AndreasLDie Kolonie der Gescheiterten

Das, was die baufällige Bungalowsiedlung im südlichen Teil von Hayward, im Bundesstaat Wisconsin, von anderen unterschied, war nicht nur ihr maroder Zustand – die meisten Häuser sahen aus, als würden sie den nächsten Herbststurm nicht überstehen – sondern vor allem der Gestank.

Sobald man von der Towne View Rd in die Aspen Ln einbog, war es, als würde man in eine andere, fremde Welt eintauchen. Ab hier stank es buchstäblich nach Scheiße, denn die Kanalisation der Kolonie der Gescheiterten, wie sie von den übrigen Bewohnern Haywards genannt wurde, endete in einem großen Rohr am Ufer des Spring Lake, der sich keine fünfzig Meter von den Häusern entfernt befand. Und da in Hayward ständig ein leichter Südwest-Wind wehte, wurde der Gestank, den 86 Seelen verursachten, genau dorthin zurückbefördert, wo er hergekommen war.

In einem der Bungalows – es war die Hausnummer 13 – saß ein großer, viel zu dünner Mann an seinem Küchentisch und starrte auf das i-Phone, das er vor gut drei Stunden bei seiner morgendlichen Suche nach Leergut auf einer Parkbank gefunden hatte.

Harold Bannerman hatte lange vor dem herrenlosen Gerät gestanden, das dort auf dem Holz lag, so als würde es nur darauf warten, von ihm mitgenommen zu werden. Nachdem er sich mehrere Minuten lang vergewissert hatte, dass niemand in der Nähe war, dem der Verlust seines Handys auffallen würde, hatte er es, schon beinahe ehrfürchtig, an sich genommen und in seiner Manteltasche verschwinden lassen.

Trotz der sommerlichen Temperaturen trug Harold stets einen dicken Mantel, da sein Körper ständig fror. Harold hatte noch nie eine Fettschicht besessen, die ihn wärmte. Schon als Kind lachten ihn die anderen Kinder aus, weil er im Hochsommer mit langen Hosen und einer Jacke über dem Pulli herumlief.

Harold kannte sich mit den neuartigen Smartphones nicht aus – sein letztes Handy war ein Nokia 6210 gewesen – weshalb er rauf zu Tonys An- und Verkauf gegangen war, um vielleicht ein paar Dollar für das Ding abzustauben. Tony kaufte alles, selbst Hehlerware, wobei er dort allerdings einen gewaltigen Sicherheitsabschlag einbehielt.

Als Tony Harold dann ohne Umschweife direkt fünfzig Dollar anbot, hatte Harold dankend abgelehnt. Tony war ein Schlitzohr und Harold ging ab diesem Moment davon aus, dass das gefundene Handy mit Sicherheit das Dreifache wert war. Wenn nicht sogar noch mehr.

Jetzt saß er hier an seinem Küchentisch und fluchte, weil er das Scheißding nicht zum Laufen bringen konnte. Er zog seinen Mantel wieder über, steckte das Handy ein und verließ das Haus.

Den Gestank, der ihn augenblicklich einhüllte, registrierte er nicht mehr. Als er vor drei Jahren hierhergezogen war, hatte er sich mehrmals übergeben müssen. Harold hatte eine feine Nase, was Gerüche anbelangte, und er hatte Sarah, seine Frau, verflucht, dass sie ihn wegen dieses Kerls hatte sitzen lassen. Harold hatte daraufhin mit dem Trinken angefangen, einfach so, um diesen verdammten Trennungsschmerz loszuwerden. Das einzige hingegen, was er losgeworden war, war sein Job als Filialleiter im hiesigen Walmart. Dann war alles ganz schnell gegangen: kein Job, ausstehende Mietzahlungen, Wohnungskündigung. Und da Hayward keine Obdachlosen duldete, waren in den Achtzigern diese Bungalows entstanden. Eine Kolonie für gescheiterte Existenzen, die durch städtische und kirchliche Gelder finanziert wurde.

Harold erreichte das Haus mit der Nummer 19 und hämmerte mit der flachen Hand gegen die Tür.

Eine dicke Frau mit zerzaustem Haar, eingehüllt in einem speckigen Bademantel, öffnete wenig später.

