JohannajjDie Fassade

Die Fassade

 

Niemals könnte sie vergessen, was sie an diesem einen Tag in ihrem Leben erleben musste. Niemals würde sie die Geräusche vergessen können, die sich an diesem Tag in ihr Gehirn gebrannt hatten. Das kehlige und dumpfe Schreien eines Menschen, der um sein Leben kämpft, vermischt mit dem bestimmenden Ton ihres Kollegen, der ohne Unterbrechungen weiter Befehle gab. Noch mehr Anweisungen, denen sie Folge leisten musste, obwohl sie genau wusste, worauf all das hinauslaufen würde. Das Kind würde sterben und all das nur, weil sie einen Fehler gemacht hatte. Einen schrecklichen Fehler, der diesem Kind das Leben kosten würde. Einen Fehler, der sie viele Jahre später an ihrem Verstand zweifeln lassen wird.

 

Es war ein sonniger Montag morgen, nur ein paar kleinere Quellwolken waren am Himmel zu sehen. Einen Morgen wie diesen hatte Chris im März noch nicht erwartet. Sie stand aus ihrem Bett auf und stolperte prompt über einen halbgeöffneten Karton. So ein Mist, dachte Chris und schob den Karton ein Stück zur Seite. Auf halbem Weg drehte sie sich um und machte vorsichtshalber die kleine Stehlampe neben dem Bett an, um nicht über noch einen der zahlreichen ungeöffneten Umzugskartons zu stolpern. Seit mittlerweile mehr als zwei Monaten lebte sie jetzt schon in dieser neuen Wohnung und die  Kartons waren immer noch verschlossen überall in der Wohnung verteilt. Die Wohnung war perfekt, sie war nicht zu groß und nicht zu klein, hatte einen kleinen Balkon, von dem man einen schönen Blick auf einen kleinen Fluss hatte.

Ihr erstes Ziel war an diesem Morgen die Küche, welcher so ziemlich der einzige Raum in der Wohnung war, der bereits vollständig eingeräumt war. Die Küche aus der alten Wohnung konnte glücklicherweise problemlos in die neue Wohnung eingebaut werden, ohne das sonderlich viel verändert werden musste. Chris ging hinüber zu ihrer Kaffeemaschine und kochte sich einen starken Kaffee. Ein Blick auf die große Uhr an der Wand direkt gegenüber von ihrem Kühlschrank zeigte ihr, dass es 05.00 Uhr war und sie somit noch etwa dreißig Minuten Zeit hatte, um sich fertig zu machen. Zu seinem ersten Arbeitstag an seinem neuen Arbeitsplatz sollte man am besten nicht zu spät kommen, das sagte ihr ihre Mutter bereits zu Schulzeiten. Mit einer Kaffeetasse in der Hand ging Chris zurück in ihr Schlafzimmer und suchte sich Klamotten aus dem Schrank. Bei ihrem Vorstellungsgespräch im Januar sagte ihr zukünftiger Chef, dass sie sich bitte legere kleiden möge. Dieser Bitte kam Chris mit einer einfachen schwarzen Jeans und einem dazu passenden grau-meliertem Pullover nach. Mit einer gekonnten Armbewegung schnappte sie sich ihren schwarzen Mantel und die Autoschlüssel und verließ die Wohnung. Zum Glück war die Autobahn um diese Uhrzeit noch leer. Viele Pendler fuhren erst einige Zeit später, um pünktlich um 08.00 Uhr an ihrem Schreibtisch zu sitzen, um dort mit einer Kaffeetasse in der Hand wichtige Entscheidungen zu treffen. Vielleicht hätte ich mir auch einen Job in einem Büro suchen sollen, ohne jegliche Verantwortung für das Leben eines anderen Menschen.

So in ihren Gedanken vertieft hätte sie fast die Autobahnabfahrt verpasst. Eine Weile fuhr sie durch die menschenleere Stadt bis sie schließlich ihr Ziel erreichte. Eine kleine Seitenstraße kam wie gerufen, um ihr Auto dort zu parken. Während sie den Motor abstellte und die Handtasche vom Beifahrersitz nahm, spürte sie, wie ihr ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Sie atmete einmal tief ein und spürte, wie sich ihre Lungen mit Sauerstoff füllten. Sie sogen den Sauerstoff in einer rasenden Geschwindigkeit ein, als wüssten sie, dass es für sie heute viel zu tun gäbe. Als wenn sie sich heute noch häufiger entfalten müssten um ihren Körper vorwärts zu tragen. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Also ging sie mit zügigen Schritten los. Je näher sie dem Gelände und den darauf stehenden Gebäuden kam, desto mehr spürte Chris, wie sich ein beklemmendes Gefühl in ihr ausbreitete. Ist das hier wirklich eine gute Idee? Was ist, wenn sich alles wiederholt? Wenn ich dem Druck nicht gewachsen bin? Plötzlich spürte sie, wie aus dem Nichts, eine große, kalte Hand auf ihrer linken Schulter. Erschrocken drehte sie sich um und sah in das Gesicht eines großen, schlanken Mannes. „Entschuldigung, ich wollte Sie nicht erschrecken. Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?“, sagte der Mann mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. „Ich..Ich..ähm..“ Reiß dich zusammen Chris „Ich suche das Haus 14. Können Sie mir eventuell sagen, wie ich dort hinkomme?“. Der Mann lächelte und sagte nur „Folgen Sie mir, da muss ich auch hin“. Und schon lief er los und ihr blieb nichts anderes übrig, als ihm in die Dämmerung  nach zugehen. 

„Sie gehen einfach hier durch die Eingangstür und dann gehen Sie die Treppe bis in die erste Etage hinauf. Oben wird Ihnen bestimmt jemand entgegenkommen, der Ihnen sagen kann, wo Sie Ihren Ansprechpartner finden.“ Eine ganze Weile  starrte sie nur auf die weiße Tür, die schon einige Jahre alt zu sein schien. Sie hatte schöne Verschnörkelungen an den Seiten. Schließlich drehte sie sich langsam um, sie wollte sich bei dem unbekannten Mann bedanken. Doch hinter ihr war weit und breit niemand mehr zu sehen. Wollte er nicht auch ins Haus 14? Hat er das nicht gesagt?

Nach einer gefühlten Ewigkeit drückte sie die Türklinke hinunter, öffnete die Tür und überschritt die Schwelle des Gebäudes. Sie ging die Treppe hinauf bis in den ersten Stock, wie der unbekannte Mann es ihr erklärt hatte. Chris streckte ihre Hand nach der Eingangstür der Station aus und da war er wieder, dieser kalte Schauer, der ihr den Rücken hinunterlief. Ihre Augen wanderten nach links zu dem großen weißen Schild, auf dem alle Stationen aufgelistet waren, die sich in diesem Außenhaus der Klinik befanden. Es fühlte sich für sie an, als würde eine unsichtbare Hand mit stetig stärker werdendem Druck ihren Hals in sich einschließen und ihr die Luft immer weiter abschnüren, während Chris die Beschreibung ihrer zukünftigen Station las „Akut psychiatrische Station für Menschen mit schweren Psychosen und Schizophrenen Erkrankungen“. Warum machst du das Chris? Du hast dir doch geschworen nie wieder in die Psychiatrie zurückzukehren. Ich kann nicht den Tod eines weiteren Patienten verkraften. 

