwache Wandleuchte spiegelte. Der sonst von Leben erfüllter Raum war still und leer.

„Erzähl“, sagte sie kaum hörbar. Sie hatte Angst, dass ich mir anders überlege.

Ich sah mir die Umrisse von den völlig von der Dunkelheit verschlungenen Bäumen an und legte los.

***

Es war Sonntag, der 2 August.

„Ah, Grüße dich, Clemens! Warte einen Moment!“, rief mir Justine freudig zu, die Besitzerin des einzigen Blumenladens in der Stadt, der meinen Ansprüchen gerecht wurde. „Ist es schon wieder so weit?“, fragte sie sanft lächelnd, sah mir kurz in die Augen und machte nebenbei geschickt die Bestellung eines Kunden fertig.

„Ja.“

„Wahnsinn, wie schnell die Zeit vergeht! Wie alt ist deine Gudrun geworden?“

„13.“, brabbelte ich trocken vor mich hin, völlig unvorbereitet auf ein Small Talk.

Wie geht’s ihr? Ist sie schon in jemanden verliebt?“ Sie zwinkerte.

„Es geht ihr gut! Und für so etwas ist sie noch zu jung! Ich meinte, sie hat natürlich Freunde, aber …“

Justine bemerkte meine Nervosität und sah mich mitfühlend an.

„Schon gut. Es tut mir leid.“ Ihre Stimme wurde leiser, blieb dennoch bestimmt. „Ich weiß, es ist noch nicht so lange her, aber denkst du nicht, es wäre langsam Zeit, das Geschehene hinter dir zu lassen? Es ist unmöglich, sie vor allem zu beschützen.“

Du wirst es nie verstehen!..“

Innerlich war ich auf einen langen Monolog zum Thema Elternliebe eingestellt, doch Justine unterbrach mich.

„Wie jedes Jahr?“, fragte sie und griff, noch bevor ich etwas sagen konnte, zu den Lieblingsblumen meiner Tochter. Sie packte den Strauss ein, nahm ihn und streckte die Hand in meine Richtung. „Alles wird gut.“ Sie sah mir tief in die Augen, bis sie das Gefühl hatte, dass ihre Worte bei mir ankamen. Ich nickte lautlos, nahm die Blumen und ging gemütlich nach Hause.

Für heute wurde Regen vorhergesagt. Doch der Himmel war kristallklar und die Hitze machte mir zu schaffen. Die Luft stand still und sogar das Atmen fiel mir schwer. Die Vögel schrien laut um die Wette. Ich ging durch den knappen Vorgarten zur Eingangstür unseres Traumhauses, blieb für einen Moment stehen, hob die Hand an meine mit Schweißtropfen bedeckte Stirn, schaute nach oben und kniff unwillkürlich die Augen. Vielleicht hat Justine recht … Vielleicht sollte ich die Vergangenheit ruhen lassen. Schließlich war Gudrun das eigentliche Opfer, obwohl sie sich als solches nie betrachtete. Ein tapferer, lebensgieriger kleiner Mensch. Womit habe ich es verdient, sie in meinem Leben zu haben? Habe ich das überhaupt?…

Ich schloss die Augen, holte tief Luft und war gerade dabei den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken, als ich von einem kleinen Gegenstand geblendet wurde. Er lag außen auf der Fensterbank meines Bürozimmers. Ich sah genauer hin. Es war ein Handy. Hat es jemand verloren? Ich sollte es zur Polizei bringen, bevor man denkt, dass ich es gestohlen hätte, jagte es durch meinen Kopf. Vielleicht wäre es sinnvoll, nachzusehen, ob es gesperrt ist, um so schneller den Besitzer ausfindig zu machen. Auf ein Knopfdruck leuchtete das Handy auf und mein Herz raste los. Trotz der unerträglichen Hitze bekam ich Schüttelfrost, drehte mich panisch um und sah dann wiederholt auf den Bildschirm, welcher wieder schwarz wurde. Was zum Teufel …

„Papa!“ Gudrun riss die Tür auf. Sie atmete schnell, vermutlich hat sie mich aus dem Hintergarten beobachtet und ist durchs ganze Haus zu mir gerannt. Ich zuckte zusammen und ließ das Handy in der Hosentasche verschwinden.

