Emilia MarroDie Kommune

 

Reue ist oft nichtso sehr das Bedauern

über das Böse, das wir getan haben, als

die Furcht vor dem, was uns daraus

erwachsen könnte.

François de La Rochefoucauld

1

Leah legte ihren Kopf in den Nacken und ließ das Wasser in ihr Gesicht prasseln. Sie genoss die Wärme des Wassers und kreiste mit ihren Schultern, um ihre schmerzenden Muskeln zu entspannen.

Wieder einmal hatte ihr Trainer sie mit Übungen gequält, die sie noch übermorgen in Muskeln spüren würde, von deren Existenz sie nicht einmal gewusst hatte.

Mit einem Seufzen drehte sie das Wasser ab und griff nach dem Handtuch, das sie über den Sichtschutz der Duschkabine gehangen hatte. Leah rümpfte die Nase, als sie den alten Duschvorhang zur Seite schob, nur um ihre Freundin Kate im Türrahmen zu entdeckten, die sie vorwurfsvoll anblickte.

Duschst du eigentlich immer so lange? Alle anderen sind schon lange weg.“

Nein, nur wenn ich das Wasser nicht bezahlen muss, das wäre auf Dauer doch sonst zu teuer,“ erklärte sie grinsend.

Kate schnaubte und ließ ihren Blick über die aneinander gereihten, grell gelben Duschkabinen gleiten, dann zuckte sie mit den Schultern.

Du weißt doch, dass ich Benjamin noch von meiner Mutter abholen muss,“ sie seufzte müde. „Ich hatte ihm eigentlich versprochen, mich heute nach dem Basketballtraining zu beeilen.“

Leah schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln, als sie sich mit ihrem Handtuch trocken rubbelte. Der Sohn ihrer Freundin war noch nicht einmal einen zuvor Monat drei Jahre geworden und ziemlich süß. Wusste aber jetzt schon genau, wie er die Erwachsenen um seinen kleinen Finger wickelte.

Da Kate alleinerziehend war, versuchte sie ihrem Sohn alles Recht zu machen, um die Lücke, die Benjamins Vater hinterlassen hatte, so gut es eben ging, zu füllen. Manchmal hatte Leah ein klein wenig das Gefühl, dass der kleine Sohn ihrer Freundin das nur zu gut wusste.

Ist schon in Ordnung, du musst mich nicht mitnehmen, ich nehme einfach die Bahn. Da bin ich fast genauso schnell zu Hause und du musst nicht extra wegen mir einen Umweg fahren.“

Zwar zog Leah es zu dieser Jahreszeit vor, im warmen Auto von Kate mitzufahren, wollte ihre Freundin aber nicht unnötig warten lassen. Schließlich musste sie nicht einmal umsteigen und die Bahn hielt fast vor ihrer Haustür.

Ich weiß nicht, mir wäre nicht ganz wohl dabei,“ verunsichert schaute Kate sie an und deutete dann mit ihrem Kopf in Richtung des vom Dampf beschlagenen Fensters. „Es ist bereits stockdunkel draußen.“

Leah wischte die Bedenken ihrer Freundin mit einer Handbewegung beiseite.

Das ist schon in Ordnung, ich werde auf mich aufpassen.“ Um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schob sie Kate durch die Umkleide in Richtung Tür. Das jedoch stellte sich schwieriger heraus als gedacht, da sie zusätzlich damit beschäftigt war, dafür zu sorgen, dass ihr Handtuch nicht herunterrutschte.

Kate entwand sich ihrem Griff und verdrehte die Augen. „Ich bin ja schon weg,“ sagte sie halb lachend, als sie zur Tür ging. Doch bevor sie nach der Türklinke griff, drehte sie sich noch einmal um. „Pass bitte auf dich auf, ja?“ Jetzt war Leah diejenige, die die Augen verdrehte, nickte aber.

Endlich zufrieden verschwand Kate und schloss die Tür hinter sich.

