BiankaBDie fremde Schwester

Kapitel 1

Die Flure der Schule waren wie ausgestorben, als Elvira Carter am Freitagnachmittag wieder einmal als letzte das Lehrerzimmer verließ. Ihre Kollegen waren schon vor Stunden in ihr heiß ersehntes Wochenende geflohen, während sie jede Minute hinausgezögert hatte.
Die Absätze ihrer hohen schwarzen Schuhe klapperten unnatürlich laut auf dem mausgrauen Linoleumboden, der jeden einzelnen Raum in diesem Gebäude mit seiner Tristheit schmückte. Ein einsamer Reinigungswagen vor der Tür zum Chemiesaal war der einzige Beweis, dass das Team der Reinigungsfirma noch nicht durch war.
Elvira steuerte die gläserne Doppeltür an, die hinaus auf den Hof führte. Kaltnasse Novemberluft schlug ihr entgegen und sie klappte den Kragen ihres schwarzen Mantels hoch. Es nieselte bereits seit dem Morgen. Die Dunkelheit war noch nicht vollständig über die Stadt hereingebrochen. Ein schmaler Streifen grauen Tageslichts hielt sich hartnäckig am Horizont, doch bald würde auch er der Nacht zum Opfer fallen. Der Wind wirbelte die feuchten Blätter des gewaltigen Ahorns vor sich her, verteilte sie zwischen Bänken, Klettergerüsten und Mülleimern. Eine besonders kräftige Böe erfasste Elvira frontal und raubte ihr für den Bruchteil einer Sekunde den Atem. Mit eingezogenen Schultern und gesenktem Kopf eilte sie hinüber zum Lehrerparkplatz, kramte den Schlüssel ihres Wagens aus der Tasche und atmete erleichtert auf, als sie schließlich die Fahrertür zuziehen konnte. Sie warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel. Was sie sah, war eine Frau mit müden Augen, hohen Wangenknochen und schmalen Lippen, die zu selten lächelten. Früher war das anders gewesen. Sie hatte viel gelacht. Hastig schüttelte sie den Kopf. Ihr schulterlanges blondes Haar wirkte matt, die sanften Wellen ausgehangen und vom Nieselregen geplättet.
Seufzend startete sie den Motor, fuhr vom Parkplatz und fädelte sich in den Verkehr ein. Das Radio blieb wie immer stumm. Die dreißigminütige Fahrt bis zu ihrem kleinen Haus am Stadtrand nutzte sie, um sich Gedanken über das Wochenende zu machen. Planung war in ihren Augen das halbe Leben. Sie brauchte sorgfältige Organisation. Vor allem am Wochenende, wenn die Einsamkeit sie einmal mehr zu ersticken drohte.
Der Bewegungsmelder über der dunkelbraun lackierten Haustür reagierte, sobald sie das Gartentor passiert hatte und das warme Licht einer Lampe flammte auf. Die Treppe war nass und mit Blättern bedeckt. Über den Rest des Gartens wollte sie gar nicht erst nachdenken. Sie schloss die Tür auf, trat in den Flur und schlüpfte aus ihren High Heels. Der nächste Gang führte sie in ihr Arbeitszimmer, wo sie die Tasche abstellte, ehe sie sich ihres klammen Mantels entledigte. Es war 16:49 Uhr.
Exakt fünf Minuten später ließ sie sich mit einem zu einem Drittel gefüllten Weinglas auf das grau melierte Sofa sinken und griff nach ihrem angefangenen Buch. Die Lektüre war eintönig, doch für Elvira genau das richtige, um nicht Nachdenken zu müssen. Denn Erinnerungen konnten grausamer sein als jeder körperliche Schmerz. Unwillkürlich begann es an ihrem rechten Oberarm zu jucken. Sie biss die Zähne zusammen und widerstand dem Drang, sich zu kratzen nur mit Mühe. Es gab Tage, an denen ihre Willenskraft stärker war und Tage, an denen sie aufgab. Dann spürte sie die wulstige Narbe unter ihren Fingern. An besonders schlechten Tagen hörte sie die Schreie in ihrem Kopf.