„Alles Gu …“ Ich machte den Mund auf, doch es kamen nur undefinierbare Laute aus meinem trockenen Hals. Ich räusperte mich und versuchte es noch einmal. „Alles Gute, mein Liebes“, flüsterte ich.

„Danke Papa!“ Gudruns laute Stimme erfüllte das ganze Haus. Sie riss mir den Gerberastrauß aus den verkrampften kalten Fingern und rannte zurück zu ihrer Mutter und den Gästen.

Ich stand eine Weile da, bevor ich hektisch in mein Büro verschwand und die schwere Massivholztür verriegelte. In meinem Ledersessel sitzend, lehnte ich mich nach hinten und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Mir schwirrten einige Fragen durch den Kopf, auf die ich keine Antworten hatte. Nichts ergab einen Sinn. Ich schob meinen Daumen und Zeigefinger in die Hosentasche, holte vorsichtig das verdammte Gerät wieder heraus und legte es wegwerfend auf den Schreibtisch. Ich drückte nervös auf den Mittelknopf, um das Hintergrundbild genauer zu betrachten. Das auf dem Foto … das bin ich und …

Ich konnte mich gut an den Tag erinnern. Es war vor drei Jahren. Gudrun hatte eine schwere Operation erfolgreich überstanden. Nach dem ich ihr kurz hallo sagen durfte, gingen mein bester Freund, den ich während des Medizinstudiums kennengelernt hatte, und ich in ein Café. Diesem Menschen habe ich es zu verdanken, dass mein Ein und Alles noch lebt. Ich heulte mir vor Freude die Augen aus und er hörte mir geduldig zu. Nachdem ich mich beruhigt hatte, verabschiedete er sich förmlich, bezahlte die Rechnung und ging. Später brach er jeglichen Kontakt zu mir ab. Es traf mich sehr, denn sein Verhalten schien mir unerklärbar. Zumindest rede ich mir das ein …

Das laute Klopfen an der Bürotür holte mich zurück in die Realität.

„Papa! Komm! Wir warten auf dich!“

Kaum sperrte ich das Zimmer auf, öffnete Gudrun wild die Tür und zerrte mich munter an der Hand in den Garten, wo sich bereits alle an einem langen Holztisch versammelt hatten. Meine Beine waren schwer, ich schleppte mich langsam hinter ihr her. Der Tag verging wie im Nebel.

Nachdem die Gäste verschwunden waren, brachte ich meine Tochter ins Bett, küsste sie auf die Stirn und eilte zurück ins Büro. Alle Geräusche verstummten, außer das Ticken der Wanduhr und dem Zirpen der Grillen, das man trotz, dass die Fenster dicht verschlossen waren, gut hörte. Ich setzte mich wieder an den Tisch, richtete den Blick nach vorne und starrte eine Weile hinaus in die Dunkelheit. Mein Gehirn war so überlastet, dass ich an nichts mehr denken konnte. Die Aktivität meines Körpers begrenzte sich auf Grundfunktionen wie Atmen und Augenblinzeln. Ein Nachbarauto fuhr vorbei und beleuchtete für einen Augenblick die Wände des Zimmers. Ich senkte langsam den Kopf, dann die Augen und stellte mit Schrecken fest, dass der Handyakku nur noch 10% anzeigte. Ich öffnete krampfhaft eine Schublade meines Schreibtisches nach der anderen, in der Hoffnung ein passendes Kabel zu finden.

„Ja!“, schrie ich und zuckte zugleich. Zum Glück wachten weder Gudrun, noch meine Frau auf. Sobald das Handy am Laden war, versuchte ich einen PIN-Code einzutippen, der mir richtig schien.