„Scheiße, Harold“, krächzte sie blinzelnd. „Was willst du mitten in der Nacht?“

Harold zog das Handy aus der Tasche. „Es ist gleich Mittag.“ Er hielt es der Frau entgegen. „Kannst du mir sagen, was das wert ist?“

Dicke Wurstfinger griffen nach dem Gerät. „Is dat 11er.“

„Und was ist es wert?“

Die Dicke schob die Unterlippe vor. „Kommt auf`n Speicher an. Neu so um die achthundert Dollar, würd ich sagen.“

„Ich wusste es“, brummte Harold. „Kannst du es anschalten?“

Die Frau drückte ein paar Tasten. „Scheint leer zu sein. Wenn du reinkommst, lad ich es dir auf.“

Harold wiederstrebte es zwar, die Wohnung zu betreten, aber er wollte unbedingt wissen, was sich auf dem Handy befand. Vielleicht war es dem Besitzer ja noch mehr wert, als der eigentliche Marktpreis. Er grinste. Klar, wenn er seine Olle nackt fotografiert hatte. Oder sogar die heimliche Geliebte …

Mit einem Lächeln im Gesicht, betrat Harold den schummrigen Flur und zog die Tür ins Schloss.

* * *

„Der kennt dich“, hauchte Louise. Ihr Mundgeruch war unbeschreiblich und Harold wünschte sich nichts sehnlicher, als die Wohnung der Frau zu verlassen. Während sie auf das Laden des Akkus gewartet hatten, hatte Louise ihm einen lauwarmen Kaffee angeboten. Er war vom Vortag und sie hatte ihn in der Mikrowelle aufgewärmt.

Wie durch Zufall hatte sich dabei ständig ihr Bademantel ein wenig geöffnet, sodass Harold mal die Bauchfalte sehen konnte, die sich über ihre nackte Scham wölbte, ein anderes Mal einen Teil der hängenden Brust. Er hatte nicht darauf reagiert.

Nun betrachtete er die Bilder, die auf dem Display erschienen. Es waren keine von irgendwelchen nackten Frauen, wie Harold es sich erhofft hatte, sondern ausschließlich Ablichtungen von ihm persönlich.

Auf einem wühlte er in einem Mülleimer im Park, auf einem anderen verließ er mit mürrischem Blick seinen Bungalow.

Das allein wäre schon merkwürdig und leicht beängstigend gewesen, doch dann kamen Bilder, die Harold in seiner Wohnung zeigten: Harold in Unterwäsche vor dem Fernseher. Harold mit heruntergelassener Hose auf der Toilettenschüssel. Harold beim Onanieren im Bett. Bei letzterem Foto drehte er das Handy so, dass Louise nichts mehr sehen konnte.

„Hast ´n schönen Schwanz“, sagte sie dennoch. „Wenn du willst, dass ich das mal übernehme, musste nur Bescheid sagen.“

Harold stand auf und ging zur Tür, als sie ihren Bademantel komplett öffnete.

„Danke fürs Aufladen“, sagte er und verließ das Haus. Der Gestank hier draußen war eine Wohltat.

* * *

Wieder zuhause stellte Harold fest, dass der Ordner für Fotos mehrere Unterordner enthielt, von denen einer tatsächlich mit „Tod“ betitelt war.

Alle bisher gesichteten Ordner enthielten ausschließlich Fotos von Harold in allen erdenklichen Lebenslagen.

In dem Ordner „Vergangene Tage“ befanden sich Bilder aus jener Zeit, in der er noch mit Sarah verheiratet gewesen war. Ein besonders schönes zeigte sie und ihn, wie sie sich an der Haustür mit einem Kuss verabschiedeten. Harold trug seine Weste mit dem Walmart-Emblem über seinem Mantel, denn er war damals mächtig stolz auf seine Position in dem Unternehmen gewesen.

Ein gewaltiger Kloß entstand in seinem Hals, als er Sarahs Lippen betrachtete, die die seinen berührten. Er hatte diese regelmäßigen Abschiedsküsse geliebt, obwohl sie irgendwann zu einem selbstverständlichen Ritual geworden waren. Und dann war der Tag gekommen, an dem Harold früher von der Arbeit heim kam, weil er seine Kopfschmerzen nicht losgeworden war.

Es war der Tag, an dem er Sarah mit diesem Typen erwischte. Jener Tag, nach dem es keine Abschiedsküsse mehr gab.

Harolds Finger schwebte über dem Tod-Ordner. Zum ersten Mal stellte er sich die Frage, wer diese Fotos überhaupt gemacht haben könnte. Es musste jemand gewesen sein, den er kannte. Wie sonst hätten die intimen Bilder entstehen können? Aber niemand besaß einen Schlüssel zu seinem Bungalow.

Du schließt die Tür doch eh nie ab!

Er musste seiner inneren Stimme Recht geben. Hier in der Kolonie der Gescheiterten gab es nichts zu holen. Die Kriminalitätsrate diesbezüglich tendierte gen Null. Jeder war nur froh, irgendwie den Tag zu überstehen.