Wenn sie tagsüber in der Schule war, konnte sie abschalten. Die pubertierenden Jugendlichen, das andauernde Geschnatter ihrer Kollegen sowie die Lehrerkonferenzen lenkten sie ab. Es war laut, es war hektisch und es war lebendig. Elvira liebte ihre Arbeit und sie verabscheute Wochenenden wie diese. Allein in diesem Haus voller Stille. Gästen würde sicherlich auffallen, dass es so gut wie keine persönlichen Dinge gab. Keine Fotos an den Wänden, keine Figuren, die auf den Regalen verstaubten, keine Malereien, Puzzles oder Postkarten. Aber sie hatte nie Besuch. Keine Freunde, keine Liebschaften. Wenn ihre Kollegen sie zum Ausgehen animieren wollten, dachte sie sich Ausreden aus. Inzwischen fragte kaum jemand mehr.
Elvira stellte ihr Weinglas auf den gläsernen Wohnzimmertisch und massierte sich die Schläfe. Sie wusste, wie widersinnig sich all das anhörte, würde sie es jemandem erzählen, aber das tat sie nicht.
Von ihren Schülern hatte sie den Spitznamen Miss Perfect bekommen. Es störte sie nicht im Geringesten. Sie unterrichtete Mathematik und dieses Fach ließ keinen Platz für Interpretationen. Sie war eine klar strukturierte und eindeutige Wissenschaft. Entweder ein Ergebnis war richtig oder es war falsch. In der Geometrie war Vollkommenheit sowieso unerlässlich und der goldene Schnitt galt nicht umsonst als ein Synonym für perfekte, symmetrische Schönheit.
Als sie merkte, dass sie denselben Satz bereits zum fünften Mal anfing zu lesen, legte sie das Buch beiseite und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. An der Terrassentür blieb sie hängen und kniff die Augen zusammen. Der Riegel stand nicht komplett senkrecht. Die abweichenden Zentimeter störten sie. Während sie aufstand, um den Griff in seine ursprüngliche Position zu bringen, fragte sie sich, wie es sein konnte, dass er schief war. Sie hatte den Garten durch diese Tür seit Wochen nicht betreten.
Prüfend schaute sie aus dem Fenster, doch draußen herrschte nichts als Dunkelheit. Alles was sie sah, war ihr eigenes Spiegelbild. Vollkommen grundlos rann ihr plötzlich ein kalter Schauer über den Rücken. Rasch wandte sie sich ab und lief ins Arbeitszimmer. Aus der Tasche holte sie ihr Handy hervor, schaltete es ein und wartete, bis das Display das ihr vertraute Hintergrundbild anzeigte: eine sonnengeflutete Waldlichtung. Sie strich über den Touchscreen und stockte. Normalerweise war ihr Handy durch einen PIN geschützt, doch nun blickte sie bereits auf den Home-Bildschirm.
Stirnrunzelnd musterte sie das Telefon. Es waren eindeutig ihr Modell und ihre Hülle. Abgegriffen und verblasst. Und dennoch hatte sie das Gefühl, ein völlig fremdes Gerät in der Hand zu halten. Ihr Herz pochte heftig, als sie zur Seite wischte. Wo waren ihre Apps? Einzig und allein die Galerie prangte in der Mitte des Displays. Irgendetwas lief hier gerade furchtbar schief. Dennoch tippte sie das Galerie-Symbol an. Es gab nur einen Ordner beschriftet mit ihrem Namen. Ihre Finger zitterten kaum merklich, als sie diesen öffnete. Fotos. Dutzende Fotos sprangen ihr entgegen. Und alle zeigten nur eine Person. Sie selbst.