 

 

„Und das ist unser Dienstzimmer. Jetzt kennst du alle wichtigen Räume dieser Station. Sören, unsere Leitung, informiert dich später noch über alle wichtigen Notfallprotokolle, die wir hier auf der Station haben. Hast du bis hierhin irgendwelche Fragen? Und mach dir keine Sorgen, es war für jeden neuen Kollegen ein gewaltiger Unterschied auf einer akuten Station zu arbeiten.  Ich kann mir gut vorstellen, dass du, so ohne jegliche Vorerfahrung in der Psychiatrie, etwas Herzrasen hast.“, sagte Jacky – so hieß die Kollegin die Chris auf der Station herumführte. Die kleine Pause in ihrem Redefluss bot Chris wenigstens für eine kurze Zeit die Möglichkeit einmal tief durchzuatmen, bevor sie ihren Monolog fortsetzte. „Aber ich bin mir sicher das du das hier nach einer gewissen Eingewöhnungsphase gut meistern wirst. Naja, wie auch immer, komm erst einmal mit ins Dienstzimmer, dort lernst du alle Kollegen kennen.“ In den vergangenen dreißig Minuten hatte Jacky Chris jeden Raum der Station gezeigt und erklärte jegliche Abläufe. Wann das Frühstück, das Mittag- und das Abendessen verteilt, und wann Medikamente ausgegeben werden, wo die Patienten Wasserflaschen finden und vieles mehr. Chris folgte ihr und nickte bei allem, was sie sagte, schaute sich jeden Raum an, den Jacky für sie aufschloss und las alles, wo sie mit ihren Finger drauf zeigte. Doch die gesamte Zeit fühlte Chris sich wie in einer großen, durchsichtigen Blase gefangen. Eine Blase, die ihr gesamtes Gewicht auf ihre Schultern stemmte und wodurch jeder Schritt noch schwerer wurde. Als müsste Chris durch Meter hohen Schnee laufen. Diese Blase, lies alle Geräusche um sie herum verstummen , wodurch nur ein einziges monotones Brummen bei ihr ankam. Immer wieder kreisten dieselben Wörter von Jacky in ihrem Kopf umher.

 Ich kann mir gut vorstellen, dass du so ohne jegliche Erfahrung in der Psychiatrie etwas Herzrasen hast. Chris verspürte ein Gefühl in sich aufsteigen, dass eine Mischung aus Glück und Wut war.  Sie war glücklich darüber, das den Kollegen hier die Erfahrung die sie machen musste erspart geblieben schien. Doch auf der anderen Seite war sie auch wütend, dass sie diese Bilder von dem kleinen Jungen für den Rest ihres Lebens mit sich tragen würde, eingebrannt in ihr Gedächtnis.Die Kollegen hier hatten nicht die leiseste Ahnung, das sie bereits neun Jahre in der Psychiatrie gearbeitet hatte, ebenso ahnte keiner von ihnen, das ihr richtiger Name nicht Chris war. 

 

 

 

Sechs Monate später

 

In den letzten sechs Monaten hatte Chris viel gearbeitet und sich gut in ihrer neuen Umgebung eingelebt. Sie verstand sich mit allen Kollegen gut und fing langsam an, ihre Arbeit wieder zu mögen. Der heutige Tag jedoch machte sie nervös. Heute würde sie ihre erste Nachtschicht auf der neuen Station antreten. Ihre Kollegen hatten ihr die Abläufe der Nachtschichten bereits mehrmals erklärt. Außerdem musste sie den Dienst nicht alleine antreten. Sören hatte sich bereiterklärt, mit ihr gemeinsam die Nachtschicht zu arbeiten. In den vergangenen Monaten hatte sie viele Dienste mit Sören gemacht, worüber sie sehr glücklich war. Er gehörte zu der Sorte Menschen, die eine sehr ruhige Persönlichkeit besaßen und dies auch ausstrahlten. Es war für ihn völlig unerheblich, was für eine Situation auf ihn zukam und zu was für eine Art Notfall er gerufen wurde. Jedesmal behielt er die Ruhe, sprach mit klaren Worten und ruhiger Stimme auf die Patienten ein. Er schaffte es fast immer die Patienten aus einem schweren schizophrenen oder psychotischen Schub herauszuholen, ohne auf die Notfallmedikamente oder die Fixierung zurückgreifen zu müssen. 

Gegen 21.00 Uhr kam Chris auf der Station an. Ihre Kollegen von der Spätschicht hatten schon alle wesentliche Dinge erledigt, die vor Anbruch der Nacht noch zu tun waren. Sie hatten die Patienten mit Essen und mit Medikamenten versorgt und die meisten waren schon in ihren Zimmer – wenn man diese sterilen Räume in denen lediglich ein Bett und ein völlig zerstörter Schrank standen, so nennen magEs scheint ja zum Glück eine ruhige Nacht zu werden, dachte Chris mit einem Blick auf die Belegungsliste. Alle Zimmer waren bis auf ein einziges Bett belegt. Hoffentlich bleibt das heute Nacht auch so.  

Die Nacht verlief, wie sie es sich sie vorgestellt hatte. Der lange Flur an dem die Zimmer jeweils links und rechts lagen, war ruhig. Ab und an schlich ein Patient auf dem Flur umher, doch er konnte problemlos von Sören wieder in sein Zimmer geschickt werden. Vielleicht war das alles hier doch keine so schlechte Idee. Vielleicht habe ich genau das Richtige getan. Vielleicht kann ich mir irgendwann vergeben, dass ich ….So in ihren Gedanken vertieft, hatte Chris nicht mitbekommen, dass Sören ihren Namen mehrmals gerufen hatte. Sie hatte es nicht wahrgenommen, aber Sören stand bereits voll ausgestattet mit Handschuhen, Mundschutz und Kittel vor ihr. „Chris? Wir bekommen einen Neuzugang. Die Polizei und der Rettungswagen sind in fünf Minuten da. Zieh dich schnell um, dass wird spaßig.“, Sören grinst über sein gesamtes Gesicht, als würden sie gleich einen Ausflug in einen Freizeitpark machten und nicht einen Mann aufnehmen, der durch eine Drogen verursachte Psychose jeglichen Bezug zur Realität verloren hatte. 

Die beiden standen vor der Eingangstür zur Station und warteten auf den Moment, in der die Tür aufging und die Polizei den Patienten auf die Station brachte. Wenige Sekunden später war es soweit, die Tür schnellte mit einem lauten Knall auf und die beiden Beamten traten ein. Wenige Schritte hinter ihnen  der Patient auf einer Trage liegend, an Armen und Beinen fixiert. Mit einem prüfenden Blick musterte Chris den Patienten von oben bis unten, er entsprach irgendwie nicht ihrer Vorstellung. Sie hatte sich einen völlig verwahrlosten, ungepflegten, unangenehm riechenden Mann vorgestellt. Einen Menschen, der in seinem Rausch um sich schrie, schlug oder die Beamten angreifen würde. Eine junge Frau, die  vor einigen Tagen aufgenommen wurde, hatte bei ihrer Ankunft einem Beamten das halbe Ohr abgebissen. In ihrer Psychose hatte sie gedacht, dass es sich bei dem Ohr um einen Pfannkuchen handeln würde. 

Doch dieser Mann, der heute auf die Station gebracht wurde, lag völlig starr auf der Trage. Sein Äußeres ähnelte dem eines Staranwaltes, der sein Geld mit luxuriösen Verhandlungen über den Verbleib von Yachten, schnellen Sportwagen und Klamotten verdiente. Warum kommt er dir nur so bekannt vor? Der Zugang wurde auf sein Zimmer gebracht und dort in das Bett gelegt. Die Rettungssanitäter hatten ihm sehr starke Beruhigungsmittel gegeben. „Komm mit Chris, wir gehen wieder ins Dienstzimmer zurück. Der gute Mann wird bis morgen früh tief und fest schlafen.“ Chris blickte noch einmal zurück in das Zimmer, in dem der Mann nahe zu friedlich in seinem Bett lag. Wie so häufig fragte sie sich, was diesen Patienten bloß dazu gebracht hatte, eine solche Menge an Drogen zu sich zu nehmen. 

 

 

Die letzten Stunden der Nachtschicht gingen schnell vorbei. Pünktlich um sechs Uhr standen die zwei Kollegen für die Frühschicht im Dienstzimmer. Chris spürte eine große Erleichterung in sich. Die vergangene Nacht hing ihr ganz schön in den Knochen. Sie absolvierte ihre Übergabe an die Kollegen und ging mit Sören durch die große weiße Tür hinaus. Als die kalte Luft ihr Gesicht berührte, überkam sie eine Welle der Müdigkeit. Sie wusste, dass sie sich Zuhause direkt in ihr Bett legen würde und womöglich bis zum nächsten Tag nicht aufwachen würde. Chris verabschiedete sich wie in Trance von Sören. „Ich freue mich schon auf heute Abend, auf unsere zweite Nacht“, sagte Sören mit einem Lächeln auf den Lippen, ehe er in sein Auto einstieg.