Also hätten alle hier hereinkommen und die Fotos schießen können.

Öffne den Ordner!

Noch immer verweilte sein Finger über dem Display. Ein leichtes Zittern hatte bereits eingesetzt. Hätte Harold nicht vor einem Jahr das Trinken an den Nagel gehängt, hätte er es auf den Entzug geschoben.

Los, klick schon drauf!

Er spürte den Schweiß, der in seinem Nacken entstand und in den dicken Pulli sickerte.

Tod.

Wer, zum Teufel, nannte einen dämlichen Ordner so?

Selbstverständlich ein Irrer. Jemand, der heimlich dein Haus betritt und dich beim Wichsen und Scheißen fotografiert!

Harold berührte das Display, als im selben Moment ein surrendes Vibrieren ertönte und ihn zurückschrecken ließ.

Sein Herzschlag pochte bis hinauf in die Schläfen. Surrend bewegte sich das Telefon über die Tischplatte, die das Geräusch derart verstärkte, dass Harold das Gefühl hatte, jeder in der Siedlung müsste es hören.

Unbekannter Anruf blinkte bei jedem Surren auf.

Harold nahm das Handy und berührte das grüne Hörer-Symbol.

„Hallo, Mister Bannerman“, erklang eine freudige Stimme am anderen Ende. „Wie ich sehe, haben Sie meine kleine Aufmerksamkeit gefunden.“

Harold räusperte sich. „Wer sind Sie?“ Seine Stimme klang winzig. So verdammt weit weg.

„Das tut im Moment noch nichts zur Sache, Mister Bannerman. Betrachten Sie mich einfach als den geheimnisvollen Fremden an Ihrer Seite.“

„Sie … Sie sind in meine Wohnung eingebrochen. Ich könnte Sie anzeigen.“

„Das wollen Sie doch gar nicht. Dafür ist Ihre Neugierde viel zu groß, habe ich Recht? Was Sie wollen, ist herausfinden, was hinter den Fotos steckt. Unterbrechen Sie mich ruhig, wenn ich falsch liege.“

Harold sagte nichts. Wie gerne würde er jetzt einen Schluck trinken. Einfach eine Flasche Hochprozentigen ansetzten und auf ex leeren. Oh ja, das wäre toll. Diesmal zitterten seine Finger vor Sehnsucht.

„Haben Sie sich inzwischen alle Fotos angesehen, Mister Bannerman?“

„Fast alle“, murmelte Harold.

„Hm, ich verstehe. Sie sollten auch den letzten Ordner studieren. Ich werde Sie in einer Stunde erneut kontaktieren. Auf Wiederhören, Mister Bannerman.“ Die Verbindung wurde beendet.

Harold nahm das Telefon vom Ohr und starrte es an. Noch immer zeigte das Display den geschlossenen Ordner mit dem seltsamen Namen an. Hatte Harold ihn doch nicht berührt?

Mit zitternden Fingern tat er es.

Sie sollten auch den letzten Ordner studieren!

Eine Aneinanderreihung kleiner Fotovorschauen erschien. Harolds Daumen scrollte nach unten und die winzigen Bilder rasten über das Display. Es waren unendlich viele, die aber scheinbar alle von derselben Handlung geschossen worden waren.

Harold erkannte Blut. Sehr viel Blut.

 

 

Kapitel 2

 Drei Jahre früher

Detective Marc Grizzard wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich werde mich wohl nie an diese Scheiße gewöhnen“, sagte er zu seinem Kollegen, dessen Namen er immer vergaß.

Dieser war ebenfalls hinter das Absperrband getreten und starrte auf die kleine, nackte Mädchenleiche. „Scheint schon länger hier zu liegen.“ Er verscheuchte mehrere Fliegen, die um seinen Kopf herumschwirrten. Der Verwesungsgestank war kaum zu ertragen. „Warum waren die Tiere noch nicht dran?“, fragte er Grizzard. „Ich kann keine Bissspuren entdecken.“

Der Detective zuckte mit den Schultern. Er ging auf einen Mann von der Spurensicherung zu, der neben dem Leichnam hockte und mit behandschuhten Fingern den Arm des Mädchens untersuchte.

„Haben Sie schon etwas entdeckt?“

Der Mann blickte auf. „Hier sind Einstiche von einer Nadel.“ Er deutete auf die Armbeuge. „Ansonsten nur, dass die Kleine vergewaltigt wurde, was ja unübersehbar ist.“ Er deutete auf das Blut zwischen den Beinen des Mädchens. „Die Todesursache lässt sich nicht ohne weiteres erkennen. Keine äußeren Verletzungsmerkmale.“ Er drehte den Körper auf die Seite. „Hier hinten auch nicht.“

Detective Grizzard bedankte sich und ging zurück zu seinem namenlosen Kollegen. Dieser war erst vor zwei Wochen nach Hayward gekommen; hatte zuvor irgendwo im Police Department von Reno gearbeitet. Als was genau, hatte Grizzard ebenfalls vergessen.