2

Eilig warf sich Leah ihre zerknitterten Klamotten über und noch während sie den Reißverschluss ihrer Hose hochzog, schaute sie sich suchend nach ihrer fehlenden Socke um. Schnell wurde Leah unter einer der Bänke fündig und gerade als sie nach der Socke angelte, fiel ihr ein Gegenstand ins Auge. Sie streckte sich, um nach dem kleinem Ding zu langen. Welches, wie sie begriff, ein Handy war.

Verwundert darüber, dass es sich dabei um ein Handy handelte, welches sie noch nie gesehen hatte, aber dennoch keinem der anderen Mädels ihres Teams aufgefallen war, versuchte sie einen Hinweis darauf zu finden, wem es gehören könnte.

Mintgrüne Hülle, eine Marke die ihr nichts sagte und kein Hintergrundbild.

Nicht wirklich sehr aussagekräftig.

Überrascht stellte Leah jedoch in der nächsten Sekunde fest, dass das Handy nicht passwortgeschützt war. So müsste sie einfachen Zugriff auf die Kontaktdaten, der Person, der das Handy gehörte, haben.

Das wäre ja auch zu einfach gewesen.“ Frustriert pustete sie sich einer ihrer Haarsträhnen aus dem Gesicht, als sie eines Besseren belehrt wurde. Das Handy musste noch recht neu sein, denn wem auch immer dieses Handy gehörte, hatte noch keine Spuren auf dem Gerät hinterlassen. Keine Kontakte waren eingespeichert, keine SMS wurden verschickt, keine Emails, nichts was Informationen über den Besitzer geben könnte.

Ohne weiter darüber nachzudenken öffnete Leah die Galerie und tatsächlich war sie fündig geworden: Es befanden sich, wider Erwarten, Bilder in der Galerie.

Sie tippte auf das erste Bild, um es sich näher anzuschauen.

Als sie erkannte, was auf dem Bild zu sehen war, vergaß sie beinahe das Atmen. Ihr Herz klopfte immer schneller und sie begann überall zu schwitzen. Ein Bild nach dem anderen schaute sie an. Die Angst packte sie und ließ sie unkontrolliert zittern.

Jedes dieser Bilder zeigte eine einzige Frau. Sie.

Sie auf dem Weg zur Arbeit. Sie beim Kochen. Sie beim Duschen. Sie beim Schlafen.

Mit einem lautem Krachen fiel das Handy zu Boden. Ihre Hände hatten so stark gezittert, dass es ihr durch die Finger geglitten war.

Langsam blickte Leah sich um, wem auch immer dieses Handy gehörte, war vielleicht noch hier. Dieses Ding war nicht vergessen worden. Jemand wollte sie wissen lassen, dass sie beobachtet wurde.

3

Leahs Hände zitterten noch immer so stark, dass das Abschließen der Turnhalle viel länger dauerte als sonst. Da sie regelmäßig viel länger in der Umkleide brauchte als alle anderen, hatte der genervte Trainer Leah irgendwann einen eigenen Schlüssel für die Halle besorgt. Innerlich verfluchte sie sich für ihre Bummelei. Hätte sie sich nur mehr beeilt, dann säße sie jetzt mit Kate sicher im warmen Auto. Kate!

Hektisch kramte Leah in ihrer Tasche, die sie voller Panik mit ihren Sportsachen vollgestopft hatte.

Als sie endlich ihr Handy ertastete, spürte sie für einen kurzen Moment Erleichterung. Der war jedoch schnell vorbei, als sie Kates Nummer wählte und direkt die Mailbox ansprang.

Noch während Leah begann sich von der Halle wegzubewegen, reif sie Kate erneut an. „Bitte! Bitte, Kate, geh ran.“ Wieder meldete sich nur die Mailbox.

Beunruhigt beschleunigte Leah ihre Schritte. Immer wieder blickte sie über ihre Schulter, als sie die düstere Einfahrt hinauflief. Doch auch an der Straße war keine Menschenseele zu sehen. Was aber nicht weiter verwunderlich war, wenn man bedachte, dass sich hier außer der Sporthalle nicht viel befand: Eine stillgelegte Tankstelle auf der anderen Seite der Straße, ein bereits geschlossener Bäcker und die alten Straßenlaternen, die ihre Umgebung in schummrig gelbes Licht tauchten.

