Anika DanielDie Erntedankgabe

 

Die Erntedankgabe

 

 Es war nicht leicht den beinahe unstillbaren Drang nach Antworten zu unterdrücken, auch wenn die Suche ausschließlich auf waghalsige Art und Weise möglich war. Ela starrte in die Finsternis und war dankbar, dass sie nun leise weinen konnte, ohne dass sie Fabian damit belastete. Es war nicht einfach, ihren Tränen freien Lauf zu lassen, ohne nur einen Ton von sich zu geben, da ihr Mann neben ihr lag und den Schlaf suchte. Ihre Gedanken kreisten um Erinnerungen und ihr Kopf ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Wo bist du? Ich spüre, dass etwas passiert ist. In der tiefen Nacht wurde sie von der Dunkelheit in den Schlaf gerissen und träumte von Janne, der Person, mit welcher sie untrennbar verbunden war. Sie sah ihn im Garten stehen, wie er sie umarmte und ihr Mann zur Feier des Tages grillte. Sogar Nachbarin Tina war neugierig vorbeigekommen und die beiden hatten sich auf Anhieb sehr gern. Ela schlug die Augen auf und erkannte die Umrisse ihres Schlafzimmers, da einige Lichtstrahlen den Weg durch die zugezogenen Gardinen gefunden hatten. Sie rüttelte an Fabian und sagte mit klarer Stimme: »Ich weiß was passiert ist!«

 

***

 

Fabian starrte mit seiner dampfenden Tasse Kaffee aus dem Küchenfenster und grinste, denn seine Vermutung bewahrheitete sich, dass die beste Gelegenheit in einem Moment des Nichtsahnens eintrat. Er hatte nur diese eine Möglichkeit, denn sein Nachbar Dietmar stand gerade auf der Straße und telefonierte lautstark mit einem Holzlieferanten, dass er sofort zurückkommen solle, um das Kaminholz von der Straße in den Hof zu verladen. Fabian knallte die Tasse auf den Tisch, schlüpfte in seine Hausschuhe und rannte durch die Kellertür in den Garten. Er stieg über den angrenzenden Zaun des Nachbargartens und betrat das Haus durch die Kellertür, die Dietmar in seiner Eile nicht abgeschlossen hatte. Mit schnellen Schritten, klopfendem Herzen und einer Angst, die beinahe seine Kehle zuschnürte, betrat er den Raum, dessen Lichtschimmer er durch die blickdichten Gardinen schon so oft gesehen hatte. Vielleicht hatte Ela Recht. Er öffnete alle Schränke und eine alte Holztruhe, jedoch ohne Erfolg. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, denn es war kein schönes Gefühl nach einer Leiche zu suchen. Erstaunt fiel sein Blick auf den Computer, von welchem er täglich das schimmernde Licht durch das Kellerfenster sah. Ihm leuchteten weiße Schriftbuchstaben auf einem schwarzem Hintergrund entgegen. Jackpot. Er hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit, dass er diese grauenvolle Entdeckung machte. Es hat etwas Gutes, wenn man IT Administrator ist. Anscheinend hatten ihm seine Sinne noch einen kleinen Funken Hoffnung geschenkt, er würde sich täuschen. Leider war dem nicht so, sondern Elas Instinkt bewahrheitete sich. Fabian fotografierte den Bildschirm und verließ den Keller mit schnellen Schritten und zittrigen Knien. Er vernahm Stimmen von draußen, aus dem Garten und rannte wieder zurück in den Keller. Er entschied sich nach oben in die Wohnung zu rennen, um aus der Haustür herauszugehen. Er hatte Glück und sein kleiner Besuch blieb unbemerkt. Ela erwartete ihn bereits und fragte aufgeregt: »Und, hast du ihn gefunden?«