„Ich werde es den Eltern mitteilen“, sagte Grizzard. Das Gefühl, das dabei in ihm entstand, war jedes Mal dasselbe. Eine Mischung aus Trauer und einer bahnbrechenden Übelkeit. In solchen Momenten hasste er seinen Job. Und diesmal war es sogar noch schlimmer.

„Du weißt, wer das ist?“ Detective Namenlos sah ihn erstaunt an.

„Die kleine Bannerman. Wird seit dreizehn Tagen vermisst.“

„Scheiße.“

„Ja.“

* * *

Grizzard ging zu seinem Wagen. Er dachte an Sarah Bannerman, der er gestern noch gesagt hatte, dass die Polizei ihre Tochter bald gefunden haben würde. Lebend. Er hatte ihr einen Kuss auf die Wange gegeben und sich angezogen, während Sarah sich das Bettlacken um den nackten Körper geschlungen hatte. „Ich hoffe es so sehr“, hatte sie gesagt.

Grizzard startete den Motor und verließ den Tatort. Er hoffte, dass er Sarah allein zuhause antreffen würde. Ihrem dürren Ehemann, mit dem ständig irrem Blick, wollte er nicht unbedingt begegnen. Grizzard hatte immer das Gefühl, der Kerl würde ihm das Verhältnis zu seiner Frau schon von Weitem ansehen.

Obwohl, war es überhaupt noch ein Verhältnis? Er und Sarah führten inzwischen seit über einem Jahr eine Beziehung und sie hatte ihm oft gesagt, wie sehr sie ihn liebte und dass sie sich von ihrem Mann trennen würde. Sie wollte gemeinsam mit der kleinen Sue zu Grizzard ziehen und dort ein neues Leben beginnen. Ein Leben ohne ihren ständig eifersüchtigen Ehemann, der sie behandelte, wie eine Leibeigene.

Und jetzt darfst du ihr die Nachricht von Sues Tod überbringen. Herzlichen Glückwunsch!

Grizzard schüttelte sich. Würde dieses Ereignis Sarah und ihren Mann wieder näher zueinander bringen? Tief in sich drin hoffte er, dass dem nicht so sein würde.

Er blickte auf seine Uhr. Eine halbe Stunde Fahrzeit lag vor ihm. Nur eine halbe Stunde.

 * * *

Sarah Bannerman krallte sich in seinen Rücken und weinte leise gegen seine Brust.

Detective Grizzard verstärkte seine Umarmung und sog den Apfelduft ihres Haarshampoos in seine Nase.

„Es tut mir so schrecklich leid“, flüsterte er.

Sie blickte ihn aus tränenverschmierten Augen an. „Weiß man schon … wie?“

Er schüttelte den Kopf. Noch hatte er ihr keine Einzelheiten erzählt, hatte lediglich gesagt, dass Sue tot aufgefunden wurde.

„Willst du deinen Mann verständigen?“

Ihre Traurigkeit wich Entsetzen. „Sue war ihm immer egal. Wusstest du, dass er einen Vaterschaftstest angeordnet hat, nachdem sie auf der Welt war? Ich habe ihm gesagt, dass er ihn haben kann, wenn er ihn wolle, ich ihn danach aber verlassen würde. Er hat dann drauf verzichtet und gesagt, dass er mir vertraut. Aber ich glaube, dass hat er nie getan. Er hat immer daran gezweifelt, dass Sue seine Tochter ist.“ Wieder liefen ihr die Tränen hinunter. „Mich würde es nicht wundern, wenn er …“

Sie riss sich von Grizzard los, stürmte zum Bad und übergab sich in die Toilette.

Als wenig später sein Handy klingelte, war Grizzard froh, für einen kurzen Moment der Situation entfliehen zu können.

„Ja?“

„Hier spricht Dave McNelly.“

Ja genau! So hieß sein neuer Kollege. Jetzt fiel es ihm wieder ein. „Gibt es was Neues?“

„Der Doc sagt, die Kleine ist an einer Überdosis gestorben.“

„Überdosis?“

„Ja, Heroin.“

Grizzard trat ans Fenster. Aus dem Bad heraus hörte er den Wasserhahn. „Sue Bannerman ist sechs Jahre alt“, zischte er leise ins Telefon.

