wolfDie Fremde

12:44

 

Es gibt immer mehr als eine Möglichkeit. Gerade eben sind es drei. Du könntest das Handy, das links von dir neben dem Mistkübel liegt nicht wahrnehmen. Aber das wäre unmöglich. Die zweite Möglichkeit wäre es zu ignorieren.

Die dritte Möglichkeit wäre es zu aufzuheben und in die rote Box zu werfen. Wie viele Fundstücke befinden sich dort drinnen? Wie viele ehrliche Menschen gibt es auf dieser Erde? Zu wenige oder zu viele?

Du entscheidest dich für Option Nummer vier. Du hebst das Ding auf und steckst es in deine Tasche. Du entscheidest dich für diese Option, weil du im Grunde ein guter Mensch bist. Was wenn es jemandem gehört, den du kennst? Jemanden hier in der Nachbarschaft? Du kennst nur wenige von ihnen und kaum jemand kennt dich. Deshalb hast du diese Wohngegend ausgewählt. Am Stadtrand und doch in wenigen Minuten im Herzen des Geschehens. Zwischen deinem Haus und dem anderen daneben ist kein Spalt frei. Ein Haus reiht sich an dem anderen, wie wenn man sie mit Superkleber aneinandergefügt hätte. Du wohnst genau in der Mitte.

In der Nähe hörst du, wie sich ein Auto nähert. Du siehst die Blaulichter. Hörst die Sirene. Haben sie dich erwischt? Unmöglich, denkst du. Du hast es nicht gestohlen. Du hast das Handy nur eingesteckt und wirst es zurückgeben. Der Mensch, der es verloren hat, wird dir danken.

Was wenn es in die falschen Hände gerät? Nicht Kriminelle. Eher Menschen, die es nicht so genau mit dem Gesetz nehmen. Leute, die es behalten und neu aufsetzen würden.

Das Polizeiauto fährt auf dich zu. Du zuckst zusammen. Erstarrst. Deine Hand fährt in die Jackentasche, wo das fremde und dein eigenes Handy stecken. Du gehst ein paar Schritte. Versuchst unauffällig zu wirken. An der Kreuzung bleibst du stehen und wartest bei der roten Ampel. Das Polizeiauto bleibt neben dir stehen. Zwei junge Frauen sitzen darinnen. Sie sehen kurz zu dir. Deine Ampel springt auf Grün. Schnell überquerst du die Straße, eilst weiter und näherst dich dem Haus Nummer siebenundzwanzig. Deine Hand zittert, als du den Schlüssel in das Schloss steckst. Die Tür springt auf. Wie ein Tier, das auf der Flucht vor seinem Feind ist, hechtest du in deine Wohnung, schmeißt die Tür zu.

Du atmest kurz durch, dann gehst du zur Routine über. Die nimmst beide Handys aus der Jackentaschen und legst sie auf eine schwebende Konsole im Vorzimmer. Du schaust nicht in den Spiegel. Wenn du wissen willst, wie du aussiehst, kannst du die vielen Fotos, die verteilt im Haus hängen, betrachten. Auf einigen bist du jünger als jetzt. Andere scheinen ein Ich zu zeigen, das es nicht mehr gibt.

Du hängst deinen Mantel auf, gehst in die Küche, nimmst eine Schachtel aus dem Kühlschrank, stellst sie in die Mikrowelle und erwärmst sie. Du bist nicht heikel, was Essen angeht. Du isst das Meiste, das Rosa für dich kocht. Sie hat wieder vergessen, unter der Mikrowelle zu wischen. Du wirst sie morgen daran erinnern.

Rosa ist nicht wie du. Ständig hängt sie an ihrem Handy, anstatt die Arbeit zu erledigen, für die du sie bezahlst.

13:57

 

Seit Minuten ertönt derselbe Ton, um dir anzuzeigen, dass du eine neue Nachricht erhalten hast. Du hast sie gezählt. Sieben Töne für sieben unnötige Nachrichten. Du legst dein Buch zu Seite. Du lässt dir Zeit, betrachtest auf dem Weg vom Wohnzimmer ins Vorzimmer deine Trophäen. Medaillen von verschiedenen Sportveranstaltungen. Auszeichnungen aus der Schule und dem Studium. In nur drei Monaten wird dort ein weiterer Rahmen hängen. Dein Master in Sprachwissenschaften. Wie immer mit Auszeichnung. Weitere Erfolge hast du fotografiert und eingerahmt in der Wohnung verteilt. Dein Blick fällt auf ein Bild deiner alten Schule oder was davon nach dem Brand noch übrig geblieben ist.