Als sie auf die noch etwa 50 Meter entdernte Haltestelle zusteuerte, hörte sie bereits das vertraute Geräusch, einer sich nähernden Straßenbahn.

4

Die Überwachungskameras in der Bahn gaben Leah ein Gefühl von Sicherheit. Eine falsche Sicherheit, das wusste sie. Doch nur zu gern gab sie sich dem Gedanken hin, dass nun alles gut werden würde. Dass diese Bilder nur ein böser Scherz waren und sie jetzt in Ruhe gelassen werden würde. Wer weiß das schon, vielleicht war es ja wirklich so?

Das rationale Denken fiel Leah immer schwerer, ihr Verstand war wie vernebelt. Die anhaltende Panik zermürbte sie, laugte sie aus.

Als die nett klingende Frau über den Lautsprecher verkündete, dass Leahs Haltestelle die nächste wäre, setzte sie sich auf.

Sie stellte sich an eine der Türen der Bahn und betätigte die „Stop“-Taste. Langsam blickte sie sich noch einmal in der Straßenbahn um. Außer einem nach Knoblauch stinkendem Typen, der einen viel zu kleinen Anzug trug und einer grimmig ausschauenden, älteren Dame, war die Straßenbahn vollkommen leer.

Für einen kurzen Moment, überlegte Leah, der Dame ihren Gehstock zu entwenden, doch entschied sich dagegen. Diese Frau war zwar nicht mehr in ihren jüngsten Jahren, sah jedoch keinesfalls gebrechlich aus, eher als ob sie sehr wohl in der Lage wäre sich und den Gehstock zu verteidigen.

Die Bahn hielt und die Türen öffneten sich. Leah stieg nach kurzem Zögern aus.

Rasch ging sie die Straße hinab und bog um die nächste Ecke. Ängstlich beobachtete sie ihre Umgebung, als auch schon das Wohnhaus in Sicht kam in das sie zwei Monate zuvor gezogen war. Es war in viktorianischem Stil erbaut, eine gelbe Backsteinfassade und aufwändig geschmückte Fensterbekrönungen zierten das Gebäude.

Leah wohnte im 4. Stock, was ihr nichts ausmachte, wenn sie gerade keine Einkäufe zu tragen hatte. Noch immer standen einzelne Umzugkisten in ihrem Flur, für deren Inhalt sie noch keinen Platz gefunden hatte.

Hastig verriegelte sie die Tür hinter sich, sobald sie ihre Wohnung betrat und stürzte sie zu den Fenstern, um die Vorhänge vorzuziehen. Aufgrund der Dunkelheit, fiel sie dabei beinahe, doch ihre Angst war zu groß, als dass sie dich getraut hätte, das Licht anzuschalten.

Schlapp ließ sie sich auf den einzigen Stuhl in der Küche fallen, der daraufhin ein protestierendes Knarzen von sich gab.

Vorsichtig griff Leah in die Tasche ihres Mantels, den sie noch immer trug und holte das mintgrüne Handy hervor.

Sie rang sich dazu durch, erneut die Bilder durchzugehen. Dieses Mal schaute sie sich alle an, was sie in der Halle, logischerweise, nicht direkt getan hatte. Ein eiskalter Schauer rann ihr den Rücken herunter, als sie sich durch die Galerie tippte.

Die meiste Fotos waren von einer größeren Distanz aus geschossen wurden, einige von ihnen waren jedoch maximal von einer Entfernung von einem Meter aufgenommen. Sie versuchte sich an ein Gesicht zu erinnern, doch mit Anstrengung, konnte sie gerade einmal schätzen, an welchem Tag das Bild gemacht worden war.

Das letzte Foto hingegen ließ sie stutzen, das war nicht sie auf dem Foto.

Als sie die Frau, die darauf zu sehen war, ausmachte, stieß sie einen erstickten Schrei aus.

Wieder erfüllte Leah blanke Panik, doch dieses Mal war die Bedrohung zu einer greifbaren Gefahr geworden. Alles was sie sich gewünscht hatte, war ein einfaches Leben. Doch ein einziger Fehler, den sie in ihrer jugendlichen Dummheit gemacht hatte, war der Grund, warum genau das ihr verwehrt blieb. Reue. Reue, war die einzige verlässliche Konstante fortan in ihrem Leben gewesen. Das hatte sich bis heute nicht geändert.