„Ich weiß“, antwortete McNelly. „Der Doc vermutet auch, dass sie schon tot war, bevor sie vergewaltigt wurde. Aber das kann er noch nicht mit Sicherheit bestätigen.“

„Okay. Danke für den Zwischenbericht.“ Grizzard beendete die Verbindung.

Als er sich umdrehte, stand Sarah im Türrahmen und sah ihn an.

„Kannst du es mir später erzählen?“, fragte sie leise. „Ich möchte es noch nicht wissen.“

Grizzard ging auf sie zu und nahm sie in den Arm. Er konnte sie verstehen.

„Können wir so tun, als sei nichts geschehen?“ Sie nahm seine Hand und zog ihn sanft in Richtung des Schlafzimmers.

Grizzard ließ es zu.

 * * *

Der gemeinsame Orgasmus katapultierte sie in eine weit entfernte Welt. In eine Welt ohne eifersüchtige Ehemänner. Eine Welt ohne tote Kinder. Ohne Drogen und ohne Vergewaltigungen.

Es war eine heile, eine vollkommene Welt.

Bis zu dem schmerzhaften Schlag auf den Hinterkopf, der Grizzard ins Dunkle beförderte.

 * * *

Das Erwachen war grausam. Es glich dem Eintauchen in einen Pool aus Schmerzen. Und je tiefer Grizzard hinabtauchte, umso größer wurde der Druck, der seinen Kopf zu zerquetschen drohte.

Er versuchte, ruhig zu atmen, kämpfte mit einer kurzen, aufkeimenden Übelkeit und stellte erleichtert fest, dass der Druck langsam nachließ.

Irgendwann vergrößerte sich sein Blickfeld und er nahm eine verschwommene Gestalt wahr, die vor ihm saß. Als die Sicht klarer wurde, erkannte er Sarahs, die ihn aus großen Augen heraus ungläubig anstarrte. War es Angst, die in ihnen stand? Oder gar Panik?

Als Grizzard das Klebeband entdeckte, dass ihren Mund verschloss, wusste er, dass er mit seiner Vermutung richtig gelegen hatte.

Er versuchte, einen Arm zu heben, doch war das nicht möglich. Seine Arme waren, ebenfalls mit Klebeband, an den Lehnen eines Stuhls gefesselt. Seinen Beinen waren mit den Stuhlbeinen verbunden. Lediglich seinen Kopf konnte Grizzard bewegen. Sarah saß in der gleichen Misere auf einem Stuhl ihm gegenüber. Ihre Knie berührten sich sogar. Grizzard stellte fest, dass auch sein Mund zugeklebt war. Sarah und er waren nackt.

Schlurfende Schritte ertönten wenig später hinter seinem Rücken. Ein unterdrücktes Aufstoßen.

Ohne den Verursacher zu sehen, wusste Grizzard, dass es sich um Sarahs Ehemann handeln musste. Ein beißender Schweißgeruch hing in der Luft.

Harold Bannerman trat um den Stuhl herum. Sein Gesicht war starr. Völlig emotionslos.

Grizzard erkannte eine aufgezogene Spritze zwischen den dürren und viel zu langen Fingern des Mannes. Sarah schrie gegen das Klebeband an.

Auch Grizzard versuchte noch einmal erfolglos, sich zu befreien. Als Bannerman jedoch die Spritze in die Armbeuge des Detectivs drückte, gab er es auf.

Es dauerte nicht lange, bis alles um ihn herum verschwamm, nur um Sekunden später wieder klar und grell zu werden. Ein Glöckchen ertönte sanft und erinnerte ihn an den frühen Weihnachtsmorgen, als er noch ein Kind war und gebannt auf den Weihnachtsmann gewartet hatte. Unscharf. Das Glöckchen wurde zum Schallen einer Kirchenglocke. Viel zu laut. Dröhnend.

Etwas Warmes benetzte in sein Gesicht. Es roch gut. Grizzard versuchte, die herablaufenden Tropfen mit der Zunge zu erwischen und musste lachen, weil es ihm nicht gelang.

Bannerman hatte ihm den Klebestreifen vom Mund genommen. Es war ein tolles Gefühl, wieder lachen zu können. Wenn er doch nur diese Tropfen erreichen würde.

Er sah Sarahs Lachen. Weit und rot. Trotz Klebeband. Ihres befand sich seltsamerweise noch vor ihrem Mund. Und dennoch lachte sie. Es sah lustig aus, weil ihr Mund viel zu tief war. Viel zu rot. Viel zu nass.

 

 

Kapitel 3

Jetzt

 Harold starrte auf das erste Foto aus dem Tod-Ordner. Starrte auf das Blut, das überall zu sein schien.