Kapitel 2

Unfähig sich zu rühren, starrte Elvira die Bilder an. In ihren Ohren rauschte das Blut. Sie im Supermarkt um die Ecke. Sie auf dem Parkplatz der Schule. Sie an ihrem Briefkasten. Aber das war nicht alles.
„Oh mein Gott.“
Von einem plötzlichen Schwindel ergriffen, sank sie auf ihren Schreibtischstuhl und rang nach Luft. Einige Fotos zeigten sie im Wohnzimmer beim Lesen, in der Küche beim Kochen und genau hier an diesem Tisch bei der Unterrichtsvorbereitung.
Ihr Blick schnellte zum Fenster, ihr Nacken kribbelte unheilvoll und die Narbe an ihrem Arm begann erneut zu jucken. Jemand hatte sie beobachtet. Regelrecht verfolgt. Sie ließ das Handy auf den Schreibtisch fallen, hastete von Zimmer zu Zimmer und schloss die Jalousien. Ihr Herz raste. An der Haustür kontrollierte sie dreimal, ob sie wirklich abgeschlossen hatte.
Fahrig strich sie sich mit beiden Händen durch die Haare und versuchte krampfhaft, ihre aufsteigende Panik unter Kontrolle zu bekommen. Nachdenken. Sie musste nachdenken. Und dazu benötigte sie einen kühlen Kopf. Minutenlang konzentrierte sie sich auf ihren Atem. Holte bewusst tief Luft und atmete durch den Mund wieder aus. Es half. Wenn auch nur bedingt. Schließlich konnte sie sich dazu durchringen, zurück ins Arbeitszimmer zu gehen. Der Bildschirm des Handys war dunkel geworden. Einigermaßen gefasst besah sie sich die Fotos erneut. Sie erinnerte sich nicht an alle Situationen, waren es ja nur Sekunden in ihrem Alltag gewesen, die sie regelmäßig durchlebte. Doch die meisten Bilder konnte sie zuordnen. Das älteste Foto war vor knapp drei Wochen aufgenommen worden. Wie war dieses Handy in ihre Tasche gelangt? Inzwischen war sie sich nämlich absolut sicher, dass das Ding nicht ihr gehörte. Sie ließ ihre Tasche niemals unbeaufsichtigt stehen. In der Schule hatte jede Lehrkraft ein Schließfach im Lehrerzimmer. Es war unmöglich dort heranzukommen. Es sei denn … Sie hielt inne. Der Gedanke, dass einer ihrer Kollegen dafür verantwortlich sein konnte, bescherte ihr eine Gänsehaut. Sollte das etwa ein dämlicher Scherz sein? Wut machte sich in ihr breit und vertrieb den ersten Schreck aus ihren Adern.
Plötzlich aber vibrierte das Handy in ihrer Hand und sie zuckte zusammen. Eine SMS von einer unterdrückten Nummer.
„Reiß dich zusammen, Elvira“, murmelte sie zu sich selbst, tippte das Briefsymbol an und öffnete die SMS.

Kapitel 3

Ein einziges Foto. Kein Text, nichts. Dennoch verfehlte es seine Wirkung nicht.
Ihr entsetzter Aufschrei zerschnitt die Stille wie ein Messer, das weiche Butter teilte. Das Handy glitt aus ihren Fingern und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Teppich.
Elvira Carter stolperte zurück als würde der Abstand sie vergessen lassen, was sie gerade gesehen hatte. Übelkeit trieb ihr die Galle in die Kehle und sie schlug sich eine Hand vor den Mund. Ihre Füße trugen sie wie von selbst in das kleine Badezimmer, ehe sie ihr Mittagessen über der Toilette erbrach.
Zitternd spülte sie sich den Mund aus, verschluckte sich und ein Hustenanfall schüttelte ihren Körper. Der saure Geschmack auf ihrer Zunge blieb. Nicht in der Lage, aufzustehen, sackte sie mit dem Rücken gegen die geflieste Wand und schlang die Arme um die Knie.
Das konnte kein Scherz sein. Nur ein Wahnsinniger würde so etwas witzig finden. Dieses Foto hatte sie selbst bloß ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Zu diesem Zeitpunkt vor sieben Jahren war sie nicht sie selbst gewesen, aber es hatte sie aus ihrer Taubheit gerissen und ihr auf grausame Weise vor Augen geführt, dass es ihre Schuld gewesen war. In ihrem Kopf war alles wieder da. Die Schreie, die Schüsse, das Blut. Jede schützende Mauer, die sie um die Erinnerungen aufgebaut hatte, stürzte donnernd in sich zusammen und setzte eine Flut an Gefühlen frei, die ihr Herz zerriss.
Ihre Schuld.
Es war alles ihre Schuld gewesen.
Sie hatte geglaubt, das richtige zu tun, sich geirrt und ihren Fehler mit dem höchsten Preis bezahlt, den es gab. Mit dem Leben ihrer Tochter. Mit Lenias Leben. Sie wollte weinen, doch die Tränen blieben aus.
So verging Stunde um Stunde, in denen sie auf dem kalten Boden des Badezimmers kauerte und zurück in das dunkle Loch fiel, das sie schon einmal gefangen gehalten hatte.
Irgendwann gelang es ihr, aufzustehen und die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer zu stolpern. Ohne sich umzuziehen, die Zähne zu putzen oder gar duschen zu gehen, sank sie auf das Bett, doch an Schlaf war nicht zu denken. Sobald ihr die Augen zufielen, sah sie wieder das angstverzerrte Gesicht ihrer Tochter und hörte den Schuss, der ihr Leben unwiderruflich beendet hatte. Wer auch immer ihr dieses Handy zugespielt hatte, wusste genau, was vor sieben Jahren geschehen war.
Die Digitaluhr auf ihrem Nachttisch zeigte 00:39 Uhr.