Sie kannte diese Frau und niemals hatte ihr etwas mehr leidgetan.

5

Fest krallte Leah ihre Finger in das Lenkrad und schaute angestrengt auf die einsame Landstraße, auf der sie gerade fuhr. Das Licht des Strahlers ihres Autos durchbrach die Dunkelheit. Nachdem sie das Foto auf dem Handy entdeckt hatte, das für sie noch weitaus erschreckender war, als die auf denen sie selbst zu sehen war, hatte sie fluchtartig die Wohnung verlassen.

Sie wusste jetzt, wo sie suche musste, um Antworten auf ihre Fragen zu bekommen.

Leah hatte beschlossen, in den Ort zu fahren, in dem sie aufgewachsen war. Aus dem sie mit 18 Jahren Hals über Kopf geflohen war, ohne auch nur jemandem Bescheid zu geben. Damals hatte sie sich geschworen, nie wieder zurückzukehren. Unter keinen Umständen. Nicht nach den Dingen die dort passiert waren. Nicht einmal zu ihrer Familie hatte sie Kontakt gehalten. Nach ihrem Verschwinden rief ihre Mutter noch ein paar Mal an. Doch die Anrufe wurden immer seltener, bis sie irgendwann ganz aufhörten. Seitdem, hatte sie nicht mehr von ihnen gehört. Zu Beginn vermisste sie ihre Familie noch, doch mit der Zeit rückten diese Gedanken in den Hintergrund. Genau wie die Geschehnisse, die der Anlass für das Verlassen ihrer Heimat waren. Doch wirklich hinter sich gelassen hatte sie das Ganze nie.

Leah war sich sicher: das Bild war nicht einfach nur zufällig ausgewählt worden war. Ihr unbekannter Stalker, musste jemand sein, der sie und auch ihre Vergangenheit kannte.

Nach zweistündiger Fahrt kam das Dorfeingangsschild in Sichtweite: „Herzlich Wilkommen in Silensdorf“. Es war ein gleichermaßen erleichterndes, wie auch beängstigendes Gefühl, wieder hier zu sein.

Den Weg zu ihrem Elternhaus hätte sie wahrscheinlich auch noch mit verbundenen Augen gefunden. Die Fenster waren dunkel, als Leah den Motor ihres Autos abstellte. Ein paar Augenblicke schaute sie es in Gedanken versunken an. Sich an die Kindheit, die sie hier verbrachte, zurückerinnernd. Lange war es her, dass sie darüber nachgedacht hatte. Langsam ging sie auf das Haus zu.

6

Leah blickte in das überraschte Gesicht ihrer Mutter. In ihrem bordorotem Morgenmantel und den nicht ganz dazu passenden, abgetragenen Pantoffeln stand sie im Türrahmen und starrte sie an. Schnell über ihre Überraschung hinweg, schloss sie Leah in die Arme.

Du meine Güte, Leah,“ flüsterte sie in die Umarmung hinein.

Verstohlen, wischte sie eine Träne von ihrer Wange. „Komm doch erst einmal rein.“

Noch immer ganz überwältigt, von dem Wiedersehen mit ihrer Mutter, nickte Leah nur stumm. Wie hatte sie nur nicht merken können, wie sehr sie ihr fehlte?

Verhalten schaute sie sich im Haus um. Es hatte sich über die Jahre kaum etwas verändert. Der Flur war ein einziges Chaos, überall lagen Schuhe und Klamotten herum. Auch die Küche war noch immer in demselbem, warmen Orange gestrichen.

Setzte dich doch,“ unbeholfen deutete ihre Mutter auf einen der klapprigen Stühle, die rund um den Esstisch herum standen. „Ich kann es noch immer nicht glauben, dass du endlich wieder hier bist. Wir haben dich alle sehr vermisst.“

Ich euch auch,“ antwortete Leah zaghaft, die langsam ihre Worte wiederfand.