 

Die zweite Nacht nahm ihren Anfang in einer ähnlichen Art und Weise wie die Vergangene. Chris richtete ihren Blick aus einem der zahlreichen Fenster. Draußen war es eine sehr klare Nacht, man konnte die Sterne am Himmel zählen. Nicht eine einzige Wolke schmückte den Sternenhimmel. In dem sonst so belebten Klinikpark kehrte so langsam Stille ein. Die letzten Patienten gingen auf ihre Stationen zurück. Auch auf ihrer Station war es bis jetzt eine ruhige Nacht. Die Patienten schliefen und meldeten sich nur ab und an, um Bedarfmedikation zu erhalten. Die Stille wurde lediglich von dem gleichmäßigen Ticken der Wanduhr unterbrochen. Gegen 23.30 Uhr schnellte plötzlich eine Tür am Ende des Flurs auf. Sie knallte gegen die dahinter liegende Wand und ein Mann trat aus dem Zimmer. Es war der Patient, der gestern Nacht eingeliefert wurde. Er taumelte auf dem Flur hin und her und versuchte mühsam einen Fuß vor den anderen zusetzen. Der Anblick des Mannes erinnerte Chris an eine Marionette, die nur die Bewegungen ausüben konnte, die von jemand Anderem für sie vorherbestimmt würde. 

Sören, der neben ihr in ein Buch vertieft war, legte dieses zur Seite und stand mit einem lauten Stöhnen auf. „Ich gehe schon, bleib du mal hier. Du könntest ja seine Wertsachen durchschauen und auflisten, das haben wir gestern ganz vergessen.“ Sören hielt einen durchsichtigen Beutel in seinen Händen. Auf die Entfernung konnte Chris nur ein paar Medikamente, eine Nagelschere, eine Brieftasche und ein Handy erkennen. Sie nahm den Beutel von Sören entgegen und fing auf einem Blattpapier an, die Gegenstände zu notieren. Warum trägt man so viele verschiedene Medikamente mit sich herum?  Der unbekannte Mann hatte eine halbe Apotheke bei sich gehabt. Chris schrieb jedes Medikament auf. Ebenso notierte sie die Nagelschere. Im Anschluss daran nahm sie sich die Brieftasche vor. Für Chris war dieser Teil immer schon der unangenehmste, denn nun begann sie in dem Leben fremder Menschen zu forschen. Zunächst zählte sie das vorhandene Bargeld. Sie öffnete die Brieftasche und fing bei dem Kleingeld an. Vier Euro fünfunddreißig, Vier Euro fünfundvierzig und dann nahm sie sich die Scheine vor Genau 20€. Chris nahm ihren Kugelschreiber und notierte den Gesamtbetrag von 24,45€ in die dafür vorgesehene Spalte auf dem Zettel. Nun war es ihre Aufgabe nach einem Hinweis auf die Identität des Mannes zu suchen. Chris suchte nach einem Personalausweis, einer Krankenversichertenkarte oder einem Führerschein, jedoch ohne Erfolg. Wer ist dieser Mann bloß?  Aus eigener Erfahrung wusste sie, dass die eigene Identität viel mehr war als nur ein Name auf einer kleinen Plastikkarte oder die Zahlenkombination der Sozialversicherungsnummer. Die Identität sagt etwas über den Menschen aus. Was begeistert einen Menschen? Wo hat er seine Leidenschaften? Wo liegen seine Interessen? Wo kommt dieser Mensch her? In welcher Kultur ist er aufgewachsen? Welche Werte verfolgt er? All diese Fragen finden in der eigene Identität eine Antwort. Sie bilden bei jedem Menschen eine individuelle Harmonie. Manchmal sind diese Antworten so gut in den Menschen versteckt, dass man sie nicht gleich nennen könnte. Doch in dem Moment, in dem man seine Harmonie aufgeben muss, merkt man, was für ein großes Stück man dort von sich gehen lässt. Was würde ich dafür geben, wieder ich selber sein zu können und mich nicht mehr verstellen zu müssen. Diese Mann hat überhaupt keine Identität, er ist ein Joen Do, eine nicht identifizierte Person.   

 

 

Die greifbare Stille wurde durch das Klingeln des Handys, das man bei dem Patienten gefunden hatte, unterbrochen. Unter normalen Umständen hätte Chris überhaupt nicht auf das Klingeln regiert. Jedoch löste die Melodie des Klingeltons bei ihr eine Gänsehaut am ganzen Körper aus. Die Haare standen ihr buchstäblich zu Berge und ihr Hals wurde auf einmal trocken, wie der Boden an heißen Sommertagen. Sie stand langsam von ihrem Stuhl auf und bewegte sich mit langsamen Schritten auf das Handy zu. Bei  jeden Schritt merkte sie, das ihr Herz schneller schlug, als würde es gleich mit all seiner Kraft aus ihrer Brust springen. Es überkam sie ein ungutes Gefühl. Das ist bestimmt nur ein merkwürdiger Zufall, dachte Chris, deren Hände von Minute zu Minute feuchter wurden. Kalter Schweiß lief ihr den Rücken hinunter. Sie war in den Zwischenzeit an der Tüte mit dem Handy angekommen. Du kannst doch nicht einfach an das Handy eines fremden Menschen gehen. Doch ihre Vernunft siegte nicht, sondern die Neugierde. Sie nahm die Tüte in die Hand und holte das Telefon vorsichtig heraus. Ihr Herz schlug so schnell, dass sie dachte es müsste jede Sekunde aufgrund von Hyperventilation stehen bleiben. Sie schaute hektisch um sich, um sich zu vergewissern, dass Sören ihr nicht einen Streich spielen würde. Chris schaute auf das Handy, das sie nun in ihren Händen hielt und konnte nicht glauben, was sie da sah. Der Display war komplett schwarz, keinerlei Anzeichen dafür, dass das Handy gerade geklingelt hatte. Kein einziger Hinweis, dass das Handy überhaupt an wäre. Völlig erschöpft setzte Chris sich auf einen Stuhl und starte das Handy an. Ich habe mir das doch nicht eingebildet. Ich habe es gehört, es hat geklingelt. Gerade wollte Chris das Handy wieder an seinen ursprünglichen Ort zurücklegen, da hörte sie es wieder, die Melodie, die ihr auf so schreckliche Art und Weise bekannt war. Die Melodie, die sie an den schlimmsten Fehler in ihrem Leben erinnerte. Chris beugte ihren Arm, um auf das Display des Handys gucken zu könne. Ihr Atem stockte und ihr wurde schwindelig. Das kann nicht war sein, das muss ein Scherz sein. Gerade in dem Moment, in dem Chris sich die eingegangene Nachricht genauer anschauen wollte, hörte sie immer schneller werdende Schritte hinter sich. Sie drehte sich um und spürte wie sich kleine Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. Sie sah in das völlig überraschte Gesicht von Sören, der immer wieder abwechselnd sie und das Handy anschaute. „Was zum Teufel machst du da, Chris?“, sagte er mit leiser, brüchiger Stimme. 

 

 