Der Samstag wurde Elviras persönliche Hölle. Nach dem Aufstehen bemerkte sie das penetrante Blinken ihres falschen Handys und öffnete entgegen aller Vernunft die fünf neuen SMS. In jeder befand sie ein weiteres dieser schrecklichen Fotos, deren Anblick ihr Herz mit schmerzvollen Stichen traktierte. Ihre Finger zitterten, als sie das Gerät ausschaltete und von sich schob.
Zwanghaft versuchte sie, das Gesehene zu verdrängen, versuchte zu lesen, ließ sich ein heißes Bad zur Entspannung ein, doch nichts half. Der Gedanke, dass der- oder diejenige, der ihr dieses Teufelsding zugespielt hatte, vielleicht um ihr Haus schlich, verstärkte ihre Furcht nur noch mehr. Die Jalousien rührte sie nicht an. Für ein paar Sekunden spielte sie sogar mit dem Gedanken, die Polizei zu rufen, verwarf ihn aber gleich wieder. Sie hatte das Vertrauen in jene Beamten vor sieben Jahren verloren.
Mittags versuchte sie es mit Kochen. Die Nudeln verkochten, die Soße brannte an und ihr Magen rebellierte bereits vom Geruch der passierten Tomaten. Gereizt warf sie das Essen in den Abfall und legte sich wieder ins Bett. Diesmal siegte die Müdigkeit gegen ihre finsteren Gedanken.
Irgendwann am frühen Abend schreckte sie aus einem Albtraum auf. Die Decke hatte sich um ihre Beine gewickelt, ihr Haar klebte schweißnass im Nacken und sie konnte ihr Herz hämmern hören. Schwer atmend starrte sie in die Dunkelheit.
Vergessen. Sie wollte doch nur vergessen.
Verzweifelt wälzte sie sich umher, fürchtete sich davor, die Augen erneut zu schließen und lag wach bis das Schwarz der Nacht dem Grau des Tages wich.
Übermüdet und gerädert, quälte sie sich aus dem Bett. Sie fühlte sich regelrecht krank. Selbst eine halbe Stunde unter der heißen Dusche bewirkte bloß, dass ihre Haut rot und schrumpelig wurde.
Ihr Blick fiel in den halb von Dampf beschlagenen Spiegel. Der Anblick ihres fahlen Gesichts, den dunklen Schatten unter ihren Augen und dem verbitterten Zug um ihren Mund erschreckte sie zutiefst. So konnte sie morgen nicht auf der Arbeit erscheinen. Ihre Kollegen würden Fragen stellen, die sie nicht beantworten wollte.
Noch in ihr Handtuch gewickelt, tappte sie ins Arbeitszimmer und griff nach dem Festnetztelefon.
„Wagner?“, meldete sich ihr Vorgesetzter und Direktor des Beethoven-Gymnasiums nach dem dritten Klingeln. Seine angenehm raue Stimme beruhigte sie für den Bruchteil einer Sekunde und sie atmete tief durch. Sie musste gefasst klingen.
„Elvira Carter hier.“
„Was verschafft mir die Ehre Ihres Anrufs an einem Sonntagvormittag?“ Sie konnte förmlich sehen, wie er lächelte und schluckte. Plötzlich verspürte sie das dringende Bedürfnis, ihm zu erzählen, was geschehen war. In seiner Nähe passierte es öfter, dass sie sich ruhiger fühlte, gelassener. Er hatte etwas an sich, dass es ihr leicht machte, ihm Vertrauen zu schenken. Und das lag nicht nur an seinen dunklen Augen, die immer einen Funken Wärme in sich zu tragen schienen, wenn er sie ansah.
„Elvira? Sind Sie noch dran?“
Sie merkte, dass sie zu lange geschwiegen hatte und räusperte sich.
„Verzeihung. Ich … ich wollte mich für morgen krank melden.“
„Es ist doch nichts Schlimmes?“
„Nein, nein“, wiegelte sie hastig ab. „Nur eine kleine Magenverstimmung.“
„Es gibt wohl doch für alles ein erstes Mal.“
„Wie?“ Verwirrt runzelte sie die Stirn.
„Sie sind in den sechs Jahren, die Sie nun schon hier unterrichten, nicht ein einziges Mal krank gewesen“, erklärte er.
„Ach wirklich?“
„Ja.“ Er verstummte. Elvira spürte, dass er noch etwas sagen wollte, doch sie würgte ihn ab.
„Ich muss auflegen. Es hat gerade an der Tür geklingelt.“
„Wenn das so ist … Gute Besserung.“
„Danke.“ Fahrig legte sie auf. Sie fühlte sich wirklich elendig. Ihn anzulügen, war ihr alles andere als leicht gefallen, doch die Wahrheit hätte sie niemals über die Lippen gebracht.