Vorzimmer gibt das fremde Handy einen weiteren schrillen Ton von sich. Langsam gehst du dort hin und nimmst es in die Hand. Du entsperrst es. Das Symbol für Textnachrichten in der linken oberen Ecke zeigt neun Nachrichten an. Du musst dich verzählt haben oder du hast den ersten nicht gehört, weil du kurz eingenickt bist.

Auf der schwarzen Oberfläche sind nur wenige Apps zu sehen. Das Handy scheint im Stromsparmodus zu sein. Du gähnst und drückst auf den Touchscreen. Die Nachrichten öffnen sich. Du liest eine nach der anderen bis du unten ankommst.

Was soll das heißen? Wieso hast jemand ein Handy hingelegt, damit du es findest?

Deine Fragen erhalten keine Antworten. Ebenso wenige Antworten gibst du dem Besitzer des Handys.

Die Apps am Bildschirm verschwinden. Du entsperrst das Handy erneut. Du atmest schwer. Das Handy fällt dir aus der Hand und landet auf der Konsole. Wie hast du es gleich beim ersten Mal geschafft, ein fremdes Handy zu entsperren?

Deine Beine werden weich als du auf die App mit den Fotos drückst.

Du siehst dich. Wie du auf der Insel läufst. Wie du aus dem BMW steigst. Du und der Hund einer Freundin, auf den du ein Wochenende aufgepasst hast. Dein Gesicht in Nahaufnahme, damit du sicher sein kannst, dass es sich um dich handelt. Deine schwarzen Haare, als du frisch vom Friseur kamst. Die Sonnenbrille auf deiner Nase. Deine Kleidung. Deine Schuhe. Deine Handtasche.

Alle Fotos wurden in den letzten Wochen aufgenommen. Keines der Fotos sagt etwas aus. Du bist auf keinen von ihnen nackt. Du machst auf keinen von ihnen etwas Falsches. Wer auch immer dir das Handy finden hat lassen, er kann mit diesen Fotos nichts machen.

Du siehst auf das letzte Foto. Deine Hand fährt zu deinem Mund. Du läufst. Du rennst. Du schaffst es noch rechtzeitig, dich über das Klo zu beugen. Galle und dein Mittagessen ergießen sich in die Kloschüssel. Hinter dir hörst du das fremde Handy.

 

 

14:11

 

Das Handy klingelt. Eine unterdrückte Nummer. Dein Daumen schwebt über den zwei Icons. Grün um abzuheben. Rot um aufzulegen.

Du entscheidest dich für Rot.

Der Anrufer gibt nicht auf.

Du nimmst ab. Der Anrufer schreit dir ins Ohr.

»Wie kannst du es wagen, aufzulegen? Ich glaube, dir ist der Ernst der Lage nicht bewusst. Es ist Zeit, dass du mir zuhörst.«

Du legst auf und übergibst dich ein zweites Mal.

In deinem Hirn fahren die Gedanken Achterbahn. Es war eine Frau am anderen Ende der Leitung. Die Stimme kam dir seltsam bekannt vor und doch kannst du sie nicht zuordnen. Tränen, die deine Wange hinunterlaufen, scheinen sich ins Fleisch zu brennen.

Aus dem Vorzimmer hörst du den gewohnten Ton einer eingetroffenen Nachricht. Du willst dich nur mehr ins Bett legen. Dich verkriechen. Eine Nacht darüber schlafen. Das hilft immer.

Im Vorzimmer greifst du zum fremden Handy. Der Briefumschlag als Icon der App scheint unschuldig. Vom ihm ging für dich noch nie eine Gefahr aus. Dir ist sofort klar, was der Anrufer will. Die Leute wollen immer nur das eine von dir. Du bist nicht sicher, ob du es ihr geben wirst. Es ist nur ein Foto. Es beweist nichts. Du öffnest die Nachricht.