„Bitte Sören, hör mir zu und lass es mich erklären.“, sagte Chris nach einiger Zeit. Eine gefühlte Ewigkeit standen Sören und Chris sich mit versteinerten Blicken gegenüber. Beide geschockt über das, was sie sahen. Sören konnte nicht verstehen, was er da sah. Chris fühlte sich ertappt und das obwohl sie nichts falsch gemacht hatte. „Sören bitte hör mir zu. Es ist nicht so wie das alles hier gerade aussieht. Das Handy klingelte auf einmal und ich konnte einfach nicht anders, als nachzuschauen.“ Sören kam einen Schritt weiter in das Dienstzimmer hinein und schaute Chris mit einem Blick an, der sagen wollte  „Gehst du also immer an fremde Handys, wenn die in deiner Gegenwart klingeln?“ Chris beschloss das Handy zur Seite zulegen, um Sören die Situation zu erklären. Sie brauchte einen kleinen Moment, um genügend Mut aufzubringen, sich das anzuschauen, was sie auf dem Handy in der kleinen Vorschau bereits gesehen hatte. „Sören, nein, natürlich gehe ich nicht an fremde Handys, wenn diese klingeln. Aber der Klingelton des Handys hat, hat mich….“ Chris hielt kurz inne. Sie war kurz davor gewesen, Sören alles zu erzählen. Doch das konnte sie nicht, zu groß waren ihre Schuldgefühle. Also entschied sie sich für eine etwas allgemeinere Form der Geschichte.  „Die Melodie kenne ich von früher und sie bedeutet mir sehr viel. Es ist eine ungewohnte und unbekannte Melodie, deswegen habe ich mich gewundert, dass sie noch jemand als Klingelton verwendet. Ich weiß es klingt verrückt, aber du wirst nicht glauben, was für eine Nachricht auf dem Handy angekommen ist.“ Chris schaute hoffnungsvoll zu Sören hinüber, der immer noch etwas misstrauisch vor ihr stand. Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit kam Sören zu ihr hinüber. „Ich glaube dir immer noch nicht so ganz, aber zeig mal her was dich so aufkratzt“. In diesem Moment war Chris einfach nur froh, dass Sören ihr ihrer Geschichte geglaubt hatte. Sören trat an Chris heran und schaute ungeduldig auf das Handy hinunter. Chris nahm all ihren Mut zusammen, nahm das Handy auf und blickte auf das Vorschaufenster. Ein wenig überrascht war sie schon, dass keinerlei Code oder Muster zum Entsperren des Handys angefordert wurde. Hat nicht in der heutigen Zeit jeder sein Handy irgendwie gesichert? Das Display des Handys färbte sich erneut schwarz und nur ein kleiner blickender Pfeil in der rechten Ecke des Handys zeigte ihr, dass eine Datei heruntergeladen wurde. Es schien eine große Datei zu sein, denn es dauerte eine Weile, bis sich die Datei, welche sie in der Vorschau als kleines Bild gesehen hatte, in größer öffnete. Es schnürte Chris den Hals zu und sie bekam keine Luft. Das kann nicht wahr sein. Wie ist das möglich. Das kann nur ein schlechter Scherz sein. Wie zu einer Statur erstarrt war Chris nicht in der Lage, das Video auf dem Handy zustarten. Gott sei Dank übernahm Sören das für sie, er war dichter an sie heran gerutscht und legte ihr eine Hand auf die Schulter, als wollte er sie trösten. Er drückte mit seinem Finger das Playzeichen. Erneut ertönte diese Melodie und wenig später begann auf dem Handy eine regelrechte Diashow. Chris Augen konnten nicht begreifen, was sie da sahen. Vor ihr auf dem Display tauchten hunderte Bilder auf. Bilder die sie zeigten, als sie ihren Schulabschluss machte, wie sie sich mit Freunden traf, wie sie im Park mit ihrem Hund spazieren ging. Alles Bilder aus ihrem  früheren Leben, einem Leben, das sie hinter sich gelassen hatte. Ein vergangenes und gelöschtes Leben, dass sie jetzt Sören erklären musste. Sören stand direkt neben ihr und sah all diese Bilder mit einer Frau, die für ihn eine völlig fremde Person sein musste. 

 

 

 

Eine Weile verging, ehe einer der beiden etwas sagen konnte. „Was hat das zu bedeuten Chris?“, fragte Sören mit zitternde Stimme. Chris schaute in seine Augen, sie musste bestürzt feststellen, das das übliche Feuer und die Freude aus Sörens Augen verschwunden waren und stattdessen eine große Leere in seinem Blick zu sehen war. Sören war einige Schritte zurückgewichen und wiederholte, nun mit festerer Stimme, seine Frage „Was hat das zu bedeuteten, Chris?“. Jetzt ist es endgültig vorbei Chris, du musst ihm erzählen, wer du bist. „Sören, ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll.  Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Vor 10 Jahren habe ich….“, Chris war gerade im Begriff all ihren Mut zusammen zunehmen und Sören ihre Geschichte zu erzählen. Doch er sagte etwas, was sie völlig unerwartet traf. „Chris wir müssen zur Polizei gehen. Jemand hat dich in deiner Freizeit fotografiert. Ich rufe sofort einen Beamten her, wir müssen herausfinden, wer das getan hat.“ Wir. Chris traute ihren Ohren nicht. „Du….du…willst mir helfen?“, fragte Chris mit brüchiger Stimme. Wenn du wüsstest, dass du einer Lügnerin, Mörderin, Fälscherin helfen würdest. 

 

 

 

Chris fühlte sich wieder zurück katapultiert in diese große, transparente Blase, die sie schon einmal umgeben hatte. All das, was Sören in den vergangenen Minuten gesagt hatte, erreichte ihre Ohren nicht. Die dicke Wand der Blase hielt jedes Wort von ihr fern und ließ nur ein monotones Brummen zu ihr durchdringen. Das Brummen wurde erst unterbrochen, als Sören in seinem Monolog plötzlich sagte „Vielleicht hast du in deiner Vergangenheit ja auch einfach nur jemanden verärgert, der sich jetzt rächen will? Oder könnte es ein Stalker sein?“. Chris merkte wie ihre Schweißdrüsen ihre Arbeit vervierfachten und ihre Zunge und ihr gesamter Rachenraum austrocknete. Sie drehte sich zu Sören um und rechnete fest damit, dass er sie mit einem fragenden Blick anschauen würde. Ein triumphierender Blick, da er ihr tiefstes Geheimis entdeckt hatte. Doch Sören schaute auf das Handy und sagte lediglich „Ach Chris, du bist so ziemlich die anständigste Person die ich kenne. Wir finden schon heraus wer dir hier einen Streich spielen will. Vielleicht war das ja auch nur eine einmalige Sache hier mit den Bildern.“ Genau in der Sekunde, in der Sören versuchte die vergangene Ereignisse zu verharmlosen, gab das Handy erneut einen Ton von sich. Chris zuckte zusammen und ihr Herz fing in ihrer Brust wie wild an zuklopfen. Das Handy lag auf dem Tisch und das Display blinkte immer wieder auf. Es erinnerte Chris an eine Glühbirne, die noch wie wild flackerte, ehe sie ihren Dienst einstellte. Sie umschloss es mit ihren Fingern und hob es vom Tisch an. Ihre Augen fixierten das rhythmische Blinken. An und wieder aus, an und wieder aus. Genauso wie bei der ersten Nachricht, sah sie eine Vorschau in einem kleinen Fenster auf dem Display. Diesmal war es kein Bild. Chris spürte, wie Erleichterung sie durchströmte. Sie klickte auf den kleinen Kasten am unterem Bildrand und es dauerte eine Weile bis sich eine SMS öffnete. Wer schreibt heute noch eine SMS? Doch den Gedanken verwarf sie ganz schnell wieder, denn die Nachricht auf dem Handy war beunruhigender, als zu überlegen wer im Zeitalter der Sozialen Medien sich noch die Mühe machen würde und eine SMS verfasst. Der Text der Nachricht war ausschließlich in Großbuchstaben geschrieben. Chris schloss ihre Augenlider und holte tief Luft und konzentrierte sich auf die Buchstaben auf dem Display vor ihr.

 

SCHOB CO SEIN IM 

 

 

Diese merkwürdige Aneinanderreihung von Buchstaben war das Einzige in der Nachricht. Chris starrte auf das Handy in der Hoffnung einen Sinn in diesen Worten zu sehen. Eine versteckte Mitteilung, irgendeinen Hinweis darauf, das diese Nachricht nicht einfach nur sinnlos aneindergereihte Buchstaben waren. Oder eine andere Sprache? „Hast du eine Ahnung was das bedeuten soll?“, fragte Sören mitten in Chris verzweifelten Denkansätze. Das Handy das Chris solange und fest in ihrer Hand gehalten hatte, das es schon etwas feucht war, legte sie auf den Schreibtisch zurück und ließ sich auf einer der Stühle fallen. „Nein, ich habe nicht den Hauch einer Ahnung.“ Sören fuhr sich mit seiner linken Hand durch seine langen, braunen Haare, die dringend einmal wieder von einem Friseur geschnitten werden mussten. „Ach Chris, vielleicht will dich auch einfach nur einer der netten Kollegen etwas ärgern. Ich meine mal ehrlich, was soll das alles sonst sein, oder nicht?“. Chris rückte dichter an den Schreibtisch und rückte ihre Tastatur und die Maus zurecht, um ihrer Arbeit nachzukommen. „Vielleicht hast du Recht, lass uns einfach diesen Dienst überstehen“, sagte Chris zu Sören und fing an ihre Berichte über ihre Patienten in den Computer zu tippen. Sie war froh, dass Sören seinen Vorschlag, die Polizei zu alarmieren, nicht mehr in Erwägung zog. Denn so blieb es Chris erspart über ihre Vergangenheit zu sprechen. Ihre Gedanken machte sie sich dennoch. Aber woher zum Teufel sollte einer der Kollegen diese Bilder haben. Die Bilder, die aus der Zeit stammen, von denen ihre Kollegen hier nicht einmal den Hauch einer Ahnung hatten, dass sie existierte.