Sein dünner Daumen fuhr über das Display.

Das nächste Bild zeigte Sarah. Sie war nackt an einem Stuhl gefesselt. Ihre wunderschönen Brüste waren blutverschmiert. Der Kopf war viel zu weit nach hinten gestreckt. Ihr starrer Blick zur Zimmerdecke gerichtet. Die gewaltige, klaffende Halswunde glich dem weit aufgerissenen Maul eines Köters, der gerade ein Tier gerissen hatte.

Auf dem nächsten Foto befand sich ein nackter Mann. Er war ebenfalls an einen Stuhl gefesselt und lachte. Die Blutspritzer auf seinem Gesicht wirkten wie zerlaufene Sommersprossen.

Harold wollte keine Bilder mehr sehen. Keine weiteren Fotos, auf denen Menschen mit aufgeschnittener Kehle zu sehen waren, während andere sich scheinbar darüber amüsierten! Er umschlang das iPhone mit seinen langen Fingern und schleuderte es in eine Ecke des Zimmers.

Das Foto von Sarahs aufgeschnittenem Hals war noch immer vor seinen Augen. Er drückte die Fäuste auf die Lider, doch es hatte sich auf seiner Netzhaut eingebrannt, wie ein Brandzeichen auf dem Arsch eines Bullen.

Harold schlug seinen Kopf auf die Tischplatte, spürte sogar, wie die Haut auf der Stirn dabei aufplatzte. Er grub die Finger ins Haar und riss daran. Er wollte diese verdammten Erinnerungen nicht in seinem Schädel haben, wollte sie hinauszerren mitsamt allem, was sich darin befand. Sie sollten nie wieder seine Gedanken verseuchen.

Er schrie und sabberte, so dass sich unter seinem Mund eine schleimige Pfütze bildete. Noch einmal schlug er seinen Kopf auf das Holz.

Irgendwann später verwandelten sich seine Schreie in abgehacktes Wimmern, das langsam in ein hemmungsloses Weinen überging.

 * * *

Dreiundfünfzig Minuten später klopfte es an der Haustür.

Harold war vor Erschöpfung mit dem Kopf auf der Tischplatte eingeschlafen. Inzwischen waren das Blut auf seiner Stirn und der Speichel unter seinen Lippen getrocknet.

Für einen kurzen Moment wusste er nicht, wo genau er sich befand. Sein Kopf dröhnte und das Klopfen an der Tür hörte sich wie weit entfernter Donnerhall an.

Warum kam der Idiot nicht einfach rein?

„Ist offen!“, brüllte Harold, was das Schädelwummern noch verstärkte. Die Tür hingegen wurde nicht geöffnet. Stattdessen klopfte es erneut.

Fluchend erhob sich Harold vom Küchenstuhl und ging zur Tür.

Als er sie aufriss – bereit, dem Störenfried ein paar passende Worte entgegenzuschmettern – starrte er in den Lauf einer Pistole, der blitzartig gegen seine Oberlippe gedrückt wurde.

„Los rein, Vogelscheuche!“

Harold wich zurück. Der Eindringling folgte ihm und schlug die Tür ins Schloss.

„Hinsetzen!“, befahl er. Harold gehorchte.

Der Mann mit dem grauen, ungepflegten Vollbart setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Er stützte die Unterarme auf und legte die Glock auf die Platte.

Gar nicht mal so weit weg, dachte Harold. Ob der Kerl will, dass ich danach greife?

Sein Gegenüber verschränkte nun auch noch die Arme vor der Brust. „Denk nicht mal darüber nach“, sagte er, ohne den Blick von Harolds Augen zu lassen.

Harold spürte den Schweiß, der aus sämtlichen seiner Poren zu schießen schien. Eigentlich schwitzte Harold nie, doch heute war irgendwie alles anders. „Sind … sind Sie der Mann vom Telefon?“

Der Fremde grinste. Er kam Harold bekannt vor.

„Du erinnerst dich nicht, habe ich Recht?“

Woher kannte er den Kerl?

„Was wollen Sie von mir?“, fragte Harold. Er versuchte, seiner Stimme etwas mehr Volumen zu verleihen, was ihm aber nicht gelang.

„Hast du dir die Bilder angesehen? Alle?“

Harold wollte nicht an diese Fotos denken. Sie waren widerlich. Und falsch. Sarah hatte ihn verlassen. Mehr nicht. Wegen eines Kerls verlassen.

Aber vielleicht hatte man sie später ermordet? Vielleicht hatte es sogar ihr verdammter Liebhaber getan.

Er saß gefesselt auf einem Stuhl, du Trottel!