Ich verliere langsam die Geduld. Wenn du nicht bald koperirst, werde ich …

Du starrst auf das falsch geschriebene Wort. Denkt sie, sie sei schlau, wenn sie Fremdwörter verwendet? Das falsch geschriebene Wort schmerzt kurz mehr, als das Foto. Dann ist die Erinnerung daran wieder da. Das Foto scheint unschuldig. Es zeigt dich am Tatort. Es zeigt dich nicht, wie du den Benzinkanister über die Lehrertische geleert hast. Es zeigt nicht, wie du das Feuerzeug in die Hand genommen und es fallen gelassen hast. Es ist das harmloseste aller Fotos, die du gemacht hast. Es zeigt dich nicht in der Schule, als du als Sieger vor dem Lehrerzimmer gestanden bist und hinter dir die Flammen um sich schlugen.

Ich KOOPERIERE nicht. Niemals. Nicht mit jemanden, der Wörter falsch schreibt.

Du lachst kurz auf. Da will jemand mit dir spielen. Dann lasst die Spiele beginnen. Du siehst dich als römischer Imperator in der antiken Arena. Dein Feind erscheint in deiner Vision als mickriger Soldat, der gleich um sein Leben kämpfen wird.

Du hältst inne. Wenn sie dieses Foto hat, … nein, unmöglich. Du willst nicht wissen, wie sie an das eine Foto gelangt ist, aber es gibt mehr davon. Fotos, die nicht so unschuldig sind wie dieses. Die dich ins Gefängnis bringen könnten.

Du hältst dich für schlauer als ich? Denkst, du bist besser?

Ja, willst du zurückschreiben, weil es der Wahrheit entspricht. Du bist besser als andere. Nicht das Geld deiner Eltern hat dich dorthin gebracht, wo du jetzt bist. Du alleine hast es geschafft. Eine gewinnbringende Firma aufgebaut, den Moment erkannt und gehandelt. Du sagst nichts. Das ist nicht der Moment deine Überlegenheit zu zeigen. Deine Hand fährt zum Mund. Erfolgreich unterdrückst du den Brechreiz und gehst ins Wohnzimmer zurück.

Als sie anruft, legst du auf. Immer wieder, bis es dir zu blöd ist.

»Ich rede mit niemanden, den ich nicht kenne.« Du legst auf.

 

14:36

 

Sie nennt sich die Fremde. Wie passend. Du sollst zum Fenster gehen, steht weiter dort. Deine Hände fassen den schweren Stoff an. Du lässt die Vorhänge den ganzen Tag zu. Du wagst nur einen kurzen Blick hinaus.

Dort steht sie. In viel zu kleinen Jogginghosen. Einem ausgewaschenen T-Shirt. Einer schwarzen Kappe, aus der dunkelblonde, schlecht gefärbte Haaren heraushängen. Deine Beine geben nach. Dein Körper sackt in sich zusammen.

Du kennst diese Frau. Ihr seid euch heute begegnet. Als du ausgestiegen bist. Du hast sofort gedacht, was sie hier macht. Menschen wie sie passen nicht in diese Gegend.

»Wie viel willst du?« So wie die aussieht, will sie Geld für Drogen. Soll sie doch daran krepieren.

»Ich will dein Geld nicht. Oder besser gesagt, ich will nicht nur dein Geld.«

Du hörst sie atmen. Du kennst diese Stimme. Du hast sie schon mal gehört. Manche Menschen schauen ähnlich aus, manche haben ähnliche Stimmen.

Die Fremde redet weiter. »Ich will dein Leben.«

»Du willst mich töten? Wie willst du das anstellen?« Du fühlst dich sicher hier in deiner Wohnung. Sie scheint keine Waffe zu haben. Jedenfalls siehst du keine.

»Dich töten? Nein, danke. Drei Jahren im Knast haben mir gereicht. Drei Jahre, die ich dir zu verdanken habe. Dir und deinen schmutzigen Lügen. Ich will dein Leben.«

Tina. Sie muss Tina sein. Du hast nie erfahren, ob ihr Name eine Abkürzung für Christina, Bettina oder Martina ist. Du kanntest sie immer nur als Tina. Alle kannten sie unter dem Namen. Du denkst nach. Der Nachname fällt dir nicht ein. Tina Problemina. So hat man sie immer genannt. Wenn etwas in der Schule vorgefallen war, musste niemand lange fragen, wer es war.