»Leider nicht, aber schau dir dieses Bild an. Deine Vermutung war richtig.« Sie schaute auf das Foto und las den Text laut vor: »Männlich, vierzig Jahre, dunkle Haare, breite Statur, Vorerkrankungen unbekannt, seit drei Monaten tiefgekühlt gelagert. Aber was sagt uns das jetzt?«

»Ela, das ist unsere Chance Dietmar die verdienten psychischen Qualen zuzubereiten, die er verdient hat. Ich kenne mich mit sowas aus! In meinem Studium hatte ich viele Seminare über dieses Thema.«

»Über welches Thema, was meinst du?«

»Über das Dark Web, Ela. Unser Nachbar bietet die Leiche von Janne zum Verkauf für mysteriöse medizinische Zwecke an. Er ist gerade dabei sein Angebot einzurichten. Du hattest Recht, er wird ihn umgebracht haben, wegen dem Verhältnis zu Tina. Deshalb ist sie bestimmt auch ausgezogen.« Sie schlug die Hände vor den Mund und schluckte ganz tapfer ihre Tränen hinunter.

»Er ist tatsächlich nicht der nette Mann, der er vorgibt zu sein. Dietmar ist gefährlich.« Er schaute ihr tief in die Augen und hielt sie mit beiden Händen an den Oberarmen fest.

»Du weißt, was für ein Tag morgen ist?«

»Sonntag?«

»Richtig und morgen ist Erntedankfest. Wir werden diesem Dreckskerl Dietmar eine ganz besondere Überraschung darbieten und du musst mir dabei helfen.«

»Ich werde alles tun, damit er seine gerechte Strafe bekommt. Janne hat mir schließlich das kostbarste Geschenk auf der Welt gemacht.« Elas Leben. Tränen glitzerten in ihren Augen und Fabian nahm sie in den Arm.

»Ich weiß, dass es sehr schwer für dich ist. Ich werde alles tun, damit Dietmar nicht ungestraft davonkommt. Er wird dafür büßen, was er deinem genetischen Zwilling angetan hat.« Die Nacht war lang, schlaflos und nervenaufreibend, denn sie grübelten den perfekten Plan aus. Am nächsten Morgen schaute Fabian seinem Nachbarn hinterher, der sich schnellen Schrittes und mit einem freundlichen Lächeln auf den Weg zur Kirche machte. Wenn du wüsstest, mein Lieber. Fabian schrieb seiner Frau eine kurze Nachricht und informierte sie, dass er losgegangen war, denn sie war bereits in der Kirche und traf ihre Vorbereitungen.

 

***

 