 

 Chris wollte gerade den Bericht über den Patienten verfassen, der in der letzten Nacht zu ihnen gekommen war. Sie wussten immer noch nicht, wer er eigentlich war. Leider hatte auch die Polizei bei ihren Recherchen nichts herausfinden können. Chris klickte mit der Maus auf den „Namen“ des Mannes und öffnete das Feld, in dem sie ihren Bericht verfassen wollte. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schaute auf die Uhr. 01.34 Uhr Chris hatte noch einige Stunden Dienst vor sich. Mit einem lauten Seufzen machte Chris sich daran ihre Berichte zu schreiben. Sie beschloss bei dem unbekannten Patienten ihren Standardsatz zu schreiben Pat. schien bei allen Durchgängen schlafend und machte sich nicht bemerkbar. 

Chris speicherte ihren Satz und klickte mit der Maus auf das kleine Zeichen mit dem Haus oben in der linken Ecke, um zurück auf die gesamte Patientenübersicht zu kommen. Ich kann ja gleich noch einmal nach ihm schauen. Chris schrieb noch eine Weile ihre Berichte und beschloss gegen 02.30 Uhr noch einen Rundgang zu machen. Den Drehstuhl schob sie mit einem geübten Fußtritt zur Seite und stand auf. Mit langsamen Schritten ging sie hinüber zum Schrank und nahm sich ein Notfalltelefon und einen Schlüssel heraus. Danach verließ sie das Dienstzimmer und zog die Tür hinter sich zu, damit Sören in Ruhe seinen Papierkram weiter machen konnte. Der Flur war in der Nacht nur spärlich beleuchtet. Lediglich alle drei Meter hing eine kleine Lampe an der Wand, die den größten Teil des Lichtes an die Decke warf, und nicht auf den Flur. Für Chris wirkte dieser Flur nachts wie aus einem der zahlreichen „Lost Place“ Filme, die es auf YouTube gab, in denen Jugendliche verlassene Gebäude aufsuchen und sich dabei filmten. Chris öffnete die erste Tür eines Patientenzimmers und schaute vorsichtig hinein. Die junge Frau schlief tief und fest. Das zauberte ein Lächeln auf das Gesicht von Chris. Sie wusste, sobald am morgen die Sonne aufgehen würde und sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachen würde, beginnt ihr Leiden von vorne. Die junge Frau, die du hier siehst hat schlimme Wahnvorstellungen. Sie glaubt, dass alle Menschen um sie herum vom Teufel besessen sind und ihr etwas antun wollen. Außerdem glaubt sie, dass auch einzelne ihrer Körperteile vom Teufel besessen sein. Aus diesem Grund schnitt sie sich selbst an der linken Hand zwei Finger ab. Wenn du in ihr Zimmer gehst, sei bitte vorsichtig. Einem Pfleger in einer anderen psychiatrischen Einrichtung hatte sie einen angespitzten Kamm in das linke Auge gerammt, um ihm vom Teufel zu befreien. Diese Kurzfassung der Leidensgeschichte hatte ihr Sören an ihrem ersten Tag erzählt. Jedes Mal, wenn Chris sah, das die Frau schlief oder draußen im Garten auf einer Bank saß und einfach nur in den Himmel starrte, war sie erleichtert. Denn Chris wusste, das sie dann für eine Sekunde nicht an ihr Leiden denken musste. 

So leise wie möglich schloss Chris die Zimmertür und ging zum nächsten Zimmer. Das Zimmer des unbekannten Mannes, der Chris so unheimlich vertraut vorkam. Als hätte sie ihn schon einmal gesehen. Auch hier öffnete Chris die Tür so leise wie möglich. Sie schaute um die Ecke und entdecke das Bett, dass unterhalb des Fensters stand. Ihr Blick wanderte vom Fußende hoch zum Kopf. Von dem Mann selber konnte Chris nicht viel sehen, denn er hatte sich so in seine Decke eingegraben, dass nicht einmal ein Fuß hinausschaute. Chris machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Zimmer wieder. Gerade wollte sie die Tür schließen und zum nächsten Zimmer gehen, da schoss es durch ihren ganzen Körper, als hätte sie ein Blitzschlag getroffen. Irgendetwas stimmt hier nicht, dachte sie und nahm die Türklinke wieder in die Hand und öffnete die Tür. Dieses Mal ging sie mit leisen Schritten in das Zimmer. Mit der linken Hand griff sie nach dem Telefon, das am oberen Ende einen Notfallknopf hatte. Im Falle eines Drückens würde sich eine Konferenzschaltung zu allen psychiatrischen Station herstellen und innerhalb von wenigen Minuten wären genügend Kollegen da, die Chris in einer möglichen Notfallsituation helfen könnten. Ihre Hände wurden feucht und ihr Puls beschleunigte sich. Dennoch ging sie immer weiter auf das Bett zu, bis sie schließlich direkt am Bettrahmen stand. Sie musterte die aufgepolsterte Decke von oben bis unten und da sah sie es. Die Decke mit ihrem typischen weiß-grünen Krankenhaus Bettbezug lag einfach nur so da. Sie bewegte sich nicht, wie es eine Decke tun würde unter der ein schlafender, atmender Mensch liegen würde. Nocheinmal stieg der Herzschlag von Chris an. Sie löste ihre linke Hand von dem Telefon und bewegte sie zur Decke hin. Mit einem entschlossenem Griff nahm sie die Decke und klappe sie nach hinten um. Nichts. Das Bett war leer. Fast leer. Mitten auf der Matratze lag ein Zettel. Chris dachte sie würde jede Sekunde einen Herzinfarkt erleiden. Sie schluckte ihre Angst hinunter und griff mit ihrer zitternden Hand nach dem Zettel. Sie hielt ihn in ihren Händen und schloss die Augen. Dann öffnete sie ihn. Die Nachricht die sie auf dem kleinen Zettel las versetzte sie in einen nie zuvor gekannten Zustand der Panik.

 

Ich weiß, wer du bist und was du getan hast. Schob co sein im! 

 

Wie in Trance hatte Chris den Weg zurück in das Dienstzimmer geschafft und lies sich auf ihren Stuhl fallen. Der Stuhl knatschte unter ihrem Gewicht, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Den Zettel, aus dem Zimmer, hatte sie mit ihrer Hand umklammert. Se öffnete sie erst, als sie sicher war, das sie einen festen Sitz im Stuhl gefunden hatte. Ich weiß, wer du bist und was du getan hast, Schob co sein im. Was hat das alles zu bedeuten? Und was in drei Teufels Namen soll SCHOB CO SEIN IN heißen? Chris schwitze immer noch und ging im Kopf alle Möglichkeiten durch, wer sie hier gefunden haben könnte. Sie hatte doch so aufgepasst und jeglichen Kontakt abgebrochen. Sogar zur ihren Eltern. So in ihren Gedanken vertieft hatte sie überhaupt nicht mitbekommen, das Sören nicht im Dienstzimmer war. Sie schaute auf die Uhr, 03.00 Uhr, Sören macht bestimmt einen Rundgang. Aber hätten wir uns dann nicht begegnen müssen? Sie drehte sich um und schaute, ob sie Sören irgendwo erkennen konnte. Aber sie sah etwas anders.  Etwas das für sie noch unerklärlicher war, als die Tatsache, das sie Sören nicht sehen konnte. Oberhalb jeder Zimmertür auf der Station war eine kleine Lampe angebracht. Diese Lampen leuchteten entweder grün, wenn ein Mitarbeiter von innen einen Knopf betätigte, um den Kollegen mitzuteilen, das jemand in dem Zimmer war oder sie leuchtete rot, wenn ein Patient die Klingel am Bett benutzte. Die Lampen über den Zimmertüren auf der Stationen waren alle aus, bis auf eine einzige, die rot leuchtete. Diese rote Lampe leuchtete über dem Zimmer, in dem sie gerade war. Das Zimmer, das von dem unbekannten Mann belegt war. Das Zimmer auf der Station, in dem sich kein Mensch befand. Wer hatte die Klingel gedrückt, wenn in dem Zimmer niemand ist? Und wo war der Mann?