Am Montagmorgen war sie so übermüdet, dass ihr ständig schwindelig wurde. Nicht einmal eine Tasse extra starken Kaffees half gegen ihre Erschöpfung. Irgendwo in den Tiefen ihres Verstandes wusste sie, dass sie etwas unternehmen musste. Sie musste mit jemandem reden, sonst würde sie sich selbst kaputt machen. Noch mehr als sie es sowieso schon war. Die Polizei kam nicht in Frage, obwohl es sicherlich die vernünftigste Entscheidung wäre.
Mit einer Hand gegen die Wand gestützt, schleppte sie sich ins Arbeitszimmer. Das teuflische Handy würdigte sie keines Blickes. Stattdessen griff sie nach ihrem Festnetztelefon und wählte die Nummer des Direktorats ihrer Schule. Immer wieder verschwammen die Tasten vor ihren Augen, der stechende Kopfschmerz hinter ihren Schläfen schwoll zu einem unerträglichen Ziehen an. Sie benötigte vier Versuche, um die Nummer richtig einzugeben. Bereits nach dem ersten Klingeln wurde abgenommen.
„Regina Graf, Direktorat Beethoven-Gymnasium, was kann ich für Sie tun?“
Die immer etwas zu schrille Stimme von Alessandro Wagners Sekretärin fuhr Elvira wie ein Messerstich ins Gehirn und sie stöhnte auf.
„Hallo?“
„Regina, Elvira Carter hier“, presste sie hervor.
„Ach, Elvira, Herr Wagner sagte, Sie wären heute krankgeschrieben. Sie klingen aber wirklich nicht gut. Was gibt es denn?“
Elvira sammelte jedes Quäntchen Energie, das sie noch besaß, um ihren nächsten Satz zu formulieren.
„Ich muss mit Herrn Wagner sprechen. Es ist dringend.“
„Sie wissen schon, wie spät es ist.“ Eine Feststellung, keine Frage.
„Nein, ich …“
„Meine Liebe, es ist kurz vor acht. Herr Wagner steht seit einer guten halben Stunde in der 10a und versucht, diesen Halbstarken die Eigenschaften eines magnetischen Felds beizubringen.“
„Regina, bitte. Es … es ist ein Notfall.“ Elvira schloss die Augen, um dem andauernden Schwindelgefühl zu entrinnen. Ihre Finger krallten sich förmlich um das Telefon. Für ein paar Sekunden blieb es still, dann hörte sie die Sekretärin resigniert seufzen.
„Na schön. Ich hole ihn. Aber nur, weil Sie es sind. Bleiben Sie dran.“
„Danke“, hauchte Elvira erleichtert. Dennoch spürte sie den Knoten in ihrem Magen überdeutlich. Die Minuten verstrichen unendlich langsam, ehe am anderen Ende wieder Geräusche ertönten.
„Elvira?“
„Ja.“
„Wie geht es Ihnen? Regina meinte, es sei ein Notfall.“ Sie konnte die ehrliche Besorgnis in seiner Stimme vernehmen und plötzlich stiegen ihr die Tränen in die Augen.
„Es … es ist etwas passiert und ich kann einfach nicht mehr“, brach es aus ihr heraus. Erstickt schluchzte sie auf.
„Mein Gott, Elvira. Gibt es irgendjemanden, der zu Ihnen kommen kann? Irgendjemand, damit Sie nicht allein sind.“
„Nein …“
„Sagen Sie mir, was ich tun kann, bitte.“
Zu einer Antwort kam sie nicht, denn ein Schatten fiel von hinten auf die Tischplatte. Sie wandte sich um, der Schrei blieb in ihrer Kehle stecken, denn ein stechender Schmerz explodierte in ihrem Kopf, grelle Lichtflecken tanzten vor ihren Augen, dann spürte sie gar nichts mehr.