„Sie haben noch zwei Versuche.“ Ich musste den Drang unterbinden, das verfluchte Ding an die Wand zu werfen. Es reicht für heute, beschloss ich, rieb mir das Gesicht mit beiden Händen und formte dabei meinen Mund so, als würde ich gleich losschreien.

Am nächsten Tag, fragte eine der Angestellten meiner Praxis, ob es mir gut gehe, ich sähe nicht fit aus. Auf eine Antwort wartete sie vergeblich. Ohne jemanden zu begrüßen, verschwand ich in das Behandlungszimmer und versuchte mich zu konzentrieren. Das Wartezimmer war überfüllt, doch ich sah mir in Ruhe den Stapel Post durch, der wie jeden Montagmorgen auf meinem Tisch lag. Unter den ganzen Laborberichten stich ein Brief besonders heraus. Er besaß weder Briefmarke, noch Absender. Es stand lediglich mein Name in Druckbuchstaben darauf. Ich zerriss nervös den Briefumschlag und öffnete das zusammengefaltete Blatt.

„Hatte dein Töchterchen gestern eine schöne Geburtstagsfei2r?“

Ich stürmte zum Empfang.

„Von wem ist er?! Habt ihr die Person gesehen?!“, fragte ich garstig und schüttelte dabei gereizt den Brief.

„Nein.“, antwortete die Empfangsmitarbeiterin ängstlich und beugte sich leicht nach hinten. „Montags ist immer einiges los und …“ Sie stotterte. Aber ich hörte ihr nicht mehr zu und war schon wieder auf dem Weg an meinen Arbeitsplatz. Was für ein Trottel, dachte ich. Wer immer mir Drohbriefe schreibt, sollte dies wenigstens ohne Schreibfehler tun.

Ich fertigte meine Patienten einen nach dem anderen ab. Beim Blick in ihre Gesichter versuchte ich zu erraten, was in den Köpfen jedes einzelnen vorging und sah in jedem Menschen, der das Zimmer betrat, einen potentiellen Feind. Völlig ausgelaugt kam ich nach Hause, fiel samt Schuhen ins Bett und schlief augenblicklich ein.

Meine Frau streichelte mir sanft über die Wange.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt und riss mich für einen Moment aus dem Schlaf.

„Ja, mach dir keinen Kopf. Heute war die Hölle los“, antwortete ich und kniff die Augen zu. Ich stellte mich schaffend, um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen …

Am nächsten Morgen fand ich mich entkleidet unter einer Decke und meine Sachen lagen ordentlich zusammengelegt auf einem Stuhl.

„Du musstest es nicht tun.“, sagte ich auf dem Weg nach unten zu meiner Frau.

„Nein. Aber ich wollte dir etwas gutes tun, da du im Moment, aus welchem Grund auch immer, offensichtlich gestresst bist“, sagte sie sanft, ohne mich anzusehen. Sie bereitete das Frühstück vor.

„Danke …“ Ich setzte mich an den Tisch und ließ mich bedienen. Trotz zehn Stunden Schlaf war die Erschöpfung genauso wie am Vortag. Satt machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Am Abend kam ich heim und schleppte mich gleich nach oben.

So verging ein Tag nach dem anderen. Mühevoll versuchte ich, ein normales Leben zu führen, doch ich bekam nicht wirklich mit, was um mich herum geschah.

Die Ungewissheit raubte mir den Verstand.

Knapp eine Woche später, am Freitag, den 7. August, kam ich eine Stunde früher nach Hause und sah meine Frau mit einem Unbekannten reden. Sie lächelte und verabschiedete sich von ihm, im Anschluss ging er wieder.

„Wer war das? Was wollte er?“, fragte ich und spürte, wie ich im Inneren zu zittern anfing.