 

 

Chris stand von ihrem Stuhl auf und ging zielstrebig auf das rote Licht zu. Mit einer neugewonnenen Selbstsicherheit, die sie selber überraschte, griff sie zur Türklinke und drückte sie ein weiters Mal herunter. In diesem Zimmer ist niemand. Ich war gerade da. Egal wer mir hier einen Streich spielt, damit ist jetzt Schluss. Die Tür schwang auf und sie schaute in das Zimmer. Es war  immer noch leer. Die Bettdecke war noch genauso zurückgeklappt wie Chris es vor wenigen Minuten hinterlassen hatte. Auch im Badezimmer war niemand und das Fenster stand nicht offen. Was zum Teufel war hier los?

 In diesem Moment hörte Chris einen lauten Knall und plötzlich war es stockdunkel um sie herum. Sie hatte keine Chance ihre eigene Hand vor den Augen zu sehen. Mit ihrer rechten Hand tastete sie nach der Wand, um sich an ihr festzuhalten, um zurück zur Tür zu kommen. Dort angekommen drückte sie die Türklinke hinunter. Einmal, zweimal und ein drittes Mal, doch nichts geschah. Sie lies sich nicht öffnen. Zunächst klopfte Chris vorsichtig gegen die verschlossene Tür, dann etwas stärker und zum Schluss schlug sie mit all ihrer Kraft gegen die Tür. „Sören, kannst du mich hören? Die Tür ist zugeweht und muss ins Schloss gefallen sein, kannst du bitte den Schlüssel aus dem Dienstzimmer holen?“. Keine Antwort. Da kam ihr die rettende Idee. Ich habe doch ein Telefon dabei, ich rufe einfach auf der Nachbarstation an. Chris griff mit der Hand an ihre linke Hüfte, dort hatte sie immer ihr Telefon hängen, damit sie es schnell griffbereit hatte. Nein nein nein, das darf doch nicht wahr sein. Immer wieder drückte Chris die Tasten auf dem Telefon, immer wieder mit dem selben Ergebnis. Der Bildschirm blieb schwarz. Ausgerechnet jetzt muss dieses verdammte Ding den Geist aufgeben. Vielen Dank auch. Es war stockdunkel in dem Zimmer, lediglich durch das kleine Fenster fiel etwas Mondlicht. Komm schon denk nach, irgendwie musst du hier doch rauskommen. In die unheimliche Stille hinein hörte Chris ein Knacken oder war es doch eher ein Rauschen? Das Geräusch kam aus einer Ecke des Zimmers und wurde immer lauter, je näher Chris dem Ursprungsort kam. Und dann verstummte das Geräusch plötzlich und die unheimliche Stille nahm wieder ihren Platz ein. Jedoch nicht lange. „Hallo Maggie, wie geht es dir? Hast du dich schön eingelebt?“. Jede einzelne Zelle von Chris Körper stellte ihre Arbeit ein und es fühlte sich an, als würde ihr Herz jeden Moment stehen bleiben. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich habe mir gedacht, über diese alte Sprechanlage könnten wir uns ganz schön unterhalten. Schließlich haben wir uns so lange nicht mehr gesehen.“  Die Stimme, die aus dem Lautsprecher zu hören war, hatte einen angenehmen und ruhigen Klang. Chris fing allmählich wieder an zu atmen, doch ihre Knien zitterten immer noch. „Wer sind Sie und woher wissen Sie wer ich bin und wie mein wirklicher Name ist?“ Seit fast neun Jahren hatte sie niemand mehr Maggie genannt und auch sie selbst hatte fast vergessen, dass Chris nicht ihr Name war. Das Chris nur eine falsche, aufgebaute Identität war. „Naja, wie sag ich das bloß? Ich bin ein Mensch, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Menschen die wohlwissend das Leben anderer zerstört haben, dafür büßen zu lassen. Und du meine Liebe, hast das Leben eines kleinen Jungen zerstört oder nicht? Und dafür wirst du büßen.“

 

 Das Rauschen der Lautsprecher wurde durch ein lautes Knacken abrupt unterbrochen. Chris spürte wie ihr Herzschlag anstieg und sie ein ungutes Gefühl überkam. Was passiert hier? Und wo um alles in der Welt ist Sören? Wieder war da diese unheimliche Stille. Ab und an tropfte der Wasserhahn, dann wieder Stille. Auf einmal hörte Chris, wie ein Schlüssel in die Zimmertür gesteckt wurde und die Tür sich ganz langsam öffnete. Durch den Spalt gelang etwas Licht in das Zimmer. Endlich hat Sören mich gefunden. Chris fiel ein riesen Stein vom Herzen, sie atmete einmal tief durch und wollte gerade auf die Tür zugehen, als sie in ihrer Bewegung erstarrte. Durch den kleinen Lichtspalt, der einen Teil des Zimmers erhellte, hatte sie den kleinen Stoffbären, der auf dem Boden vor der Badezimmertür saß, erst jetzt entdecken können. Der kleine Bär, war mit einem roten T-Shirt bekleidet, auf dem in einer schönen, verschnörkelten Schrift der Name Cosmo stand.  Das darf nicht wahr sein. Das kann nicht wahr sein. Die Tür ging zu und der Schlüssel wurde wieder herumgedreht. „Was zur Hölle willst du von mir? Und wo hast du den Teddy her?“, schrie Chris in das menschenleere Zimmer. Sie hatte das Gefühl auf eine massive Panikattacke zuzusteuern. Keine Antwort. Einige Sekunden vergingen ehe das Rauschen wieder zu hören war. Kurze Zeit später hörte sie wieder die Stimme aus dem Lautsprecher. Eine tiefe, ruhige Stimme. „Ach Maggie, willst du uns nicht so langsam einmal erzählen, wer du wirklich bist und was du die letzten Jahre mit dir herumschleppst?“ Uns?

 Doch Chris kam nicht dazu ihren Gedanken weiter auszuführen, denn erneut wurde die Tür geöffnet und ein Rollstuhl wurde hineingeschoben. In dem Rollstuhl saß ein Mann, der mit seinem Körper zur linken Seite über die Lehne hing. Die Silhouette des Mannes war Chris nur allzu bekannt. „Er wollte gerade seine 03.00 Uhr Runde beginnen, aber ich wollte unbedingt, dass er endlich erfährt, wer du bist!“. Im Rollstuhl saß Sören und bewegte sich nicht. Das Gesicht war unter einer schwarzen Skimaske versteckt, durch die man lediglich seine Augen sah, die hektisch von rechts nach links wanderten. „Was hast du mit ihm gemacht?“, schrie Chris mit Tränen in den Augen in den leeren Raum. „Ach hab keine Angst, es geht im gut.“, antwortete die Stimme aus dem Lautsprecher. „ Zumindest noch. Ich habe ihm Curare gespritzt, ein sehr wirksames Nervengift. Es greift lediglich das willkürliche Nervensystem an. Seine Muskeln werde immer schwächer werden. Irgendwann wirst du nur noch kleine Zuckungen der Muskeln wahrnehmen. Diese Zuckungen werden immer schwächer und schwächer, bis er schließlich gelähmt ist. Aber das wirklich beeindruckende an diesem Gift ist, das es das vegetative Nervensystem und das Herz überhaupt nicht beeinflusst. Das bedeutet, er ist bei vollem Bewusstsein und kann dir bei deiner Geschichte zuhören. Naja, zumindest solange bis das Gift auch seine Atemmuskulatur lähmt und er erstickt. Also wenn du ihn retten willst, dann würde ich an deiner Stelle so langsam anfangen zu erzählen.“ Chris konnte ihre mit Tränen gefüllten Augen nicht von Sören richten. Es tut mir so leid, ich wollte dich da nicht mit hineinziehen. „Fang an zu erzählen!“, schrie die Stimme. Chris nahm sich, am gesamten Körper zitternd, einen Hocker und setzte sich gegenüber von Sören hin. Sie holte tief Luft und erzählte, wie in Trance, mit bebender Stimme, von dem Tag, an dem sie ihren größten Fehler machte.