Kapitel 4

Schatten.
Tanzende Schatten waren das erste, das Elvira wahrnahm, als sie zu sich kam. Ihr Schädel dröhnte und ihr war übel. Stöhnend hob sie den Kopf, wollte sich hinlegen, doch es ging nicht. Etwas schnitt ihr in die Handgelenke. Es dauerte, ehe sie realisierte, was. Kabelbinder. Sie war an ihren Bettpfosten gefesselt worden und saß auf dem Boden des Schlafzimmers. Die tanzenden Schatten wurden verursacht von blasser Novembersonne und Herbstwind, der die wenigen verbliebenen Blätter des Apfelbaums vor ihrem Fenster schüttelte.
„Sie sind wach, endlich.“
Die fremde Stimme gehörte einer Frau. Mühsam folgte Elvira dem Klang und erblickte ihre Peinigerin auf dem Lesesessel in der Ecke neben dem Fenster. Sie hatte die Beine übereinander geschlagen, in ihren Fingern blitzte die Klinge eines langen, dünnen Messers.
„Wer sind Sie?“, flüsterte Elvira, zu sehr von Schmerz und Müdigkeit vereinnahmt, als dass sie hätte Angst empfinden können. „Was wollen Sie?“
„Was ich will, ist einfach. Ich möchte meinen Bruder rächen. Sie sind schließlich diejenige, die ihn umgebracht hat. Nicht wahr, Elvira? Oder sollte ich besser Elena sagen?“
Die Worte der Fremden ergaben einen Sinn, doch Elvira begriff dennoch nicht.
„Bruder? Wovon reden Sie?“
Gemächlich erhob die Frau sich, schlenderte auf Elvira zu und ging vor ihr in die Hocke. Nun konnte sie ihr Gesicht erkennen. Scharfkantig und spitz. Die Stirn von Falten durchzogen, hellbraunes Haar, das zu einem losen Zopf gebunden war. Sie war jünger als Elvira. Vielleicht fünf Jahre.
„Ich rede von Jonathan. Jonathan Roy. Klingelt es?“
Jonathan …
Erinnerungsfetzen wirbelten durch ihren Kopf. Braune Haare im Ton von Karamell. Ein einnehmendes Lachen. Ein Ich liebe dich, Elena. Die Bank. Ein Schuss. Lenias sterbender Blick. Ihre Schreie. Ein weiterer Schuss. Blut, so viel Blut.
Elvira rang nach Luft.
„Sie erinnern sich. Gut.“ Die Fremde lächelte schmal. Ihre dunklen Augen waren voller Abscheu und Kälte.
„Hören Sie gut zu. Ich werde Ihnen jetzt eine Geschichte erzählen.“ Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken und wanderte vor Elvira auf und ab. „Im Juni vor sieben Jahren ereignete sich in der Bankfiliale einer Kleinstadt ein Überfall mit Geiselnahme. Die Verbrecher forderten die Handys jeder Geisel. Eine Frau aber log und behielt ihres. Sie wurde erwischt. Man nahm ihre Tochter als zusätzliche Versicherung. Die Verbrecher drohten, sie zu erschießen, sollte irgendjemand noch einmal wagen, sich ihnen zu widersetzen. Kurz bevor die Polizei die Bank stürmte, gingen den Männern die Nerven durch und sie töteten das kleine Mädchen. Die Frau schrie, während ihr Mann sie zu beruhigen versuchte. Die Geiselnehmer richteten ihre Waffen nun auf sie, doch die Frau hörte nicht auf zu schreien. Wieder wurde geschossen. Ihr Mann warf sich vor sie und starb noch am Tatort, während sie mit einem Streifschuss am rechten Oberarm davonkam. Die Verbrecher wurden verhaftet und verurteilt, während die Frau sich das gesamte Vermögen ihres Mannes auszahlen ließ und ihrem Heimatort den Rücken kehrte.“
Die Stimme der Frau verklang unheilvoll. Elvira würgte und kämpfte gegen den Drang, sich übergeben zu müssen.
„Diese Frau sind Sie“, fuhr die Fremde fort. „War es nicht so? Sie haben die Heldin gespielt und damit das Leben meiner Nichte sowie meines Bruders beendet.“
„Jonathan hatte keine Schwester“, war alles, was Elvira über die Lippen bekam. „Er war Waisenkind.“
„Das war er nicht. Ich bin seine Schwester. Und Sie haben meine Familie auf dem Gewissen. Kam doch ganz gelegen dieser Banküberfall. Wie ich sehe, konnten Sie das Vermögen meines Bruders in ein  hübsches Haus umwandeln und sich dann ein schönes Leben machen.“ Verachtung troff aus jeder Pore ihres Körpers.
„Hören Sie auf“, hauchte Elvira entkräftet. „Ich würde jedes Geld der Welt hergeben, um Jonathan und Lenia zurückzubekommen.“
Die Fremde setzte zu einer Erwiderung an, doch da erschallte die Haustürklingel. Elvira zuckte zusammen.
„Wer ist das?“, zischte die Frau. „Erwarten Sie etwa Besuch?“
„Ich weiß nicht.“ Hilflos schüttelte Elvira den Kopf, nur um in der nächsten Sekunde vor Schmerz aufzustöhnen. Schwärze rahmte ihr Blickfeld ein und sie sehnte sich nach der dunklen Umarmung einer Ohnmacht, die sie von all dem hier befreien würde.
Wieder klingelte es. Länger und ungeduldiger.
„Halten Sie ja den Mund“, warnte die Frau. Ihre Finger umklammerten den Griff des Messers so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Sie schien sichtlich angespannt. Hoffte, dass der ungebetene Gast aufgeben und verschwinden würde.
Es klingelte zum Dritten Mal.
„Hau ab, verdammt“, zischte die Fremde.
Nach dem vierten Klingeln wurde es still und der winzige Funken Hoffnung auf Hilfe in Elvira erlosch.
„Na endlich. Und nun zu Ihnen.“ Die Stimme der Frau nahm einen bedrohlichen Ton an.
Elvira aber hatte keine Kraft mehr. Seufzend ergab sie sich der Schwärze, die ihr Bewusstsein ganz langsam ausknipste.

