JohannaFritziDie Flucht

Johanna Fritzi Momm

Die Flucht

Schon seit Tagen fühlte Becca sich beobachtet. Ein flüchtiger Schatten, der sich dem forschenden Blick ihrer dunklen Augen verbarg, ein dumpfes Geräusch in einer sonst stillen Gasse, der Wind, der wie ein kühler Atemhauch ihre Nackenhaare sträubte. Verärgert schüttelte sie den Kopf und schlürfte wie zum Trotz laut ihren Starbucks-Kaffee To-Go. Dennoch behielt sie ein mulmiges Gefühl im Bauch, als sie in die Straße ihres Flüchtlingsheimes einbog. Sie wartete immer noch darauf, dass man ihren Asyl-Antrag bearbeitete und das obwohl sie unter den ersten war, die in der „Flüchtlings-Welle“, wie sie es selbst spöttisch nannte, 2015 nach Deutschland gekommen war. „Welle ist gut“, dachte sie. „Diese Politiker, die mit diesem Begriff arbeiten, mussten nicht Ewigkeiten in einem überfüllten Schlauchboot durch die Gegend schippern. Die einzigen Wellen, die die kennen, sind doch die an den Stränden von Mallorca und der Nordsee oder die, die von den massiven Schrauben der Kreuzfahrtschiffe zerschnitten werden.“ Dennoch war sie froh in Deutschland zu sein. Hier versuchten keine Politiker ihre Familie umzubringen, weil sie zu viele Kontakte ins Ausland hatte und auch waren auf ihren Wegen keine Minen verstreut. Aufgrund ihres Germanistik-Studiums in einer Stadt, die schon längst durch den Bürgerkrieg unbewohnbar gemacht wurde, hatte sie einen enormen Vorteil in den Deutschkursen, die ihr zwar nicht wirklich die Sprache näher brachten, denn ihr Deutsch war grammatikalisch einwandfrei und fast akzentfrei, aber ihr halfen, die durch die lange Wartezeit bedingte Langeweile zu ertragen. Doch seit circa zwei Wochen ließ sie dieses unangenehme Gefühl nicht los, wie ein Tortenstück auf dem Präsentierteller einer Konditorei zu sitzen. Es waren nicht die Menschen, die umher wuselten in ihrem geschäftigen Alltag, der sich so von ihrer Heimat unterschied, sondern eher ein kurzzeitiges Aufblitzen fremder Präsenz, wie der Auslöser einer Kamera. Bisher konnte sie dem Drang nachzuschauen widerstehen, aber heute hatte sie einen Plan ausgeheckt. Becca bog in eine Seitengasse ein und versteckte sich in einem schmalen Hauseingang eines für die Gegend eher untypischen Fachwerkhauses. Jetzt wartete sie. Nichts passierte. Sie fing an, an sich zu zweifeln und gerade als sie sich über ihre Wahnvorstellungen lustig machend zum Gehen wandte, bog eine menschliche Gestalt in einem schwarzen Kapuzenpulli um die Ecke. Becca stockte das Lachen in der Kehle und sie presste sich weiter in den Hauseingang. Obwohl es für deutsche Verhältnisse warm war, fröstelte sie. Die Gestalt blickte sich um, konnte sie aber anscheinend nicht entdecken. Sie fluchte auf Arabisch und drehte sich um, weiter nach Becca Ausschau haltend. Diese war jedoch nicht so leicht zu erschrecken, denn da es sich nun um eine Person und nicht um ein Gespenst zu handeln schien, konnte Becca ihre Selbstverteidigungs-Kenntnisse anwenden, die sie von klein an von ihrem Vater beigebracht bekommen hatte. Sie sprang auf den verhüllten Mann zu und versuchte ihn zu konfrontieren. „Was willst du von mir?“ rief auch sie auf Arabisch. Anstatt ihr jedoch zu antwortet, stieß die Gestalt einen dumpfen Schrei der Überraschung aus und rannte mit langen Schritten davon. Becca, die auf eine körperliche Auseinandersetzung vorbereitet war, stand irritiert in der Gasse. Zu ihren Füßen leuchtete ein schimmerndes Licht auf. Obwohl Becca ihre angespannte Verteidigungshaltung nicht aufgab, denn der mysteriöse Mann könnte immer noch zurückkommen, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den hellen Gegenstand. Es war ein Handy. Eingeschaltet noch dazu. Becca hob es auf. Die Kamera-App war geöffnet. Anscheinend hatte die Person tatsächlich Fotos von ihr gemacht. Becca nahm das Handy zur weiteren Untersuchung mit in die Unterkunft.