»Ich verstehe nicht. Was willst du?«

»Oh, das ist einfach. Ich erkläre es dir Schritt für Schritt. Ich bin mir sicher, du bekommst das hin. Für jemanden, der bald seinen Master macht, sollte das kein Problem sein. Nur dass du ihn nicht machen wirst. Hörst du mir zu?«

»Ja.«

»Du ziehst dich jetzt an und fährst zum Standesamt. Dort wirst du eine Namensänderung veranlassen. Such dir einen schönen Namen aus. Danach packst du deine Sachen und ziehst hier aus. Deine Brieftasche, Kreditkarten, Bankkarten lässt du da. Du schreibst alle Passwörter, Codes für dein Handy, deine Konten und was du sonst noch besitzt auf einen Zettel und legt ihn auf den Küchentisch. Den Schlüssel zu Wohnung legst du in den schönen gelben Postkasten vor deiner Tür. Du lässt diesen offen. Und dann … dann kannst du machen, was du willst. Ich werde du sein und du … egal, das ist nicht mein Problem.«

»Das Standesamt? Es ist fast fünfzehn Uhr. Die haben doch nur vormittags offen.«

»Du irrst dich. Heute ist Donnerstag. Du hast Zeit. Ich habe einen Termin für dich ausgemacht.«

»Du bist doch verrückt.« Du willst deine Worte zurücknehmen. Du weißt, du sitzt am kürzeren der beiden Äste.

»Bevor ich es vergesse. Wenn du auch nur eine Sache, nicht so machst, wie ich es gerade gesagt habe, veröffentliche ich die Fotos.«

Auf deinem Laptop gibt es eine Datei mit dreizehn schönen Bildern. Im Inneren hast du immer gewusst, dass dreizehn nicht deine Glückszahl ist.

 

15:03

 

Niemand hatte es Tina nie zugetraut. Weder die Tötung zweier Menschen, noch den Brand. Man sperrte sie für diese Tat für fünf Jahre weg. Wegen der vielen Vorstrafen, hieß es.

Beim Brand hätte niemand getötet werden sollen. Nicht vorsätzlich. Der gelegte Brand, der im Lehrerzimmer seinen Anfang nahm, beendete das Leben des Hausmeisters und seiner Frau. So etwas hatte Tina noch nie zuvor getan. Diese Masche jetzt ist mehr ihr Ding. Stehlen, Betrügen, andere unter Druck setzen, erpressen.

Die Frau vor dir gibt dir einen Zettel, den du ausfüllen sollst und nennt dir den stolzen Preis.

Du füllst das Formular aus. Ist es deine erste Namensänderung?, wirst du dort gefragt. Ja, es ist das erste Mal. Du hast nicht gedacht, dass es in deinem Leben noch mehr erste Male geben würde. In einem Leben, in dem es bereits so viele erste Mal gab. Erster Schultag. Erster Test. Erster Urlaub. Erster Tod eines Familienmitglieds – es folgten mehr. Erster Kuss. Erstes Mal … daran willst du jetzt nicht denken.

Dein Leben wird weitergehen. Mit oder ohne diesen Namen.

Welcher neue Name soll gewählt werden? Du überlegst kurz. Dir fällt keiner ein.

Wer wählt ohne Grund einen neuen Namen? Obwohl Grund hast du. Mehr als einen. Oben auf dem Formular hast du als Grund »familiäre Gründe« angegeben. Das klingt plausibel. Viele haben Probleme mit ihrer Familie. Dein Problem ist, sie haben dich alle verlassen. Einer nach dem anderen verstarb. Mit fünfzehn hattest du niemanden mehr. Niemanden außer Rosa, die seitdem bei dir wohnt. Sie ist deine einzige Freundin. Jemand den du bezahlst, damit sie nett zu dir ist.

Du gibst etwas in die Suchmaschine deines Handys ein. Namensgenerator für Autoren. Das passt, denkst du. Sind wir nicht alle Autoren unseres eigenen Lebens?