Noch einmal umarmte ihre Mutter sie fest, bevor sie sich entschuldigte, um in den Flur zu verschwinden. Dort rief sie dann nach Leahs Vater und ihrer Schwester.

Verschlafen tappte Anda in die Küche, geflogt von ihrem verwirrtem Vater. „Himmel, Helene, was ist denn?“ Ihre Mutter wies bedeutungsvoll in Richtung Leah und zum zweiten Mal an diesem Abend, wurde sie angeschaut, als wäre sie ein Geist.

Anda erlangte als erste ihre Fassung zurück und ging auf Leah zu, bevor sie sie fest in ihre Arme schloss. Auch ihr Vater kam nun hinzu und schlang seine stämmigen Arme um seine beiden Kinder. Und zum ersten Mal seit langem fühlte Leah sich geborgen.

7

Gegenüber von Leah saß ihre Schwester Anda am Esstisch und schaufelte sich ihre Schokomüsli in den Mund. Alles was sie selbst im Moment jedoch zu sich nehmen wollte, war eine Tasse schwarzen Kaffees. Der, zu ihrem Leid, in diesem Haus nicht vorhanden war.

Leah hatte das Gefühl gar nicht geschlafen zu haben. Sie war viel zu aufgewühlt von den vorhergehenden Ereignissen gewesen, als dass sie hätte zur Ruhe kommen können. Die ganze Nacht grübelte sie über das eine Bild, was sie so aus der Bahn geworfen hatte. Dann hatte Kate früh am Morgen angerufen und sich vergewissert, dass es Leah gut ging. Danach hatte sie den Versuch zu schlafen aufgegeben.

Seufzend erhob sie sich. „Ich werde Granny besuchen. Möchtest du vielleicht mitkommen?“fragte sie gewandt an Anda. Vielleicht würde es sie ja auf andere Gedanken bringen, wenn sie mit ihrer Großmutter sprach.

Nein, gehe du ruhig alleine,“ sagte Anda ohne von ihrer Schüssel aufzublicken. „Ich habe sie erst gestern besucht.“

Als sie Kinder waren hatten Anda und sie eine unfassbar enge Beziehung, sie waren soetwas wie beste Freundinnen füreinander gewesen. Doch jetzt war nicht mehr viel davon übrig. Anda ignorierte sich den größten Teil der Zeit, was sie ihr aber nicht verdenken konnte. Schließlich hatte sie über alles gesprochen, bis sie eines Nachts abgehauen war.

Zu Fuß machte sich Leah, auf dem Weg ins Altersheim. Laut ihrer Mutter hatten sie ihre Großmutter vor ein paar Monaten in das Seniorenheim bringen müssen. Sie wäre zunehmend verwirrt und ihre Mutter hatte nicht mehr geschafft, sich um ihre Mutter zu kümmern und nebenbei noch arbeiten zu gehen.

Zwar versuchte Leah die frische Luft und einen der wahrscheinlich, letzten warmen Tage zu genießen, doch ein zunehmend mulmiges Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus.

Immer wieder bildete sie sich ein, hinter den Fenstern der Häuser Gestalten zu erkennen, die sie beobachteten.

Beunruhigt legte sie einen Schritt zu.

8

Leahs Großmutter saß auf einer Bank vor dem Seniorenheim und blickte auf, als sie sich langsam näherte. Ihr runzeliges Gesicht, verzog sich zu einem erfreutem Ausdruck. Leah beugte sich zu ihr herunter und drückte sie kurz, bevor sie sich neben ihre Granny setzte. Die faltigen Hände ihrer Großmutter umschlossen ihre.

Es ist schön, dich wieder hier zu haben, Kleines,“ meinte sie mit ihrer knarzigen Stimme. „Du warst lange fort, aber ich fürchte ich kann es dir nicht einmal verübeln.“ Sie seufzte. „Aber ich fürchte, jetzt war nicht der glücklichste Zeitpunkt für eine Rückkehr.“ Ihr Blick war eindringlich. Verwirrt runzelte Leah die Stirn.