Sobald sie die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte, stürzte Becca sich in die Erforschung dieses mysteriösen Handys. Zuerst öffnete sie die Galerie und scrollte durch die Fotos. Mit jedem Swipe wurde ihr mulmiger. Jedes einzelne der Fotos zeigte sie, wie sie ihren Alltag verbrachte. Mal wie sie zum Einkaufen ging, mal dösend aus dem Fenster der Unterkunft schauend, mal mit einer Freundin beim Kaffee trinken. Selbst das eine Mal, wo sie sich in einen der vielen deutschen Clubs getraut hatte, war dabei. Weshalb hatte diese Person sie beobachtet? War etwa jemand wegen den politischen Kontakten ihrer Familie hinter ihr her? Aber von ihrer Familie war doch außer ihr niemand mehr am Leben? Becca schluckte und kämpfte ihre Tränen zurück. Der Gedanke an ihre Familie war immer noch zu schmerzhaft. Sie schaute weiter durch die Bilder. Anscheinend hatte der Fremde sie seit ein paar Monaten im Visier. Davor waren nur Landschaftsbilder und typische Touristen-Fotos von Sehenswürdigkeiten quer durch Europa verteilt. Doch auch hier fand sie nichts, mit dem man auf die Identität ihres Stalkers schließen konnte. Jedoch fand Becca es etwas merkwürdig solche „normale“ Schnappschüsse zu finden. Sie wollte das Handy schon frustriert an die Wand werfen, als sie zum letzten Foto kam. Doch da fand sie etwas Erstaunliches. In einem Schaufenster gespiegelt sah sie klar die Gesichtszüge zweier Menschen. Becca schnappte nach Luft. Tränen liefen nun aus ihren Augen. Sie schaute nochmal auf das Datum, dass eindeutig vor einem halben Jahr war. Ihre zitternden Hände ließen das Handy fallen. Sie ließ sich auf ihr Bett sinken und rang nach Luft, durchschüttelt von Heulkrämpfen. Aus dem Handy lächelten ihr das Gesicht eines entfernten Cousins entgegen, der schon vor zehn Jahren nach Europa ausgewandert war und daneben, ja daneben, war eine junge Frau mit langen braunen Haaren, funkelnden Augen und einem süßen Muttermal neben der Nase. Wäre das nicht gewesen, hätte man auch vermuten können, dass sich Becca auf dem Foto befand. Aber das war sie nicht. Obwohl, eigentlich doch. Becca, die eigentlich Monira hieß, wurde von dem Bild ihrer Zwillingsschwester 5 Jahre in die Vergangenheit gerissen.