Ja, das hatte Harold vergessen.

Der Fremde grinste.

„Ist … ist meine Frau tot?“, fragte Harold leise.

„Warum hast du dir die Fotos nicht angesehen?“

„Ich habe sie mir angesehen“, brüllte Harold und erschrak über die Lautstärke seiner Stimme. „Sie sind widerlich. Sie zeigen den Mord an Sarah!“

„Warum fragst du dann, ob sie tot ist?“

Harold ließ den Blick sinken.

„Sie zeigen aber nicht nur den Tod deiner Frau, sondern auch den Mord an deiner Tochter.“

Harold zuckte zurück. „Ich … ich habe keine Tochter.“

Der Fremde beugte sich vor. „Du hattest eine! Du hattest eine, bevor du sie vergewaltigt und ermordet hast.“

Harold spürte das Zittern seiner Unterlippe. Er wollte es verhindern und biss mit den Zähnen darauf, bis er Blut schmeckte. „Das … das ist nicht wahr.“ Sein Gegenüber war eindeutig verrückt. Was hatte dieser Irre vor?

Der Fremde nahm die Waffe, stand auf und ging zur hinteren Wand, wo er das Handy aufhob. Dann kam er zurück.

„Ich will das nicht sehen!“, sagte Harold schnell.

Der Mann setzte sich. „Die haben mir damals nicht geglaubt, weil ich während der Tat unter Drogeneinfluss stand. Deshalb hat dein Anwalt dich freibekommen. Ich wurde danach vom Dienst suspendiert. Cops und Drogen, das passt nicht zusammen. Zumindest dann nicht, wenn sie sich in ein und demselben Körper befinden. Erinnerst du dich immer noch nicht?“

Das Zittern der Unterlippe hörte auf. „Sie … Sie sind der Liebhaber meiner Frau“, keuchte Harold.

„Du hättest mich damals ebenfalls umbringen sollen, Bannerman. Aber dir hat es ja gefallen, mich high zu machen und mich zusehen zu lassen, als du sie umgebracht hast.“

Harold schüttelte den Kopf. „Ich habe niemanden umgebracht!“ Wieder diese viel zu laute Stimme.

Der ehemalige Detective schlug das Handy auf den Tisch. Harold wandte den Blick ab.

„Sieh es dir an!“, fauchte Grizzard. „Sieh da hin!“

Harold hatte die Lider fest aufeinander gepresst, als er das Spannen des Hahns hörte.

„Sieh dir das Foto an oder ich jage dir alle fünf Sekunde ´ne Kugel in den Körper. Und glaube mir, du wirst an keiner einzigen sterben. Aber du wirst einen Schmerz kennenlernen, der dich wünschen lässt, du wärst tot. Also sieh dir das Bild an!“

Langsam öffnete Harold die Augen und bewegte den Kopf in Richtung des Tisches. Was sollte schon auf dem Bild sein? Harold hatte sich definitiv nichts zuschulden kommen lassen.

Dann sieh doch hin, Feigling, lachte seine innere Stimme.

Das Foto zeigte Harold. Harolds nackten, knochigen Körper, der auf etwas lag, das ebenfalls nackt zu sein schien. Ein kleiner Arm lugte unter seinen Rippen, die sich deutlich unter der Haut abzeichneten, hervor. Ein dünnes Bein neben seiner Hüfte. Unnatürlich zur Seite gestreckt. Harolds Grinsen in die Kamera.

Das Grinsen eines Irren!

Grizzard wischte über das Display. Beim nächsten Foto stieg Harold das Frühstück empor. Er konnte gerade noch seinen Kopf senken und in seinen Schoß kotzten.

„Das ist die Vergewaltigung deiner Tochter, Bannerman. Sie war zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt.“

Harold keuchte. „Die Bilder sind nicht echt. Das sind Fälschungen.“ Er würgte erneut, hörte Kinderweinen ganz tief in seinem Kopf. Ein Flehen: Bitte nicht, Dad.

„Und du hast ihr die Spritze erst danach gesetzt!“ Grizzards Stimme war eiskalt. „Sieh dir das nächste Foto an!“

Harold gehorchte. Es zeigte ihn, wie er Sarahs Kopf nach hinten drückte, sodass die Halswunde soweit gedehnt wurde, dass der Knochen der Wirbelsäule zwischen den Fleischfetzen zu erkennen war. Und genau wie zuvor bei dem Vergewaltigungsfoto, grinste er auch hier in die Kamera.

Harold sah in Grizzards Augen, die keinerlei Regungen zeigten. „Wenn die Bilder echt sind, warum haben Sie sie nicht der Polizei gegeben?“

„Du weißt, dass sie echt sind“, sagte Grizzard nur.