Dietmar saß auf seinem Stammplatz in der Kirche und unterhielt sich über die diakonische Arbeit, zu welchem Zweck die Kollekte bestimmt war. Er schenkte den Menschen, um sich herum, sein herzlichstes Lächeln und sprach mit weicher und ruhiger Stimme. Seine übereinandergeschlagenen Beine symbolisierten seinen Mitmenschen, dass er sich wohlfühlte und die Kirche sein zuhause war. Es war nicht abzustreiten, dass es eine Kunst für sich war, exakt das Gegenteil seines Charakters zu präsentieren. Welch ein Jammer, dass seine Mutter die Ernsthaftigkeit seiner Taten stets totgeschwiegen hatte. Schon als kleiner Junge dachte er sich Verbrechen aus, in welchen er die Rolle des Unbesiegbaren spielte. Selbst als er seine Mutter beschattete, ihr auf Schritt und Tritt auf den Dachboden folgte und sie mit dem längsten Messer aus der Küche antippte, billigte sie sein untypisches Verhalten. Spiel du mal weiter Dietmar. Im jungen Erwachsenenalter begann er nach seinem Chemie Studium die Tätigkeit in einem Gefahrstoffunternehmen, doch bis heute wusste keiner, dass er diesem Beruf nur zwei Jahre nachgegangen war. Seitdem war es sein Geheimnis, dass er einen eigenen Einmannbetrieb führte, mit welchem er sich bereits ein Vermögen verdient hatte. Seine Tätigkeit war seiner Meinung nach sozial, er verhalf Menschen zu einem besseren Leben und aus einer Konsequenz daraus trug er zur Verhinderung der Überpopulation bei. Er wusste für sich im Stillen zu handeln und konnte viele Menschen glücklich machen, indem er jenen Störenfried aus deren Leben verbannte. Die meiste Zeit war Dietmar weder gelassen und entspannt, noch freundlich gestimmt, sondern nervös und aggressiv. Aber heute war es anders. Womöglich hatte er sich daran gewöhnt, wirklich der sympathische Mitmensch zu sein, den sich alle wünschten. Diese Vorstellung machte ihn glücklich, denn seine wahren Absichten, die er so gut zu verbergen wusste, würden niemals ans Licht kommen. Heute war ein Tag, an dem er aufrichtig seine Augen beim Gebet schloss und nicht hektisch seine Pupillen über die christlichen Gesichter zucken ließ. Das erste Lied wurde angestimmt und er schlug sein Liederbuch auf. Entsetzt klappte er es direkt wieder zu, um sich zu vergewissern, dass niemand ihn beobachtete. Er hob den Deckel an und betrachtete das Handy, das in dem zurechtgeschnittenen Gesangbuch lag. Seine Lippen bewegten sich stumm zum Gesang und er lugte gerade so weit unter den Buchdeckel, sodass er das Display sehen konnte. Es gehörte sich keinesfalls an einem heiligen Ort mit einem Smartphone zu hantieren. Die Neugier, wer sein Handy in einem Gesangbuch versteckte, trieb ihn dazu, auf das Display zu tippen. Seine Lungen weigerten sich weiteren Sauerstoff aufzunehmen und er zog mit spitzen Fingern an seiner zu fest gebundenen Krawatte. Er schlug das Buch zu und drückte es in seinen Schoß. Seine Fingerspitzen waren taub durch den Druck, mit welchen er das Buch zudrückte. Er sang lauter, als er vorhatte und grinste seinen Nachbarn scheinheilig an. Jemand weiß Bescheid. Seine Mundwinkel zogen sich gespenstisch breit nach oben, so dass es keinesfalls natürlich wirkte. Mit allen Mitteln versuchte er zu überspielen, dass er einem Nervenzusammenbruch nahe war. Nach dem Lied atmete er tief ein und schaute durch die Reihen. Wer weiß es? Dietmar hatte sich noch nie so unprofessionell verhalten, das war ihm bewusst. Am liebsten hätte er den Gottesdienst verlassen, aber das würde seinem Feind lediglich zeigen, dass er Angst hatte. Gedankenstränge in seinem hilflosen Kopf flossen zusammen und bündelten sich in dem verborgenen Bereich seines Gehirnes. Seine Wangen glühten, er musste sich zwingen still zu sitzen und die Kälte seiner Füße kroch ihm hoch in die Waden und sorgte für eine unangenehme Gänsehaut. Mit aller Macht zwang er sich, seine Konzentration auf den Gottesdienst zu richten, denn er musste ganz normal wirken. Die Grundschulkinder versammelten sich um den Altar und jedes griff in eine Box, um ein kleines Dankgebet vorzulesen. Ein zierliches Mädchen mit blonden Zöpfen las vor: »Ich danke dir für die Liebe in meiner Familie.« Welche Liebe? Es gibt nur Hass! Ein kleiner Junge mit Brille und wackeligen Knien las vor: »Ich danke dir für die Gerechtigkeit, die du nun für den Mörder des Hausmeisters walten lässt.« Stille. Absolute Geräuschlosigkeit in der Kirche. Die Augen von Dietmar waren weit aufgerissen und seine Gehirnströme waren nicht schnell genug, um verarbeiten zu können, was diese kleine Kröte vorgelesen hatte. Das nächste Kind begann seinen Zettel vorzutragen und der vorherige Satz wurde von all den gottesfürchtigen Gesichtern vorerst totgeschwiegen. Dietmars Herz raste und seine Augäpfel kreisten weiter durch die Kirche. Wer weiß es? Er hatte sich noch nie so erbärmlich gefühlt und wünschte sich, dass ihm sein Gehör einen Streich gespielt hatte, jedoch konnte er den Sperrbildschirm des Handys im Gesangbuch mit einem Foto seiner Dark Web Seite nicht leugnen. Nach einer Zeit, die ihm wie eine Unendlichkeit erschien, endete der Gottesdienst und er eilte nach Hause. Er schaffte es fast nicht, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, so sehr bebten seine Finger. Er warf die Tür ins Schloss und rannte die Kellertreppe hinunter. Am Geländer klebte ein Zettel und er riss ihn atemlos ab. Heute wunderte ihn gar nichts mehr. Er las die rote Schrift. Wir wissen, dass du es warst. Unten im Flur des Kellers hingen sämtliche Zettel an den Wänden. Seine Füße stolperten vor sich her und er riss sie alle ab. Atemlos sank er auf den Boden und betrachtete sie mit offenem Mund. Na, hattest du ein schönes Erntedankfest? Hast du dich über unsere Gabe gefreut? Du bist ein Mörder! Verschwinde aus der Kirche. Wir hassen dich. Du bist link und falsch. In seinen Augen glitzernden Tränen und er wuchtete sich auf, holte den kleinen Schlüssel aus dem Versteck in der Kellerbar und schloss die schwere Stahltür auf, deren Raum einzig und allein er betreten durfte. Seine Tritte auf dem Boden waren laut und schwer. Er musste sich konzentrieren, denn er sah alles doppelt, so sehr verkrampften seine Augen. Dietmar sog die Luft ein und öffnete die eisgekühlte Truhe in seinem geheimen Kellerraum. Die leblosen Augen des Mannes, der die Ehe von ihm und seiner Tina zerstört hatte, waren weg. Er knallte die Truhe zu und öffnete sie erneut, um seiner Selbstüberzeugung eine weitere Chance zu geben, dass er nicht verschwunden war. Die Truhe war leer und die Leiche weg. Wer war es? Hat jemand mein Angebot im Dark Web gesehen und die Leiche bereits abgeholt? Einer aus der Kirche? Bevor er die Kühltruhe erneut zuschlug, griff er nach dem Zettel, der auf dem Eis lag, wo einst ein Toter geweilt hatte. Dietmar las die Worte auf dem Papier immer wieder. Du bist nicht der, der du vorgibst zu sein. Vielleicht wird dir vergeben, aber kannst du damit leben?