Granny, ich musste damals gehen. Aber genauso wichtig war es, jetzt wieder herzukommen.“

Du hättest nicht kommen dürfen. Leah, es ist zu gefährlich.“ Sie versuchte sich, dem festen Griff ihrer Großmutter zu entwenden. Hysterisch rief sie: „Du warst zu lange weg. Das hat dich zum perfekten Sündenbock gemacht.“

Für was, Granny, für was?“ Doch sie hatte keine Möglichkeit mehr zu antworten.

Eine der Pflegerinnen eilte heran und versuchte die alte Frau zu besänftigen. Sie blickte zu Leah auf. „Sie müssen leider gehen, ihr Zustand hat sich verschlechtert.“

Ergänzte dann jedoch mit einem Lächeln, „Wenn Sie möchten, können Sie morgen wieder vorbeikommen.“ Bestürzt nickte Leah. Ihre Großmutter war nicht mehr dieselbe Frau, die ihr als kleines Kind backen beigebracht hatte.

Sie war alt und verwirrt. Dennoch schienen ihre Worte ernst gemeint. Bevor sie sich abwandte, flüsterte ihre Großmutter: „Pass auf. Nichts ist so wie es scheint, in der Kommune.“ Besorgt über diese Worte, machte Leah sich auf den Rückweg.

9

Kaum hatte Leah die Tür geöffnet, kam ihr auch schon der Geruch nach frisch gebackenem Kuchen entgegen. Lächelnd legte sie ihre Jacke beiseite und ging in die Küche. „Na, Schätzchen, wie war der Besuch bei deiner Großmutter?“

Leah setzte sich an die Theke und schaute zu, wie ihre Mutter den noch warmen Rhababerkuchen in gleich große Stücke teilte.

Es war schön, sie wieder zu sehen,“ meinte sie, vermied jedoch den Blick ihrer Mutter. Leah entschied sich dagegen, den Vorfall anzusprechen. Bald, sagte sie sich, doch vorerst wollte sie die Zeit mit ihrer Familie verbringen, bevor sie Nachforschungen anstellte. Dann würde sie ihrer Familie vielleicht auch von den Bildern erzählen.

Nach zwei Stück Kuchen hatte Leah das Gefühl, sie könnte jeden Moment platzen. Als sie sich gerade erheben wollte, um ihren Teller abzuspülen, hielt ihre Mutter sie auf. „Nicht doch, das mache ich für dich. Lieb wäre es, wenn du Anda auch ein Stück Kuchen in ihr Zimmer bringen könntest,“ meinte ihre Mutter, bevor sie ihr einen Teller mit einem großen Stück Kuchen in die Hand drückte.

Leah ging die Treppe zu Andas Zimmer hoch. Zaghaft klopfte sie an die Tür, doch niemand öffnete. Nach dem zweiten Mal klopfen, öffnete sie die Tür einen kleinen Spalt weit. Leah musste feststellen, dass ihre Schwester nicht in ihrem Zimmer war. Leise betrat sie es, um den Teller auf ihren überfüllten Schreibtisch zu stellen. Auf dem Weg nach draußen, fiel ihr Blick auf ein gerahmtes Bild, welches auf dem Nachttisch stand. Neugierig trat sie näher. Auf dem Bild waren zwei Frauen zu sehen, die sich glücklich in den Armen hielten und sich küssten. Anda war eine der beiden Frauen, die zweite war jedoch diejenige die sie erschauern ließ. Enya Kaiser. Die Frau auf dem Bild in ihrer Galerie. Ihre Angst war das einzige, woran Leah denken konnte und was es bedeutete, dass ihre Schwester Enya geliebt hatte. Sie musste weg von hier!

10

Und wie gefällt die mein Zimmer?“ Die Stimme ihrer Schwester ließ sie herumfahren. Anda ging auf sie zu, bis Leah zwischen ihr und der Wand eingeengt war.

Ich habe sie geliebt, weißt du.“ Sie deutete auf das Foto.

Wir hätten glücklich sein können, wärst du nicht dazwischen gekommen. Du hast sie umgebracht. Nur deinetwegen ist sie nicht mehr hier.“

Du trägst genauso viel Schuld an der Sache, wie ich es tue, und das weißt du auch. Ich bereue meine Fehler, ich bereue sie zutiefst,“ erwiderte Leah. Ihre Stimme zitterte vor Angst.