Judith Jost. Der Name gefällt dir. Dir hat schon immer der Buchstabe J gefallen und wenn der Vorname und Nachname mit dem gleichen Buchstaben anfangen, so wie es bei Superhelden oft der Fall ist. Die, die oft keine Eltern mehr haben. Du wärst gerne eine Superheldin. Übermenschliche Kräfte. Stärker, härter, schneller oder was auch immer, anders als die anderen. Es ist nicht so, dass du nicht anders als die anderen wärst, aber noch dazu heldenhaft wäre die Spitze des Berges, den du seit deiner Geburt zu erklimmen versuchst. Einmal wärst du fast zur Heldin geworden. Stattdessen sind zwei Menschen gestorben, die Schule abgebrannt und nie mehr aufgebaut worden.

Du setzt die beiden Namen in das Feld ein, gehst nach oben und bezahlst.

 

17:33

 

Du lässt dir Zeit mit dem Packen. Es fühlt sich nicht nach einem Abschied an, mehr wie ein Urlaub. Der Koffer, den du packst, ist nur klein.

Es klingelt und du hebst ab.

 

17:42

 

»Wie weit bist du?«

Du siehst sie vor dir. Eine junge Tina. Damals war sie schlanker, fast magersüchtig. Jeder wusste, dass ihre Markenkleidung gestohlen war.

»Fast fertig.«

»Gut.«

Deine Hand fährt zur Geldbörse. Die sollst du Tina überlassen. Widerwillig lässt du sie liegen. »Kann ich dich was fragen?« Du hörst Tina ins Telefon atmen.

»Nur wenn du mir zuerst ein paar Fragen beantwortest.«

»Was willst du wissen?«

»Wieso hast du es getan?«

Du überlegst. Es liegt so lange in der Vergangenheit. »Ich … habe immer nur Einsen gehabt. Und dann das. Eine Fünf in Deutsch. Bei der Matura.«

»Deshalb hast du den Brand gelegt?«

Ja, willst du sagen und doch schweigst du kurz. »Du hast keine Beweise.«

»Wie kommst du darauf?«

»Wo hast du das Foto gefunden?« Die Übelkeit kehrt zurück. Das Foto. Es ist im Grunde unscheinbar. Es beweist nichts. Du hast der Polizei gesagt, dass du dort warst. Dass du laufen gewesen bist und die Flammen gesehen hast. Dass du die Feuerwehr gerufen hast und es dir leid tut, dass du die Beiden nicht retten hast können. Man hat dir jede Lüge abgenommen. Selbst als du Tina als Täterin genannt hast. Die anders als du, laufen gewesen war. Die beide retten wollte und die du davon abhalten konntest, weil du wusstest, dass du einen Sündenbock brauchen wirst.

»Im Häfen lernt man interessante Menschen kennen. Ich war erstaunt, was man mit einem alten Laptop alles machen kann. Rache ist so ein schönes Gefühl. Ab heute bin die berühmte Susanne Wittens, die niemand wirklich kennt und so viel Geld, das ich darinnen baden könnte und nicht einen Cent ärmer werden würde.«

»Du hast meinen Laptop gehackt?« Du fragst, obwohl du die Antwort bereits kennst.

»Die ganze Zeit im Knast habe ich überlegt, wie ich es dir heimzahlen kann. Es sollte dich härter als mich treffen. Ich wusste, es musste etwas sein, dass mich nicht wieder in den Häfen bringen würde. Etwas das legal ist. Und ich wusste, was mich nach der Haft erwartet. Dass mich niemand einen Job geben wird. Ohne Abschluss und einem Strafregister, dass drei Seiten lang ist. Nicht mal ich würde mich einstellen.«

Tina hat ihren Abschluss nicht gemacht? Natürlich nicht, sie war ein Jahr unter dir. Ihr wurde die Matura nicht einfach wie allen anderen geschenkt.

»Okay. Nun bin ich dran mit den Fragen. Was wirst du machen? Mit meinem Leben, meine ich.« Dir wird klar, wie ersetzbar du bist. Das jede Aktion seine Gegenseite hat. Du hast immer darauf geachtet, dein soziales Leben geheim zu halten. Es gibt keine Fotos von dir im Netz. Keiner deiner Angestellten kennt dein Gesicht. Wenn man deinen Namen googelt, kommen Frauen, die Susanne Wittens heißen. Keine ähnelt dir.