„Keine Ahnung. Er hatte bloß gefragt, ob ich seinen Hund gesehen hätte. Er ist ihm wohl entlaufen.“, sagte sie gelassen. Sie zog die Augenbrauen zusammen und sah mich an, streng und einfühlsam zugleich. „Wieso?“

„Ach … Vermutlich bin nur etwas überarbeitet.“ Ich schämte mich für mein Misstrauen und die anscheinend völlig unbegründete Verfolgungsangst.

Sie schloss mich in die Arme und ich machte für einen kurzen Moment die Augen zu. Irgendein Verrückter will mir Angst einjagen, aber ich lasse mich nicht manipulieren. Schließlich habe ich sie, meine Familie. Meine Gudrun. Ich muss mich zusammenreißen. Ich muss sie beschützen. Sie darf nichts von dem, was passiert ist jemals erfahren.

Meine Frau ging ins Haus. Ich ertastete den Schlüsselbund in meiner Hosentasche und ging zum Briefkasten. Das Türchen quietschte und ich sah einen Brief ohne Absender. Meine Handflächen wurden feucht. Ich öffnete vorsichtig den Umschlag.

Kannst du ihr noch in die A8gen sehen?“

Es drehte sich alles vor meinen Augen und ich taumelte ein wenig nach hinten, um das Gleichgewicht zu halten. Ich blinzelte und las den Satz erneut. Diese Zahlen … Es waren keine Schreibfehler. Ich hob den Kopf, sah schief grinsend das Fenster meines Bürozimmers an und trippelte umgehend ins Haus. Ich versuchte das Handy vom Schreibtisch zu nehmen, doch es viel mir aus der Hand. Ich griff ein zweites Mal danach und begann den PIN-Code einzugeben. „28…“, flüsterte ich dabei. Mir zitterten die Finger. Wer bist du verflucht? Und woher kennst du dieses Datum? Diesmal war ich mir sicher, dass der Code stimmte. Ich tippte weiter. 2807. 2. August 2007. Der Geburtstag meiner Tochter. Es gab ein kurzes Geräusch und die Inhalte des Gerätes waren freigegeben. Ich sah mir alle Ordner durch und fand nichts, außer einem Video. Ich öffnete es.

„Mein lieber Kai …“ Eine traurige krankhaft dünne Frau blicke mir von dem Handybildschirm entgegen. „… Ich will dir von Herzen danken, dass du mich nie aufgegeben hast, sogar in den Zeiten, als es keine Hoffnung mehr gab. Du hast mutig um unsere Zukunft gekämpft und mich immer unterstützt. Doch das Schicksal hat sich anders entschieden. Ich habe eine letzte Bitte. Gib niemandem die Schuld an dem, was uns zugestoßen ist. Auch wenn mein Körper bald nicht mehr lebt, die Liebe bleibt bestehen. Ich weiß … Ich spüre es, dass ich bald nicht mehr da sein werde. Ich flehe dich an, mein Herz, verzeih ihm …“

„Sei still …“ Ich brach das Video ab und schmiss das Handy auf den Tisch. Meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich wollte losschreien, beherrschte mich jedoch. Mein Kopf fing an zu schmerzen. Ich musste etwas unternehmen …

Am nächsten Tag klingelte der Wecker um 6 Uhr morgens. Ich machte mich fertig, nahm das Handy und fuhr ans andere Ende der Stadt. Graue Mehrfamilienhäuser einer Millionenmetropole flimmerten hinter der Glasscheibe an mir vorbei und verschmolzen ineinander.

Es war 8 Uhr. Ich parkte das Auto vor dem Eigentumshaus meines besten Freundes.

Sascha! Sascha! Mach die verdammte Tür auf!“, schrie ich und hielt die Türklingel ein paar Sekunden lang gedrückt.