 

***

 

»Und hat alles geklappt?« Fabian schaute Ela euphorisch in die Augen.

»Ja, alles bestens! Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er sehr schockiert über das Handy. Sein breites Grinsen war beinahe gespenstisch. Dadurch wollte er wahrscheinlich seine Panik unterdrücken. Die Krönung war natürlich, als der Zettel vorgelesen wurde. Ich war so aufgeregt, weil ich mir die Reaktion unserer Gemeinde nach dem Satz gar nicht vorstellen konnte. Der kleine Junge realisierte nicht wirklich, was er vorlas, weil er so aufgeregt wirkte und seinen kleinen Auftritt hinter sich bringen wollte. Nach ihm las das nächste Kind einen weiteren Dank vor. Die Köpfe in den Reihen tuschelten kurz, aber die restliche Zeit der Predigt wurde geschwiegen. Nach dem Gottesdienst bildeten sich Gruppen und die Leute kramten ihre Geschichten und Vermutungen über das Verschwinden des Hausmeisters heraus. Erstaunlicherweise redeten sie nicht über den kleinen Jungen, der diesen Zettel vorgelesen hatte, sondern sie rätselten hauptsächlich, wer diesen Zettel schrieb und vor allem, ob er der Wahrheit entspräche.«

»Ich habe mir schon gedacht, dass viel im Dorf geredet wird. Ganz besonders, weil Janne der Schulhausmeister war und jeder die Suchaktionen mitbekommen hat. Jetzt haben die Leute was zum Reden. Bei mir hat auch alles gut geklappt und ich habe ihn gefunden.« Elas Miene verfinsterte sich und ihre Mundwinkel zogen einen freudlosen Strich durch ihr Gesicht.