Kapitel 5

„Wachen Sie auf.“
Elvira stöhnte. Ihre Glieder fühlten sich schwer wie Blei an. Jemand rüttelte ihre Schultern und langsam löste die Dunkelheit ihre Klauen von ihr.
„So ist gut.“ Wieder diese Stimme. Rau und tief.
Blinzelnd schlug Elvira die Augen auf. Sie kannte das Gesicht, das über ihr schwebte. Schwarze Haare, die an den Schläfen bereits silbern wurden, dunkelbraune Augen voller Wärme, ein kantiger Kiefer mit Bartschatten.
„Herr Wagner …“, murmelte Elvira benommen.
„Ja, ich bin es. Alles in Ordnung. Die Polizei ist da. Sie sind in Sicherheit. Können Sie aufstehen? Ich habe ihre Fesseln gelöst.“
Elvira nickte, obwohl sie nicht glaubte, dass ihre Beine sie auch nur einen Meter weit tragen würden.
„Vorsichtig, kommen Sie“, murmelte Alessandro Wagner, legte seinen Arm um ihre Taille und zog sie behutsam auf die Füße. Ohne seine Hilfe wäre sie sicherlich einfach wieder zu Boden gesunken. Vor ihren Augen flimmerte es. Jetzt, da der Schock von ihr abfiel, begann sie am ganzen Körper zu zittern.
Er brachte sie aus dem Haus, wo eine Polizistin ihr sofort eine Decke um die Schultern legte.
„Der Rettungswagen ist in ein paar Minuten da.“
Sie nickte erschöpft, fragte sich, wie er sie gefunden hatte.
Ein paar Meter weiter wurde die fremde Frau, die sich als Schwester ihres verstorbenen Ehemannes ausgegeben hatte, von einem Beamten in einen Streifenwagen gesetzt. Ihre Blicke trafen sich.
In der Ferne ertönte der Glockenklang einer Kirche.