„Bist du verrückt geworden?!“ Er riss die Eingangstür mit einer Wucht auf, sodass der Wind seine ungekämmten Haare bewegte, und sah mich erschrocken an. „Was ist passiert? Wieso bist du überhaupt hier? Habe ich mich damals nicht klar genug ausgedrückt? Ich will dich nie mehr sehen! Ist das klar?!“, zischte er wütend in mein Gesicht und wollte die Tür zuschmeißen, als ich das Handy rausholte und es ihm vor die Nase hielt.

„Verschwinde …“, flüsterte er und schwankte nach hinten.

„Warte! Es gehört mir nicht! Es wurde an der Fensterbank meines Hauses platziert … Zuerst dachte ich, es habe jemand verloren, doch dann bemerkte ich das Bild … Erinnerst du dich noch an den Tag?“

„Ja, leider.“ Saschas Gesicht verkrampfte zu einem unpassenden Lächeln während er mich mit seinem hasserfüllten Blick durchbohrte „Ich will nicht darüber sprechen.“, sagte er.

Ich brauche deine Hilfe.“

„Hattest du. Und jetzt verschwinde aus meinem Leben.“

„Bitte …“, flehte ich Sascha an. „Gib mir ihre Adresse.“

„Wie bitte?!“ Sascha hob die Augenbrauen hoch.

„Ich kann es dir erklären. Warte …“ Ich öffnete den Handyordner mit dem Video und ließ es abspielen. „Ich muss es tun … Ich muss mich bei ihrem Mann entschuldigen.“

„Bist du wahnsinnig?!“ Sascha lachte auf und schien doch so verzweifelt zu sein, dass er mir zusagte. „Wenn ich es tue, wenn ich dir die Adresse von dieser Armen Seele zukommen lasse, versprichst du mir, dass wir uns nie im Leben sehen werden?!“ Sascha sah mir tief in die Augen und presste seinen ausgestreckten Zeigefinger gegen meine Brust.

„Ja, ich verspreche es …“

„Gut. Ich habe sowieso nichts mehr zu verlieren. Nächsten Monat lasse ich mich in irgendein Kaff versetzen. Ich habe die Stelle als Oberarzt nicht verdient, wenn ich so etwas zulassen kann“, er nickte in meine Richtung.

Meine Knie wurden weich. „Es war nicht deine Schuld. Ich habe dich ausgenutzt.“

„Wie auch immer. Es ist passiert und ich bin mitverantwortlich. Und jetzt zieh ab! Kriegst alles per Post.“ Er warf laut die Tür zu.

Bald bekam ich einen Brief von Sascha mit der Adresse, die er aus den Krankenakten der abgemagerten Frau entnahm. Ich durfte keine Zeit verlieren und machte mich schon am Mittwoch, direkt nach der Arbeit, auf den Weg dahin. Bei meiner Ankunft, erhob sich vor mir ein heruntergekommener Plattenbau. Ich schlich hinein und stieg schwer atmend die Treppen hoch bis in den dreizehnten Stock. Ich holte tief Luft, fing an vor Nervosität zu husten und klingelte ein paar Mal. Es schien keiner zu Hause zu sein. Erleichtert, dass das Gespräch nicht zustande kam, wollte ich gerade gehen. Da öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung einen Spaltbreit.

„Wer sind Sie?“, fragte eine ältere Frau mit osteuropäischen Akzent.

„Ich?“, stotterte ich. „Ich kenne Ihre Nachbarn.“ Ich bemühte mich, die Aufregung zu verstecken.

„Sie meinen, sie kannten meine Nachbarn?“

Ich sah anscheinend so schockiert aus, dass sie gleich weiter sprach.

„Jaja. Sie haben mich schon richtig verstanden. Sie sind beide tot. Armes Pärchen. Der Frau wurde eine lebensrettende Operation erst zugesagt und dann aus unbekannten Gründen wieder abgesagt. Dem Krankenhaus ist scheinbar ein Fehler unterlaufen. Und der Mann hat sich kurz danach aufgehängt.“

Ich wurde kreidebleich.