»War er in der Kühltruhe?«

»Ja, allerdings war es nicht leicht ihn zu finden. Ich habe über eine Stunde gebraucht, um den Schlüssel für einen abgeriegelten Raum zu finden, der mit einer Stahltür gesichert war. In dem Raum befanden sich allerdings zwei Kühltruhen.« Fabian schluckte seinen Würgereiz hinunter. »In der einen Truhe lag Janne und in der anderen Dietmars Ex-Frau Tina.« Ela brauchte einen Augenblick, bis Fabians Worte ihr Bewusstsein durchdrungen hatten.

»Tina ist auch tot?«

»Ja, er hat sie beide offensichtlich erschossen. Allerdings konnte ich nur ein Angebot über Jannes Leiche im Dark Web finden. Seine Frau möchte er anscheinend noch nicht verkaufen. Zum Glück habe ich dafür gesorgt, dass er auch an Janne nichts verdienen wird.«

»Danke, dass du das für mich getan hast und ihn extra hierher gebracht hast. Kann ich nochmal zu ihm?«

»Wenn du möchtest, gerne.« Sie gingen hinab in den Keller und über Elas Gesicht strömten Tränen, als sie den Menschen, der ihr durch eine Stammzellspende das Leben gerettet hatte, dort liegen sah. Fabian hatte ihn in der Waschküche auf Handtüchern platziert. Ela ging wankend neben Jannes Körper in die Knie und schüttelte traurig mit dem Kopf, da einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben nicht mehr existierte. Was bin ich bloß ohne ihn? Sie war ihm doch für ewig dankbar. Es war weder eine Geschwisterliebe, noch eine Partnerliebe zwischen Ihnen gewesen, sondern ein Gefühl der tiefen Verbundenheit. Sie wisperte: »Weißt du, wie das ist, wenn man einen toten Menschen sieht, der einem so viel bedeutet hat? Kannst du dir vorstellen, wie ich mich durch diese Gewissheit fühle, dass mein genetischer Zwilling tot ist?« Sie schluchzte laut auf und schaute mit gläsernen Augen an die Decke und vergrub ihre Fingernägel in ihrem Schoß.

»Dietmar, hat nicht nur den Geliebten seiner toten Frau ermordet, sondern auch einen Stammzellspender, der mein Dasein lebenswert gemacht hat.«

»Ela Schatz, es wird alles gut.« Sie wollte die Worte ihres Mannes nicht wahrhaben und schrie aus voller Kehle, bis ihr die Stimme versagte: »Ich bringe dich um! Du armseliger Mörder!« Fabian umklammerte seine Frau und streichelte ihr über den Kopf, während sie hemmungslos weinte. Nach einer Weile flüsterte er ihr ins Ohr: »Ich werde jetzt die Polizei rufen.« Diesen Gesichtsausdruck, den er in der nachfolgenden Sekunde sah, würde er nie wieder vergessen. Rotgeweinte Augen, tränennasse Wimpern und ein Fenster in die Bedürfnisse von Elas Seele. Sie wollte, dass Dietmar bestraft wurde, denn er hatte Janne das Leben genommen, einem der Wenigen, die dazu bereit waren, ein kleines Opfer zu erbringen, um einer schwer kranken Person eine Existenz zu ermöglichen. Es ging ihr um das Prinzip, dass ein guter Mensch sterben musste. Ela nickte und Fabian wählte die Polizei an.