»Ich werde mich zurückziehen. Du hast so viel Geld, dass ich nie wieder arbeiten muss. Deine Geschäfte werde ich aufgeben. Vielleicht investiere ich in Immobilien.«

Millionen Leben hängen an deiner Arbeit. Du hast zwei Menschen getötet. Du bist davon ausgegangen, alle wären wie du nach der Schule nachhause gegangen. Den Hausmeister kanntest du nur vom Sehen. Du hast ausgeblendet, dass er mit seiner Frau in der Schule lebt. Du hast Buße getan. Du hast eine Firma gegründet, die jedes Jahr Leben rettet. In Afrika. In Lateinamerika. In Asien und überall dort, wo es kein sauberes Wasser gibt. Wenn Tina jetzt alles stilllegt, könnte das den Tod all dieser Menschen bedeuten.

»Du solltest jetzt gehen. Ich bin müde. Ich will mich in meiner neuen Wohnung duschen, in dein Bett legen. Ich hoffe, dein Kühlschrank ist voll. Ich habe Hunger. Ich stehe mir langsam die Beine in den Bauch.«

»Ich habe noch eine letzte Frage. Wie konntest du dir sicher sein, dass ich das Handy finde?«

Du fragst, um Zeit zu gewinnen. Du willst nicht gehen.

»Das war in der Tat schwieriger, als ich gedacht habe. Du warst heute länger als sonst beim Yoga. Du hast mich warten lassen. Dann warst du endlich da und hast geparkt. Ich ließ das Handy fallen. Deine Routine hat mir den Platz dafür einfach gemacht. Wie kann man jeden Tag dasselbe tun? Aussteigen. Abschließen. Zum Mistkübel gehen, den Kaugummi ausspucken, und warten, bis die Ampel auf Grün springt. Die neue Wittens wird anders sein.«

»Okay. Die Wohnung gehört dir.«

»Dein Leben gehört mir.«

»Ja, wie auch immer. Ich habe nur wenig Kleidung mitgenommen. Ich will nicht so viel schleppen. Mach mit dem Rest, was du willst. Wirf es weg oder ergötz dich daran. Eine letzte Frage noch. Wie kann ich sicher sein, dass du dein Wort hältst, dass diese Fotos nie an die Öffentlichkeit kommen?«

»Ab morgen gibt es eine neue Susanne Wittens. Ich will mir doch nicht meine eigene Zukunft versauen.«

Du nimmst den kleinen Koffer und den noch kleineren Stoffsack, ziehst Jacke und Schuhe an und gehst. Du gehst die paar Schritte zum Postkasten und legst den Schlüssel hinein. Wie abgemacht lässt du ihn offen.

Ihr begegnet euch. Ihr nickt euch zu. Auf ihrem Gesicht liegt das Lächeln der Siegerin. Es ist das erste Mal in deinem Leben, dass du es spürst. So muss sich verlieren anfühlen. Es ist kein schönes Gefühl.

 

02:40

 

Du hast lang genug gewartet. Sie muss längst schlafen und wenn nicht, wird es ein bisschen schwieriger.

Du ziehst den Bund mit den Ersatzschlüsseln aus deiner Jackentasche. Du schließt auf und lässt die Tür leise ins Schloss fallen.

In den Stunden davor hast du dir überlegt, wie du es machen wirst. Abstechen ist blutig und eine Matratze ist schwer zu entsorgen.

Gift war um diese Uhrzeit schwer zu bekommen. Und dann wäre noch das Problem gewesen, dass Tina es schlucken hätte müssen.

Sie hat gesagt, sie hat sich im Gefängnis Muskel antrainiert. Lass uns sehen, wer letztendlich stärker ist.

Du nimmst ein Polster von der Couch. Er ist groß genug, für dein Vorhaben. Tina hat alle Türen offen gelassen und so machst du keinen Lärm, als du zu ihr gehst.