Die Nacht, als wir die Wette abgeschlossen haben, warst du dabei. Auch als das ganze aus dem Ruder gelaufen ist, hast du dich noch immer nicht für sie eingesetzt.“

Doch Anda schüttelte nur den Kopf. „Die Wette hat nie existiert, du hast sie dir ausgedacht, um nicht allein die Schuld tragen zu müssen. Ich habe Enya immer geholfen, so gut es ging. Nachdem sie so lange von dir gestalkt und bedroht wurde, hatte sie Angststörungen und Depressionen. “

Mit einer schnellen Bewegung zog sie ein Messer aus der Tasche ihres schwarzen Pullovers und setzte ihn an Leahs Kehle. „Nicht schreien, das würde dir sowieso nicht helfen. Niemand darf dir helfen. Das hat die Kommune beschlossen, wer gegen die Regeln handelt wird immer bestraft. Also mussten wir auch Granny bestrafen,“ flüsterte sie Leah ins Ohr. „Was hast du mit Granny gemacht?“ Sie verstand nichts mehr. Wovon redete Anda? „Sie hat dich gewarnt, deshalb musste sie bestraft werden.“ Sie machte eine theatralische Geste, als sie begriff, dass Leah nichts verstand.

Wir sind die Kommune. Alle aus Silensdorf gehören mit dazu. Auch unsere Mutter und unser Vater, da muss ich dich enttäuschen. Wir halten zusammen und helfen wir uns gegenseitig. Alleine hätte ich doch gar nicht geschafft, dich herzulocken, Dummerchen. “ sie lachte abfällig.

Und,“ meinte sie bedeutungsvoll, ohne auf ihre Bemerkung einzugehen, “wir treffen gemeinsame Entscheidungen. Wie zum Beispiel über dich.“

Du bringst mich doch nicht um?“

Nein, nicht sofort. Die Kommune hat beschlossen, das wäre nicht genug,“ Andas Gesicht verzog sich zu einem grausamen Lächeln.

Ich werde dich gehen lassen, aber eines Tages werde ich dich töten. Du kannst gehen wohin du willst, ich werde dich immer finden und dann, wenn du dich wieder sicher fühlst werde ich kommen.“

Leah spürte eine Angst, in einem Außmaß in sich aufsteigen, wie sie es nicht für möglich gehalten hatte. Trotz der Tatsache, dass ihr es nicht möglich war, klar zu denken, wusste sie, dass sie Leben, das sie kannte, nun hinter sich lassen müsste.

Das Leben, welches sie sich in all den Jahren mühevoll aufgebaut hatte, brach mit einem Mal in sich zusammen. Wie eine schwere Tür zu ihrem alten Leben, die zu fiel und sie in einem Raum ohne Ausgang, ohne Fenster, ohne Licht, einsperrte. Sie war gefangen und Angst war das einzige, was in diesem Raum existierte.

Und Leah wusste nicht, wie lange sie dieser Angst würde Stand halten können.

3 thoughts on “Die Kommune

  1. Liebe Emilia

    Ich machs einfach mal ganz kurz.

    Super kurzweilige und gute Geschichte.

    Tolle und interessante Grundidee.
    Respekt.

    Bin durch Zufall bei dir gelandet.
    Aber du hast mich mit deiner Geschichte total überzeugt.

    Das Besondere war natürlich dein Schreibstil und das unerwartete Finale.

    Große Anerkennung und großes Lob.

    Deine Geschichte hat wesentlich mehr Likes verdient.

    Du hast dir viel Arbeit gemacht und die Parameter gut umgesetzt.

    Die Spannung war genial und die Dialoge komplett realistisch.

    Was für eine großartige Geschichte.
    Bitte schreib noch mehr davon.

    Ich wünsche dir noch viele begeisterte Leserinnen und Leser.
    Und viele Likes.

    Mein Herz hast du natürlich sicher.

    Liebe Grüße, Swen Artmann
    (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, meine Geschichte auch zu lesen.
    Würde mich freuen.

    Meine Geschichte heißt:
    “Die silberne Katze”

    Vielen Dank.
    Swen

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