 

 

„Es war ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag. Ich bin am morgen ganz normal um 06.00 Uhr zur Arbeit gegangen, meine Arbeit hat mir sehr am Herzen gelegen. Ich war Krankenschwester auf einer psychiatrischen Station für schwer erziehbare Kinder und Jugendliche. Die Arbeit dort mit den Kindern hat mir viel Spaß gemacht. Wir hatten damals zwei Kinder auf der Station, die sich sehr, sehr ähnlich sahen. Benjamin, den wir immer nur Billy nannten, und Cosmo. Benjamin war von seinen Eltern ausgesetzt worden und kam über viele Stationen schließlich zu uns. Cosmo Familie starb bei einem Autounfall als er 8 Jahre alt war. Die beiden verstanden sich wirklich gut. Sie waren in einem Zimmer und hatten beide Probleme mit der Bewältigung von Aggressionen. In der Vergangenheit gab es immer mal wieder Situationen in denen einer der Beiden die Kontrolle verlor und ein anders Kind schlug. Die Station verfügte über einen großen Spielraum, mit einer Rutsche und einem Bällebad für die jüngeren Kinder und einer PlayStation für die Älteren. In diesem Raum hatten die Kinder am Nachmittag die Möglichkeit, unter Aufsicht des Pflegepersonals, mit anderen Kindern zu spielen. Sonst war es ihnen nur gestattet in ihren eigenen Zimmern, mit ihren Zimmergenossen zu spielen. An diesem Tag spielten Billy und Cosmo mit zwei weiteren Jungen in dem Raum. Alles war gut. Die vier spielten friedlich miteinander. Mein Handy klingelte und mein Freund rief mich an. Ich sah keinerlei Problem darin, den Raum für eine kurze Zeit zu verlassen. Ich war nur wenige Minute weg, doch als ich wieder kam, lag einer der Jungs mit blutender Kopfwunde am Boden und von Billy und Cosmo fehlte jede Spur. Sofort machte ich mich auf den Weg in das Zimmer der beiden Jungs. Sie saßen auf ihren Betten und starrten an die Wand. Wie jedes Kind auf der Station hatten sie Angst vor dem Stationsarzt, den wir damals hatten. Er hielt nicht viel davon mit den Kindern zu reden, er handelte lieber. Dieses Handeln endete meistens für die Kinder in einer mehrstündigen Fixierung. Ich flehte die beiden immer wieder an, mir zu erzählen was passiert war. Doch die beiden schwiegen.“ Chris musste kurz innehalten, um ihre Tränen zurückzuhalten. Sie sammelte sich wieder und erzählte weiter. „Immer wieder schaute ich die Jungs abwechselnd an, bis Cosmo schließlich unter Tränen zugab, den anderen geschlagen zu haben, da dieser ihm nicht die Legosteine geben wollte. Ich nahm Cosmo in den Arm und sagte ihm, dass er sich keine Sorgen machen musste. Das alles in Ordnung kommen würde.“ Erneut musste Chris eine Pause machen. Sie merkte wie sich eine tiefe Traurigkeit in ihr ausbreitete, doch die Stimme aus dem Lautsprecher, trieb sie weiter an. „Komm zum spannenden Teil.“ Chris holte tief Luft und erzählte stockend weiter. „Wenige Minuten nach dem unser Stationsarzt erfahren hatte, was in dem Spielraum passiert war, kam er auf mich zu. Er schrie mich an und beschimpfte mich, das ich meiner Aufsichtspflicht verletzt hätte. Er forderte mich auf, ihm zu sagen, welcher der beiden Jungs die Kontrolle verloren hatte. Wohlwissend was Cosmo bevorstand, wenn ich seinen Namen nennen würde, sagte ich nichts. Ich hatte mich gerade wieder an den Schreibtisch gesetzt, da hörte ich ein schrillen, qualvollen Schrei. Eine Kollegin und ich sprangen von unseren Stühlen auf und liefen in die Richtung aus der wir den Schrei vernahmen. Er führte uns direkt in das Zimmer von Cosmo und Billy. Als wir das Zimmer betraten sahen wir, wie unser Stationsarzt und eine weitere Schwester einen Jungen gewaltsam auf das Bett zu drücken versuchten. Der Junge schrie, schlug und trat um sich. Alex- unser Arzt rief mich zu sich hinüber und sagte mir, das ich die Arme des Jungen auf das Bett drücken solle, damit er ihn fixieren könnte. Er wollte sich nicht weiter von dem Kind ärgern lassen, sagte er. Ich versuchte mit ihm zu sprechen, ihn von seinem Plan abzubringen, doch er hörte mir überhaupt nicht zu. Ich trat an das Bett und als ich sah, das Cosmo dort lag, traf mich der Schlag. Die Tränen schossen mir in die Augen. Er schaute mir direkt in die Augen und sagte immer wieder „Bitte Chris hilf mir, du hast es mir versprochen!“

 

 Chris spürte, wie eine Welle des Schmerzes durch sie fuhr. So viele Jahre hatte sie das alles verdrängt und nun war der Schmerz wieder so präsent wie am ersten Tag. Das Rauschen des Lautsprechers verstummte. Ist er gegangen?, dachte sich Chris. Es war so leise in dem Zimmer, dass man Sören hören konnte, der versuchte nach Luft zu schnappen. Doch plötzlich wurde die Stille durch das Aufspringen der Tür, die laut gegen die Wand schlug, unterbrochen. Ein Mann trat in das Zimmer. Chris konnte sein Gesicht nicht erkennen, denn alles oberhalb der Schultern war nicht vom Licht erleuchtet. „Aber Maggie, wieso hast du dem Jungen nicht geholfen?“. Chris spürte einen Knoten in ihrem Hals, der es ihr unmöglich machte etwas zu sagen. „Schau einmal zu deinem Freund hier hinüber.“ Chris richtete ihren Blick auf Sören. Die Zuckungen seiner Muskeln wurden schwächer. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit bis das Gift seine Atemmuskulatur angreifen würde und er vor ihren Augen, bei vollem Bewusstsein, ersticken würde.“ Chris starrte Sören förmlich an. „Ich habe alles getan was ich konnte. Wirklich alles, aber ich konnte den Jungen nicht retten. Er starb an diesem Tag in meinen Armen. 

„NEEEEEEEIIIINNNN, der Junge ist nicht tot. Alle Ärzte, Schwestern hielten ihn für tot, weil er aufhörte zu schreien. Aber er starb nicht. Durch den starken Druck, den all diese Menschen auf den kleinen, zerbrechlichen Jungen ausübten, brach eine seiner Rippen und verursachte einen Pneumothorax. Der Junge hörte auf zu schreien vor Schmerzen, nicht weil er tot war. Und Maggie du hast nicht alles getan was du konntest, du hättest den Arzt dazu bringen müssen dir zuzuhören. Du hättest ihn davon überzeugen müssen, dass der Junge eine zweite Chance bekommt. Du hättest das Wohl des Kindes im Kopf haben müssen und nicht deine eigene Angst vor drohenden Konsequenzen. Du warst feige und deswegen hast du geschwiegen.“, schrie der Mann und trat aus dem Dunkeln hervor, direkt vor Chris. Das Gesicht, das sich dort aus dem Schatten bewegte, versetzte Chris in einen Zustand der absoluten Fassungslosigkeit. Es traf sie völlig unvorbereitet und sie wusste im ersten Moment überhaupt nicht, was sie sagen sollte. „Sören? Was soll das alles hier und woher willst du wissen, das der Junge noch lebt?“, Chris stand von dem Hocker auf und wich einen Schritt zurück. „Warum ich das weiß Maggie? Hast du das Rätsel etwa immer noch nicht gelöst?“ Sören interpretierte den fragenden Blick von Chris richtig und wiederholte das Rätsel. „ SCHOB CO SEIN IM. Früher warst du die Meisterin der Anagramme.“ Chris drehte die Buchstaben in ihrem Kopf hin und her und als sie einen logischen Satz aus diesen Buchstaben bildete, konnte sie es nicht glauben, es traf sie wie ein Schlag. SCHOB CO SEIN IM – Ich bin es, Cosmo.