 

***

 

Es lag in der Natur des Menschen, sich nicht zu bewegen, wenn man Angst hatte. Diese Erkenntnis hatte Dietmar bereits in frühesten Kindheitstagen, nämlich in jenen nächtlichen Momenten, in welchen er infolge eines Geräusches ganz flach atmete und lauschte, ob sein Vater nach Hause kam und seine Ehefrau mit ihrem Geliebten erwischen musste. Die Feststellung erwies sich immer wieder als korrekt, denn er hatte diese Art und Weise der Flucht in eine starre Körperhaltung schon des Öfteren an seinen Opfern beobachtet. Nicht nur Tina, die ihm fremdgegangen war, sondern auch dieser Janne, rührten sich nicht, als ihnen bewusst wurde, dass die meiste Zeit ihres Lebens verstrichen war. Dietmar saß ganz still auf dem kühlen Kellerboden und lehnte sich an die Truhe. Der Augenblick der Hektik, Angst und des Unwohlseins war vorüber. Er verabscheute seinen verbitterten und hasserfüllten Gesichtsausdruck und würde jenem ein Ende setzen. Mit langsamen Schritten trottete er durch den Flur und sammelte alle Zettel ein, die er gefunden hatte. Irgendjemand aus der Gemeinde wusste über seine Verbrechen Bescheid und hatte sich Zugang in sein Haus verschafft. Sein Gehirn war zu müde, um darüber nachzudenken, wer es sein könnte. Die Möglichkeiten waren zahlreich. Er betrachtete noch ein letztes Mal seine Tina und erinnerte sich an den Moment, in dem er sie in den Keller geführt hatte und ihr vor dem eigenen Tod die Leiche ihres Geliebten präsentierte. Damals sah sie ihm mit flatternden Augenlidern vor Entsetzen ins Gesicht. Durch ihren geöffneten Mund erkannte er das einst wunderschöne Glänzen ihrer Zähne und in ihren leblosen Augen das Schimmern der Panik. Noch vermisste sie keiner, denn er hatte sie erst vorgestern ermordet. Er berührte mit seiner Fingerspitze ihre frostige Wange und sagte: »Am meisten hat es mich verwundert, dass es mir nichts ausgemacht hat, dich zu töten.« Er betrachtete die Pistole in seiner Hand, mit welcher er nicht nur in Jugendtagen den Nachbarshund erschossen hatte, sondern auch seine Frau und ihren Geliebten. Seine Kühltruhen waren gute Schalldämpfer und er hoffte, dass man ihn lange Zeit nicht finden würde. Er setzte sich in die leere Truhe, bedeckte seinen Körper mit den Zetteln, zog den Deckel herab und sagte in der schwarzen, kalten Finsternis: »Ich kann mir nicht vergeben, denn ich habe es nicht verdient. Mein Charakter wird die Hölle kennenlernen und mein scheinheiliger Körper weiterhin auf Erden weilen.« Er hielt sich die Pistole an die Schläfe und drückte ab.

 

***

 

Ela stand auf dem Balkon und schaute in den glitzernden Sternenhimmel. Die Arme, um ihren Körper geschlungen, denn der Wind war eiskalt. Morgen würde sie Augenringe haben, aber das war nicht von Bedeutung. Sie hatte Wichtigeres zu tun. Nachdenken. Die Geschehnisse des Erntedank Wochenendes mussten verarbeitet werden und es würde sie viel Kraft kosten. Nach der Obduktion von Janne würde sie auf die Beerdigung gehen und sich würdig von ihm verabschieden. Er hatte es verdient, ein schönes Begräbnis zu bekommen. Ihr Traum von den Erinnerungen an Janne und Tina, wenn sie sich verliebt in die Augen schauten, war der Hinweis gewesen, dass Dietmar hinter seinem Verschwinden steckte. Die Polizei hatte ihnen berichtet, dass sie ihn tot in der Kühltruhe aufgefunden hatten und sie von einem Suizid ausgingen. Eigentlich war es ja das gewesen, was sie wollte. Eine Strafe für ihn. Morgen stand ein Verhör für Fabian und sie an, um zu prüfen, ob sie schuldig an dem Tod ihres Nachbarn waren. Ela füllte ihre Lungen mit der kühlen Nachtluft und bekannte, dass sie zumindest mitschuldig an Dietmars Suizid waren, dafür aber womöglich viele weitere Menschenleben gerettet hatten. Sie machte ein Foto von dem klaren Sternenhimmel und schrieb darunter: Wir sind so viele Menschen auf der Erde und ich danke denjenigen, die sich bewusst dazu entscheiden, Menschen ein Leben zu schenken, indem sie ihre Stammzellen spenden. Ela postete das Foto. In dieser Nacht legte sie sich neben ihren Mann, den sie über alles liebte und wisperte: »Egal, was passiert. Wir dürfen leben und sind gesund.«