Am Freitag begleitete Alessandro Wagner sie zu ihrem Termin auf dem Polizeipräsidium. Nach ihrem kurzen Krankenhausaufenthalt und viel Schlaf fühlte sie sich beinahe wieder wie ein Mensch. Sie hatte das Schloss ihrer Haustür austauschen lassen, das Handy mit den schrecklichen Bildern war von der Polizei als Beweismittel mitgenommen worden und sie hatte beschlossen, sich psychologisch behandeln zu lassen, um das Trauma vom Tod ihrer Familie endlich bewältigen zu können.
Nachdem ihre Aussage zu Protokoll genommen worden war, klärte der zuständige Beamte sie darüber auf, dass die fremde Frau ein umfangreiches Geständnis abgelegt hatte.
„Ihr Name ist Carol Roy und sie ist tatsächlich die jüngere Schwester von Jonathan Roy. Ihre Mutter verstarb vor vier Monaten an Krebs und beichtete ihrer Tochter im Sterbebett, dass sie einen Bruder hat. Mona Roy war gerade einmal siebzehn Jahre alt, als sie mit Jonathan schwanger wurde. Sie kam mit der Verantwortung nicht klar und gab ihn nach der Geburt zur Adoption frei. Carol machte sich daraufhin auf die Suche nach Jonathan. Aufgrund ihrer Tätigkeit als Journalistin und ihren Kontakten zur hiesigen Polizei bekam sie heraus, wo ihr Bruder gelebt hatte und dass er vor sieben Jahren bei einer Geiselnahme ums Leben kam. Sie befragte seine Nachbarn und Bewohner des Dorfes, die kein gutes Haar an Ihnen ließen, Elvira. Noch immer in Trauer um ihre Mutter schürte jede weitere Information über Sie einen unsäglichen Wunsch nach Rache in ihr.“
„Und sie hat mich gefunden.“
„Sie beobachtete Sie, fotografierte Sie und schlich sich immer tiefer in Ihr Leben ohne, dass Sie etwas bemerkten. Ihren Kollegen Daniel Kleemann benutzte sie, um an Ihr Schließfach in der Schule zu gelangen, Ihren Hausschlüssel nachzumachen und letztendlich das Handy auszutauschen. Die Fotos von den Leichen Ihres Mannes sowie Ihrer Tochter, die sie Ihnen schickte, hatte sie sich unter einem Vorwand von einem Kollegen, der damals den Fall bearbeitet hatte, aushändigen lassen.“
Elvira schluckte schwer. Sie bezweifelte, diese Bilder jemals wieder aus dem Gedächtnis gelöscht zu bekommen. Der Beamte musterte sie mitfühlend, ehe er fortfuhr.
„Herrn Wagner haben Sie es zu verdanken, dass wir rechtzeitig vor Ort waren und Schlimmeres verhindern konnten. Nach ihrem abgebrochenen Anruf in der Schule machte er sich Sorgen, fuhr zu Ihnen nach Hause und klingelte. Als niemand öffnete, rief er uns an.“ Elvira nickte. Ihr Vorgesetzter hatte ihr seine Version der Geschichte bereits im Krankenhaus erzählt und sie war unendlich dankbar, dass er sie so gut zu kennen schien, um ihren Anruf nicht einfach als hysterischen Anfall abzutun.
„Was wird jetzt aus Carol Roy werden?“, fragte sie. Der Polizist seufzte.
„Sie wird ein Verfahren wegen Stalking, Diebstahl, Körperverletzung und Einbruch bekommen. Dass sie gestanden hat und kooperativ ist, wird ihr sicherlich zugutekommen.“
Ein paar Minuten später verabschiedete sie sich und trat hinaus auf die Straße. Alessandro Wagner lehnte an seinem Auto und lächelte, als er sie erblickte.
Elvira atmete tief durch, ehe sie das Lächeln erwiderte. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlte es sich nicht gezwungen oder steif an. Vielleicht würde sie bald wieder so viel lächeln können wie früher. Aber sie würde nichts überstürzen. Für den Anfang genügte ihr dieses eine Lächeln vollkommen, denn es war echt …

Schmunzelnd schlug ich das Buch zu und streckte mich ausgiebig. Die Leselampe neben mir war die einzige Lichtquelle in meinem kleinen Schlafzimmer. Vor den Fenstern herrschte finsterste Nacht. Im Haus war es still. Meine Eltern schienen noch immer nicht gekommen zu sein.
Als plötzlich das Klingeln eines Handys ertönte, schrak ich zusammen. Mein Blick zuckte zum Display meines Smartphones. Es war schwarz.
Wieder klingelte es. Ich lauschte mit pochendem Herzen der eigenartigen Melodie. Außer dem Festnetzanschluss existierten keine weiteren Telefone in diesem Haushalt. Ich hatte diesen Klingelton noch nie gehört …  

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