 „Cosmo? Wie? Aber? Du bist tot! Ich musste deinen Leichnam begleiten.“ Der Mann, von dem Chris bis eben noch gedacht hat, er wäre Sören, ihr neuer, sympathischer Kollege, sollte in Wahrheit das Kind sein, dass aufgrund ihres Fehlers starb? Wenn der Mann im Rollstuhl nicht Sören ist, wer ist er dann?

„Ich wurde in einen Leichensack gelegt und in die Pathologie gebracht. Ich lag mehrer Stunden in einer dieser Leichenschränke an der Wand. Über mir lag ein Mann der an einem Hirntumor gestorben war und neben mir eine Mutter, die bei einem Verkehrsunfall fast in zwei Teile geteilt wurde. Ich kann von Glück sprechen, dass in dem Moment, in dem ich das Bewusstsein wieder erlangte eine Krankenschwester eine weitere Leiche nach unten brachte und mein wimmern hörte. Sie brachte mich zu Ärzten und lies mich behandeln. Naja und was soll ich sagen.“ Cosmo zog sein T-Shirt hoch und zeigte seine Narbe. „Das ist das Einzige, was mich körperlich noch an diesen Tag erinnert. Aber was du in meiner Seele kaputt gemacht hast, das wird niemals heilen. Aufgrund deiner Angst vor dem damaligen Arzt, bin ich unfähig anderen Menschen zu vertrauen. Ich kann niemanden an mich heranlassen und bin mutterseelenallein auf dieser Welt. Und genau diese Einsamkeit wirst du nun auch erleben.“ Mit diesen Worten stürmte Cosmo auf Chris zu und schlug und trat auf sie ein. Der Raum füllte sich mit dem Knacken von Chris Knochen, die durch die Schläge von Cosmo brachen, wie rohe Spaghetti. Cosmo schlug und trat immer weiter auf sie ein. Chris versuchte sich zu wehren und rief um Hilfe. Doch plötzlich schlug ihr Kopf auf den harten Fußboden und es kehrte Stille in das Zimmer ein. Das wars, jetzt ist es vorbei mit meinem Leben, dachte Chris ehe sich ihre Augen schlossen und die Welt um sie herum aufhörte zu existieren.

 

 

Fünf Monate später

 

Maggie, die ihren alten Namen wieder angenommen hatte, fuhr sich über ihre Narbe am Hinterkopf. Für den Rest ihres Lebens würde diese sie an diesen Abschnitt ihres Lebens erinnern. Sie hatte in dieser Nacht schwerste Verletzungen davon getragen. Unter anderem hatte sie eine Hirnblutung und einen Schädelbasisbruch erlitten. Die Ärzte sagten ihr, dass ihr Gesicht so  zu geschwollen gewesen war, dass man ihre Augen kaum noch sehen konnte. Sie hatte großes Glück gehabt, dass Jacky an diesem Morgen eine halbe Stunde früher zum Dienst gekommen war und ebenfalls das rot leuchtende Licht über dem Patientenzimmer sah. Sofort war sie in das Zimmer geeilt und fand Maggie in ihrem Blut regungslos am Boden liegend. Der Mann, bei dem sich später herausstellte, das es sich um Billy handelte, saß immer noch bewegungsunfähig in dem Rollstuhl und musterte das Zimmer mit den Augen. Jacky verständigte den Notarzt, der sich um Maggie kümmerte und Billy ein Gegengift spritze, welches die Wirkung des Giftes innerhalb weniger Minuten linderte und ihm das Sprechen wieder ermöglichte. Von Cosmo jedoch fehlte jede Spur. Erst Wochen später wurde er gefunden und in eine psychiatrische Einrichtung gebracht, während er auf seinen Gerichtstermin wartete. Der Anwalt von Cosmo ließ Maggie einen Brief zukommen, in dem er versuchte, die Tat seines Mandaten zu erklären. Maggie gab dieser Brief die ersehnten Antworten auf all ihre Fragen. Warum wollte sich Cosmo an ihr rächen? Wie gelang es ihm, sie so zu täuschen? Was hatte Billy mit all dem zutun?

In dem Brief des Anwaltes hieß es, dass Cosmo und Billy sich vor einigen Monaten zufällig in einer Bar getroffen hätten. Sie seien ins Gespräch gekommen und beschlossen den Kontakt zuhalten. Nach der gemeinsamen Zeit in der Psychiatrie hatten sich ihre Wege getrennt, denn Billy studierte Jura und Cosmo wurde von einer Pflegefamilie in die nächste weiter gereicht. Cosmo gelang es nach seiner Zeit in diversen Pflegefamilien die Ausbildung zum Gesundheit- und Krankenpfleger zu absolvieren. Nach nur wenigen Jahren Berufserfahrung, erhielt er eine Stelle als Bereichsleiter auf der Station, auf der Maggie sich später bewarb. Cosmo gab Maggie die ganze Schuld an seinen sozialen Defiziten. Er sei nicht in der Lage soziale Kontakte aufzubauen aufgrund des Vertrauensbruchs, den Maggie ihm als Kind angetan hatte. Sie hatte ihm damals versprochen zu helfen, ihn zu beschützen. Stattdessen habe sie gemeinsam mit ihren Kollegen dafür gesorgt, dass Cosmo gewaltsam fixiert wurde. Er habe sich von diesem Trauma nur langsam erholen können. Aber in dem Moment, in dem er Maggie wieder traf, dachte er nur noch an Rache. Er wollte Maggie dieselben seelischen Qualen bereiten, die er als kleiner Junge durchstehen musste. Von dieser Idee der Rache war er regelrecht besessen und auch Billy sollte dabei sein. So wären sie alle wieder vereint. An einem Abend, als die Beiden nett zusammensaßen, verabreichte er Billy einen Drogencocktail. Er wusste, dass dieses Gebräu ihn in einen Psychose typischen Zustand versetzten würde. Sobald Billy diesen Zustand erreichte, rief er die Polizei und einen Rettungswagen und überzeugte die Beamten davon, ihn auf seine psychiatrische Station zubringen. Er machte sich umgehend auf den Weg, um pünktlich zu seiner Nachtschicht mit Maggie auf der Station zu sein. In der Nacht, in der Billy -entgegen Cosmos Plänen- aus seinem Schlaf aufwachte und auf der Station umherlief, beschloss er ihn zunächst in einem anderen Raum unterzubringen. Hier sollte Billy bis zu dem großen Finale bleiben, das Cosmo geplant hatte. Er lockte Maggie, mit der roten Lampe, in das leere Zimmer, verschloss die Tür und  schaltete das Licht aus. Cosmo wollte Maggie spüren lassen, wie einsam, hilflos, eingesperrt und verloren er sich jeden Tag in seinem eigenen Körper fühlte. Er entdeckte die alte Sprechanlage und konnte Maggie so noch mehr Angst einjagen. Die Idee Billy das Nervengift Curare zu injizieren kam Cosmo spontan. Er setzte ihn in einen Rollstuhl und zog ihm die Skimaske über den Kopf. Er hätte nie gedacht, dass es funktionieren würde, das Maggie hinter dieser Fassade Sören sah. 

Maggie las den Brief den Anwalts ein Dutzend Mal. Sie hätte niemals geglaubt, das ihr feiger Fehler ihren Mund zuhalten, und den Jungen nicht zu verteidigen, das Leben dieses Kindes so beeinflussen würde. Das die Entscheidung ihr eigenes Leben so beeinflussen würde. Nach Allem was geschehen war, hatte sie sich dazu entschlossen, dass sich ihr Fehler nicht wiederholen sollte. Sie hatte Fortbildungen besucht und gab inzwischen für Mitarbeiter von psychiatrischen Einrichtungen und Angehörigen von psychisch Kranken Seminare über den richtigen Umgang und das richtige Verhalten in Konfliktsituationen. So versuchte sie Menschen das Selbstbewusstsein zugeben, auch gegen Widerstände auf das Wohl des Patienten zu achten. Mittlerweile besuchte sie verschieden Stationen und gab Seminare über den richten Umgang untereinander. Maggie war glücklich und zufrieden in ihrem alten, neuen Leben. 

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