Wieder schüttelte Harold den Kopf.

Er riecht plötzlich Sarahs Parfum. Er riecht die Scheiße, die aus ihr herausläuft, als er das Messer durch ihr Fleisch gleiten lässt. Alles stinkt nach Exkrementen. Der Gestank ist überall! Auch Sue hat sich entleert. Bitte nicht, Dad. Alles stinkt so gewaltig.

„Was wollen Sie von mir?“, wimmerte Harold.

„Ich will, dass du dich erinnerst, Mister Bannerman. Ich will, dass die Erinnerungen dich auffressen. Ich will, dass du ihre Stimmen auf ewig hören wirst. Jede Nacht! Und jeden gottverdammten Tag! Du sollst ihr Leid spüren. Ihre Angst. Jede gottverdammte Sekunde deines Lebens, sollen sie zu dir sprechen und dich anflehen, es nicht zu tun.“

„Nein.“ Harold legt seine dünnen Finger auf den Arm des Detectivs. „Bitte tun Sie das nicht. Ich will sie nicht hören. Und …“ Er sprang von seinem Stuhl auf. „ich will sie nicht riechen!“

Er wedelte mit den Armen durch die Luft und würgte. „Ihr Gestank ist überall. Überall!“, kreischte er.

Harold stürmte zur Tür und riss sie auf. „Überall riech ich sie! Sogar hier draußen! Die ganze Kolonie stinkt nach ihnen.“ Er drehte sich um und starrte auf den leeren Küchentisch.

Ein Schrei entwich seiner Kehle. Er war derart schrill, dass es im Hals schmerzte. Er presste die Hand gegen seine Nase, doch der Gestank war immer noch da. Er klebte an seinem Körper. Er war in ihm drin.

Und in genau diesem Moment wusste Harold, dass er ihn nie wieder loswerden würde.

 

 

Epilog

„Guten Tag, Mister Bannerman. Wie geht es Ihnen heute?“ Doktor Stanley Rulin sprach mit sanfter Stimme. So, wie er es immer tat. Seit Jahren schon.

Harold Bannerman saß ihm gegenüber in einem Rollstuhl, an dem er an Händen und Beinen mit Lederriemen fixiert war. Sein Kopf war gesenkt. Rulin sah einen glänzenden Speichelfaden, der eine Verbindung zwischen Unterlippe und eingefallenem Brustkorb des Mannes bildete.

„Mister Bannerman? Sind Sie da?“ Er legte den Notizblock beiseite und beugte sich vor, um das Knie seines Gegenübers zu berühren.

Der dünne Mann hob den Kopf und lächelte. „Bannerman wird für eine ganze Zeit verschwunden sein“, sagte er. „Vielleicht sogar für immer, wenn wir Glück haben.“

Doktor Rulin lehnte sich zurück und nahm den Block wieder an sich. „Detective Grizzard. Schön, Sie wieder zu sehen.“

Der Angesprochene lächelte freundlich. „Ich habe dieses Schwein endlich dingfest gemacht“, sagte er.

„Das freut mich zu hören. Möchten Sie mir berichten, wie Sie das geschafft haben?“

Grizzard nickte. „Es war nicht einfach, Doc. Das können Sie mir glauben. Es war wirklich nicht einfach. Denn der Kerl ist gerissen. Aber das kann Ihnen Louise bestimmt besser erzählen. Sie war tatkräftig an der Sache beteiligt.“

„Oh“, sagte der Doktor. „Ist Louise ebenfalls hier?“

„Hallo Doc“, hauchte Bannerman mit verstellter Stimme. Er warf Rulin einen angedeuteten Kuss zu und fasste sich mit einer Hand in den Schritt. „Wenn Sie nachher Zeit und Lust haben, sagen Sie ruhig Bescheid.“

Rulin lächelte, ohne darauf einzugehen. „Dann sind wir ja soweit vollzählig“, sagte er nur. „Lassen Sie uns mit der Sitzung fortfahren.“

ENDE

One thought on “Die Kolonie der Gescheiterten

  1. Wow. Mir fehlen die Worte. Diese Geschichte ist der Hammer. Ich liebe den Plot.
    Man will als leser nicht, dass die Geschichte aufhört und wäre sie in ein Buch verfasst, hätte ich es wahrscheinlich verschlungen.😂
    Ich hätte jetzt gerade keine verbesserungsvorschläge. Einfach nur Wow.😊

    Lg.

    (Und falls du lust hast, könntest du ja vielleicht auch bei meiner Geschichte vorbei schauen.😊
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/doppelte-rache

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