Meeresrauschen füllte ihre Ohren und sie sah sich wie aus Vogelperspektive in dem kleinen Camp in Bodrum, von dem aus die beiden Schwestern nach einem Gewaltmarsch durch die Türkei über das Mittelmeer nach Lesbos geschleust werden sollten. Zumindest hatte das ihr vorheriger Schlepper versprochen, nachdem Becca, die richtige Becca, ihm noch etwas Geld extra zugesteckt hatte. Nun war diese von dem ununterbrochenen Laufen in Moniras Armen eingeschlafen, während beide auf weitere Anweisungen warteten. Das kleine Camp war brechend voll und es stank entsetzlich. Von einer älteren Frau ließ sich Monira sagen, dass einige schon Monate darauf warteten, nach Griechenland gebracht zu werden. Selbst schon fast vom Schlaf übermannt, betete Monira, dass ihnen dieses Schicksal erspart blieb. Sie strich ihrer Schwester liebevoll die Haare aus dem Gesicht. Beide waren durch die Strapazen der Flucht gealtert. Sehnsüchtig dachte Monira an ihr warmes Bett zurück, dass wahrscheinlich nun durch die Bomben zerstört, in der ganzen Stadt verteilt lag. Plötzlich wurden Stimmen im Camp laut. Die angebrochene Nacht und der aufgezogene Nebel schien eine gute Deckung für eine weitere Fuhre überfüllter Gummiboote zu sein, die die Schlepper für horrende Geldmengen an die Flüchtenden verteilten. Nun riefen die Schlepper nach den Insassen, die auf die Boote nach irgendeinem undurchsichtigen System verteilt wurden. Minora versuchte Becca wachzurütteln, aber diese befand sich viel zu tief im Land der Träume, als dass sie durch Minoras Drängen aufwachen würde. Selbst die Bombenabwürfe hatte Becca oft verschlafen, was Minora bewunderte, sie aber auch mit Angst um ihre Schwester erfüllte. Das Stimmengewirr um sie herum wurde lauter. Da hörte sie plötzlich eine jüngere männliche Stimme Beccas Namen rufen. Weiter an ihrer Schwester rüttelnd antwortete Monira an ihrer Stelle. „Hier sind wir! Hier“ Wie aus dem Nichts packten sie zwei kräftige Arme von hinten und zogen sie in Richtung Ufer. Langsam erwachte nun auch Becca. Der Mann brüllte irgendetwas auf Türkisch in ihre Richtung, aber das einzige, das Monira verstand, war „Passport“. Sie zog ihre Reisepässe aus dem Rucksack und gab sie dem Mann, der sie prüfend überflog. Dann gab er ihr Beccas zurück und wies einen anderen an, sie aufs Boot zu befördern. Minora wehrte sich und zeigte auf ihre Schwester, die nun auch wach war. Der Mann schüttelte mit dem Kopf und fletsche seine Zähne zu einem höhnischen Lächeln. Sein Gebiss war gelb und voller Löcher. Er zeigte einen Finger hoch und drehte ihr den Rücken zu. Monira fing an zu schreien, aber der andere Mann zog sie mühelos zum Boot, dass schon komplett gefüllt zu sein schien. Sie wand sich und schlug mit den Fäusten auf seinen muskulösen durchschwitzten Rücken ein, während sie sich immer weiter von ihrer Schwester entfernte. Der Mann warf sie regelrecht ins Boot. Unter ihr hörte sie einen Knochen brechen und ein heller Schmerzensschrei durchschnitt den Nebel. Auch Becca versuchte sich zu ihrer Schwester aufs Boot zu kämpfen. Sie zückte ihr letztes Geld und flehte den Mann an, sie auch mitzunehmen, aber dieser lächelte nur weiter höhnisch. Da sie aber sah, dass dies ihr nicht weiterhalf, trat Becca ihm schnurstracks in die Weichteile und rannte los. Das Boot hatte schon abgelegt und einer der Schlepper-Jungs stakte das Boot weiter ins Mittelmeer. Die Erinnerung an die nächste Szene ließ Minora in ihrem Zimmer aufwimmern. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Geschehnisse wie in einem Film ablaufen. Becca rannte auf das Boot zu und kämpfte sich durch das Wasser. Wie durch ein Wunder wurde sie von den Kugeln der Schlepper verschont, die das Feuer auf die entrissene Zwillingsschwester eröffnet hatten. Aber entweder waren deren Waffen zu ungenau, oder sie wollten das Boot nicht treffen, dass ihren einzigen Vermögensgegenstand darstellte. Minora streckte schon ihre Hand aus, um Becca ins Boot zu helfen, als diese mit einem Knall unter der Wasseroberfläche verschwand. Der junge Schlepper hatte ihr mit dem Paddel hart auf dem Kopf geschlagen. Als Becca wiederauftauchte, rührte sie sich nicht mehr. Minora schrie. Sie versuchte ins Wasser zu springen, um ihre Schwester zu retten, deren Blut aus der Kopfwunde sich mit dem salzigen Meerwasser vermischte. Jedoch wurde sie von ihren Bootsnachbarn festgehalten. In gebrochenem Arabisch erklärte ihr einer, mit dem sie schon länger unterwegs waren, dass dies ihre letzte Chance sei und ihrer Schwester so auch nicht geholfen wäre, wenn sie sich auch erschießen lassen würde. Minora war durch die Strapazen zu schwach, um sich zu wehren. Mit tränenerfülltem Blick sah sie zurück auf den leblosen Körper ihrer Schwester, der auf dem Meer treibend langsam im Nebel verschwand. Sie schrie noch einmal nach Becca, wurde aber direkt von ihren Bootsnachbarn niedergeworfen, die nicht von den Patrouillen entdeckt werden wollten und Minora wurde schwarz vor Augen. Als sie erwachte, war sie am Strand von Lesbos. Da ihr Rucksack anscheinend von jemandem mitgenommen worden war, besaß sie nur noch Beccas Pass, den sie umklammert hielt und ein bisschen Geld, dass sie vorsichtshalber in ihrem Schuh versteckt hatte. Sie schluckte ihre Tränen hinunter und schwor sich nicht zurückzublicken, da dies sicherlich nicht von ihrer Schwester gewollt war. Hinter ihr ging die Sonne auf. Minora, nun Becca, machte sich weiter auf den Weg.