„Warten Sie.“, sagte sie, hob ihren Zeigefinger in die Luft und verschwand in ihre Wohnung. Als sie wieder kam, versteckte sie ihre rechte Hand hinter dem Rücken. „Sind Sie Clemens?“

Ich schwieg und nickte zustimmend.

„Er wusste, dass Sie ihn eines Tages aufsuchen würden. Das hat er mir kurz vor seinem Tod gegeben. Ich dachte, er sei verrückt geworden, doch es war ein Tag, bevor die Polizei ihn an der Decke hängend fand. Da dachte ich, ich hebe es lieber auf.“ Sie gab mir ein Blatt Papier und schloss eilig die Wohnungstür, ohne sich zu verabschieden.

Mir wurde schwarz vor Augen und die Übelkeit kam hoch. Als ich das Hochhaus verließ, war ich erleichtert.

Den Brief traute ich mich erst zu lesen, als ich wieder zu Hause war und mich in meinem Büro einsperrte.

Ich weiß, was du getan hast. Du hast meine Frau umgebracht, um deiner geliebten Tochter das Leben zu retten …“, stand auf einem vergilbtem nach Tabak stinkendem Blatt Papier.

„Nein, so war es nicht …“, flüsterte ich, biss die Zähne zusammen und setzte das Lesen fort.

„… Meine Frau galt als austherapiert und hatte die Hoffnung bereits verloren. Ihr schwaches Herz hätte es nicht geschafft, bis sich irgendwann ein passender Spender gefunden hätte.

Als sie von einer neuen Studie hörte, blühte sie wieder auf. Es sollte eine neue, vielversprechende Methode erprobt werden. Ein Schweineherz, welches zuvor von den eigenen Zellen befreit und dann mit jenen des Empfängers und dessen DNA aufbereitet wurde, sollte diesem implantiert werden und somit die Abstoßung des Organs ohne Medikamente unterbinden. Sie meldete sich an. Nach diversen Untersuchungen wurde ihr mitgeteilt, sie passe perfekt. Sie bekam eine Zusage. Ein maßgeschneidertes Herz ohne menschlichen Spender. Es hätte so schön sein können. Doch dann kam deine Vaterliebe dazwischen. Bei dem regen Betrieb einer Universitätsklinik würde niemandem so schnell auffallen, dass einer der Ärzte nicht hinein gehört. Du hast die Namen in den Berichten vertauscht. Dein Mädchen hätte eigentlich noch Zeit gehabt, doch du konntest sie nicht leiden sehen. Du wolltest sie beschützen, koste es, was es wolle.

Ein aufmerksamer verärgerter Labormitarbeiter ließ mir die richtigen Unterlagen zukommen. Ihm ist der Fehler aufgefallen. Doch der Oberarzt wollte einem einfachen Laboranten, einem Untergebenen, welcher seine Kompetenz anzweifelte, keinen Glauben schenken. Nun, es war zu dem Zeitpunkt so oder so zu spät gewesen. Das Herz schlug bereits in der Brust deine Tochter.

Ich habe alles vorbereitet. Auf dich wartet eine spanende Zeit.

Ich wünsche dir viel Kraft. Denn du musst jetzt eine wichtige Entscheidung treffen.

Erzähl deiner Gudrun, wie sie an das Herz gekommen ist. Wenn du es nicht selbst tust, wird sie in Kürze einen interessanten Brief bekommen.

Du hast die Wahl.“

Mein Atem wurde schneller. Ich knüllte das Papier zusammen und schmiss es in die unterste Schreibtischschublade.

Mir wurde bewusst, dass ich in die Enge getrieben wurde. Ich hatte mir selbst alle Fluchtwege abgeschnitten. Es war nur eine Frage der Zeit, wann meine heile Welt zu bröseln anfangen würde. Doch ich hatte meine Entscheidung bereits vor drei Jahren getroffen. Ich werde alles tun, dass sie glücklich ist.