 

4 thoughts on “Die Erntedankgabe

  1. Hallo

    Großes Kino, was du da geschrieben hast.
    Super.

    Das Thema deiner Geschichte ist sehr hart und außergewöhnliche.
    Du hast die Geschichte gut umgesetzt. Die Spannung war genial. Ich musste unbedingt alles auf einmal lesen. Ich konnte nicht mal eine Pause machen.
    Respekt und Kompliment.

    Bitte schreib weiter. Man spürt dein Herzblut und dein Talent. Dein Schreibstil ist gut, man fühlt aber manchmal, dass du noch am Anfang deiner Entwicklung stehst. Indem du immer weitere Geschichten schreibst, wirst du von Tag zu Tag besser und sicherer.
    Also nochmal: Herzlichen Glückwunsch zu deiner tollen Geschichte.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, meine Geschichte auch zu lesen.
    Würde mich freuen.
    Sie heißt: “Die silberne Katze”.

    Mein Like hast du natürlich sicher.

  2. Hallo liebe Anika,

    mir hat Deine Geschichte gut gefallen, allen voran Deine Idee, dass der Nachbar in seiner Kühltruhe Leichen lagert und diese zum Verkauf anbietet. Das ist so herrlich makaber, das gefällt mir total!

    Deine Geschichte behandelt ein außergewöhnliches Thema, das voll meinen Nerv trifft und meines Erachtens so ungemein wichtig ist – die Stammzellenspende. Toll, dass Du dies in Deiner Thriller-Geschichte verarbeitet hast. Ich war zunächst irritiert ob Deiner Formulierung “genetischer Zwilling” und wollte Dich am darauf auf jeden Fall ansprechen, bis ich verstanden habe, dass Janne nicht ihr Bruder, sondern ihr Spender war.

    Ebenfalls außergewöhnlich ist das “Happy End” (wenn man es denn so nennen kann ;), aber ich denke, Du weißt, was ich meine :D) – die meisten Geschichten, die ich gelesen habe, enden eher böse, Deine war nun die zweite, bei der am Ende “das Gute siegt”.

    Eine kleine Anmerkung hätte ich zur Gliederung Deines Textes. Du arbeitest zwar mit kleinen “Kapiteln”, benutzt aber innerhalb der einzelnen Abschnitte kaum Absätze. Der eine oder andere Absatz hier und da könnte den Lesefluss noch etwas verbessern.

    Alles Liebe und viel Erfolg beim Voting!

    Liebe Grüße
    Anita (“Räubertochter”)

  3. hi, ein wirklich wichtiges Thema sprichst du da mit deiner Geschichte an. habe bis zum Schluss gespannt gelesen. ich finde auch man merkt, das du noch am Anfang stehst, aber auf einem sehr guten Wege bist, was deinen Schreibstil betrifft. an Kreativität mangelt es dir auf jeden Fall schon mal nicht! mein Like hast du und ich hoffe es kommen noch ein paar dazu! wenn du magst lass mir doch auch ein Feedback und bei Gefallen ein Like da. Beste Grüße, Patricia.

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/hinter-den-kulissen

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