In der Flüchtlingsunterkunft fischte Minora nach dem Handy. Diesmal hielt sie es trotz zitternder Hände fest. Unter näherer Beobachtung sah sie nun auch eine rote Narbe, die in Beccas Haaransatz verschwand. Sie musste diese schreckliche Nacht also überlebt haben. Ein Lächeln verzerrte Minoras verheultes Gesicht. Doch dies erklärte immer noch nicht, warum sich diese Fotos von ihr auf dem Handy befanden. Was wollte dieser Cousin von ihr? Da hatte Minora einen Einfall. Und tatsächlich: Als sie WhatsApp öffnete, sprang ihr sofort Beccas Name ins Auge. Schnell scrollte sie durch die Nachrichten. Anscheinend hatte sich Becca noch ein paar Jahre in der Türkei durchschlagen müssen, bevor sie besagter Cousin gefunden und nach Europa gebracht hatte. Plötzlich fiel Minora etwas ins Auge. Eine einzige Sprachnachricht war relativ am Anfang der Unterhaltung. Nervös, aber glücklich, nach fünf Jahren endlich die Stimme ihrer Schwester wiederzuhören, drückte Minora auf „abspielen“. Eine hasserfüllte weibliche Stimme, die anscheinend einer gerade durch eine Menschenmenge eilender Frau gehören zu schien, schallte aus dem Handy. Es war eindeutig Becca. Aber was sie sagte, erfüllte Minora mit Grauen: „Diese kleine Bitch, wenn ich die erwische, mache ich sie kalt. Genauso, wie sie es mit mir versucht hat. Ich erinnere mich zwar nicht mehr richtig an diesen Abend im Camp, aber bestimmt hat sie mir Schlafmittel oder so gegeben. Ich weiß nur noch, dass die Schlepper mich gerufen haben und sie an meiner Stelle geantwortet hat. Diese HURE! Sie hat meinen Pass mitgenommen und sich als mich ausgegeben, damit SIE und nicht ich auf das Boot kommt. Kannst du dir das vorstellen, Malek? Meine eigene Zwillingsschwester! Ich wäre für sie gestorben! Und ich dachte, sie würde das gleiche für mich tun. Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Wäre diese nette Frau nicht gewesen, die mich ins Krankenhaus gebracht hat, wäre ich bestimmt nicht mehr am Leben, haben mir die Ärzte gesagt. Ich weiß zwar nicht, wer es genau war, der mich niedergeschlagen hat, aber das hat dieses verlogene Miststück bestimmt auch in die Wege geleitet, wenn sie es nicht selbst gewesen ist. Bitte Malek, kannst du sie nicht für mich finden? Ich will wissen, warum sie das getan hat.“ Minora blickte ungläubig auf das Handy. Was hatte sie da gerade gehört? Becca dachte, dass sie schuld an dem ganzen Unglück sei? Das kann doch nicht wahr sein! Ihre Hände hatten aufgehört zu zittern. Sie drückte auf „anrufen“.

3 thoughts on “Die Flucht

  1. Tolle Geschichte mit vielen Details und schönen Formulierungen. Natürlich auch ein spannendes Thema.
    Mir ist das Ende etwas zu offen oder vielleicht überwiegt auch einfach die Neugierde, wie es weitergeht 🙂

    Liebe Grüße,
    Jenny /madame_papilio (Nur ein kleiner Schlüssel)

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