Sie liegt auf der Seite. Du wartest. Laut Internet drehen sich Menschen zwischen acht und achtzig Mal in der Nacht. Im ersten Fall kann das eine lange Nacht werden.

Um kurz vor drei dreht sie sich langsam um. Du hebst das Polster über ihren Kopf und drückst es nicht nur schnell, sondern mit all deiner Kraft auf ihr Gesicht. Es ist ein kurzer Kampf. Du hättest mehr Widerstand erwartet.

Du holst die Plane auf dem Schrank. Um Fingerabdrücke, Fasern und ähnliches machst du dir keine Sorgen. Die Donau wird alles abwaschen, was die Spurensicherung finden hätte können.

Du deckst sie ab und erstarrst. Sie ist nackt.

Verärgert ziehst du sie aus deinem Bett. Der Körper landet laut auf dem Boden. Du wickelst sie ein und bindest alles fest.

Du legst sie im Wohnzimmer auf den riesigen Teppich. Ihn zu verlieren schmerzt dich kurz. Wir müssen alle Opfer bringen. Auch jetzt bindest du alles fest.

Morgen wirst du sie entsorgen. Der Rest der Nacht machst du es dir auf dem Sofa gemütlich.

Niemand wird wissen, dass sie da war. Es ist, als ob nichts passiert wäre. Du hast den Antrag in letzter Minute zurückgezogen.

Kurz siehst du das Grab vor dir. Du besuchst es einmal im Jahr. Immer zum Jahrestag der Tragödie. Niemand kann diese zwei Personen wieder lebendig machen. Nicht dein spätes Geständnis und kein Geld der Welt.

Susanne Wittens ist wieder da. Es ist das erste Mal, dass du den Erfolg nicht feierst. Nun gibt es ein weiteres Grab, dass du besuchen wirst müssen. Nach dem Fünf-Kilometer-Lauf wirst du den Tag in deinem Kalender eintragen, damit du ihn nicht vergisst. Es gibt immer mehr als eine Möglichkeit. Diesmal waren es zwei. Gewinnen oder verlieren. Menschen wie du verlieren nicht.

4 thoughts on “Die Fremde

  1. Erste Person, dritte Person – ich glaube, dies ist die erste Geschichte, die komplett in der zweiten Person geschrieben ist. Anfangs gewöhnungsbedürftig aber irgendwie erstaunlich wirkungsvoll, vor allem weil „du“ ja je nach Leser männlich oder weiblich sein kann. Genau das geht gerade in dem Persönlichkeitstausch-Plot nicht, für so manchen Leser wird möglicherweise ein männlicher Protagonist mitten in der Geschichte zu einer Frau. Grundsätzlich gefällt mir Dein knapper „Du-Stil“ allerdings gut, und auch die Grundidee der Geschichte ist gut umgesetzt. Ein paar Formulierungen sind sprachlich etwas holprig, aber das bekommt man leicht überarbeitet. Die einzige inhaltliche Anmerkung ist, dass eine Namensänderung extrem aufwändig ist und wohl nur in besonderen Fällen genehmigt werden wird. Meist braucht es dazu Gutachten, psychologische oder gerichtliche. Mit einem Termin am Standesamt ist das nicht getan – auch wenn der Antrag zurückgezogen wurde. Das hat aber der Freude am Lesen und dem „Ich will wissen, wie es weiter geht“ keinen Abbruch getan ☺️

    1. PS: Ich musste „Häfen“ erstmal googlen (kurzzeitig war ich irritiert, warum sie jetzt plötzlich mit Schifffahrt zu tun hatte 🙈😅) – scheint sich um einen Österreichischen Begriff zu handeln, der mir in dem Kontext noch nie untergekommen war. Matura schon, aber „der Häfen“ war mir neu. Kommt das von Haft? Jedenfalls habe ich wieder etwas gelernt.

  2. Liebe Monaline! Zuerst danke, dass du dir Zeit genommen hast, meine Geschichte zu lesen. Woher Häfen genau kommt, weiss ich nicht, aber ja wahrscheinlich von Haft. Es war das 1. Mal, dass ich die Du-Perspektive eingenommen habe. Ich wollte das, schon immer mal ausprobieren. Für einen ganzen Roman war es mir bis jetzt immer zu “gefährlich”.

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