Ich erzählte ihr nichts. Die nächsten Jahre tat ich alles, was in meiner Macht stand. Ich begleitete Gudrun zur Schule und holte sie ab, öffnete alle Briefe, die sie bekam und lass sie. Ich kontrollierte alle Bereiche ihres Lebens, die ich nur konnte. Bis sie es bemerkte.

Sie fing an, mich zu hassen. Mit fünfzehn suchte sie sich einen Ausbildungsplatz so weit weg von Zuhause wie möglich.

Kurz darauf verließ mich meine Frau. Sie meinte, ich sei nicht der Mensch, dem sie damals das Jawort gab. Sie hatte das Gefühl, dass sie mir nicht mehr trauen könne.

Ich war ihr keineswegs böse deswegen. Doch so zu leben schien mir unerträglich. Eines Tages kam ich von der Arbeit nach Hause und wollte mir wie gewohnt das Abendessen zubereiten. Aber die Stille und die Einsamkeit verätzten meine Gedanken. Ich ging ins Schlafzimmer und nahm so viel Schlaftabletten, wie ich aus der Praxis ein paar Tage zuvor nur mitnehmen konnte.

***

„Mein Nachbar schlief in dieser Nacht nicht gut und bemerkte den Rauch, der aus dem gekippten Fenster meiner Küche quoll, und rief die Feuerwehr. Und dann … und dann wachte ich hier auf, in der Psychiatrie. Beim nächsten Versuch schalte ich den verfluchten Herd aus“, kicherte ich. „Frau Berger? Hörn Sie mir zu?“

Doch sie war im Sitzen eingeschlafen.

Auf dem Weg zurück ins Krankenzimmer sah ich bei dem Kollegen von Frau Berger vorbei und bat ihn darum, sie rechtzeitig aufzuwecken, damit sie keinen Ärger bekomme.

Ich legte mich wieder in mein Bett und zog die nach Desinfektionsmittel riechende Decke über den Kopf.

5 thoughts on “Die Entscheidung

  1. Hallo liebe Olga

    Ich habe deine Geschichte durch Zufall gefunden, und sie hat mich gefesselt und berührt.

    Du hast einen guten und tollen Schreibstil und dein Talent ist nicht zu übersehen.

    Das Finale hast du großartig vorbereitet, und schließlich war es total krass und überraschend.

    Man merkt und spürt deutlich, dass du Freude am Schreiben hast, und das überträgt sich auf den Leser.

    Kompliment.

    Du hast eine großartige Geschichte geschrieben.

    Meine Stimme hast du.

    Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.
    Und noch viel mehr Likes und Herzchen.

    Schreib weiter und weiter.
    Und du wirst noch viele bezaubernde Geschichten schreiben.

    Und noch viele Leser berühren.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
    Über einen Kommentar würde ich mich sehr freuen.

    Meine Geschichte heißt:
    “Die silberne Katze”

    Ich wünsche dir nur das Beste der Welt.
    Swen

    1. Hallo Karin,
      Vielen lieben Dank!
      Ich habe die Seite ein wenig aus den Augen verloren, deswegen habe ich die Kommentare leider bis jetzt noch gar nicht gesehen…
      Ehrlich gesagt ist dies meine erste Geschichte, die nicht in meiner Muttersprache verfasst wurde 😬 deswegen hat es mich ein wenig überrascht, dass sie überhaupt jemandem gefällt 😅

  2. Moin Olga,

    was für ein Finale! WOW! Ein guter Plot eine tolle Erzählweise.

    Sehr lebendig geschrieben. Deine Dialoge wirken gut skizziert. Mich hat deine Geschichte gut unterhalten, danke das du den Mut hattest sie zu schreiben und sie mit uns zu teilen.

    Für den Mut an diesem Wettbewerb teilgenommen zu haben, lass ich dir gerne ein Like da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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