JuWriteDie Maskerade des Clowns

Die Maskerade des Clowns

Jo fiel. Und Jo hasste es zu fallen. Mit rasanter Geschwindigkeit riss es ihn – den Rücken voran – Meter für Meter weiter ins Nichts. Die Farben um ihn her vermischten sich zu einem grauenerregenden Kaleidoskop aus Blau, Rot, Weiß und Schwarz, Angst und Verzweiflung. Jo wollte schreien. Doch seine Stimme versagte ihm den Dienst. Wie so oft. Obgleich er sich in einer derart aussichtslosen Lage befand, arbeitete sein Verstand auf Hochtouren. Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, diesem Albtraum zu entkommen? Und tatsächlich! War da nicht ein Seil? Fahrig schlossen sich Jos Finger um diese eine letzte Rettung. Doch das Seil gab nach. Mit einem kurzen Ruck riss Jo es mit sich in die Tiefe…

„Alter, kannst du dieses nervige Ding jetzt endlich mal abstellen?“

Der entsetzliche Fall war so plötzlich vorüber, dass es Jo geradewegs so vorkam, als wäre er auf das schweißgetränkte Laken geplumpst. Sein Herz raste noch wie wild und er hatte Mühe, seinen eskalierten Atem unter Kontrolle zu bringen. Es war also schon wieder geschehen …
„Mist“, murmelte Jo, während er gegen das grelle Neonlicht an der Decke anzublinzeln versuchte. Entgegen jedem Wohn-Trend, der die Massen in skandinavische Einrichtungshäuser zog oder sie zu selbsternannten Feng-Shui-Experten machte, kamen die augenkrebsfördernden Leuchtstoffröhren in Krankenhäusern wohl niemals ganz aus der Mode. Das hatte sich in den vergangenen zehn Jahren jedenfalls nicht geändert. Und das würde es wohl auch in den nächsten zwanzig nicht.

„Hurry up, Buttercup!“, wie Leon zu dieser gottlosen Stunde derart beschwingt sein konnte, erschloss sich Jo bis heute nicht. Für ihn kam ein „guter Start in den Tag“ gerade mal nach der dritten Tasse Kaffee in Frage. Daher war es auch wenig verwunderlich, dass Jo nur ein mattes: „Schnauze!“, als Erwiderung zustande brachte, ehe er sich schließlich aufsetzte und seinen plärrenden Handywecker endlich zum Schweigen brachte. Dennoch war seinem Gegenüber das Grinsen nicht vergangen. Beinahe schon belustigt sah Leon dabei zu, wie Jo die wenigen Meter zu einem kleinen Waschbecken in der Ecke zurücklegte, um sich dort einen ordentlichen Schucker kaltes Wasser in sein Gesicht zu werfen. „Ich weiß wirklich nicht, wie du dir das hier antun kannst. Hast du keine eigene Wohnung?“, fragte er scherzhaft und wies auf den sterilen Raum, in dem Jo die meisten seiner Nächte verbrachte.
„Und hast du eigentlich nichts Besseres zu tun, als deine Kollegen beim Anziehen zu begaffen?“, gab Jo zurück. Mit einem Blick in den Spiegel nahm er zufrieden zur Kenntnis, wie sich Leon hinter seinem Rücken verdünnisierte. Jedoch nicht, ohne seinem Kollegen noch einmal die Zunge herauszustrecken. Jo seufzte. Doch dann machte er sich endlich ans Werk.

Jo, eigentlich Johannes Rothacker verbrachte einen Großteil seines Lebens im Krankenhaus. Planbetten, Diagnostische Verfahren und literweise Desinfektionsmittel waren für ihn das normalste auf der Welt. Nun war Jo hier natürlich nicht nur aus Jux und Tollerei. Obwohl, … vielleicht doch. Denn als Klinikclown „Dr. Grünstich“ trieb er derzeit vor allem auf den Kinderstationen des Glauener „Marien-Hospitals“ sein – mehr oder weniger – berüchtigtes Unwesen. Lediglich eine bunte Farbpallette mit Theaterschminke, eine drollige Perücke und eine quietschgrüne Nase unterschieden Johannes und Dr. Grünstich voneinander. Nun ja, zumindest, wenn man von der gehörigen Portion Zynismus absah, die Jo gelegentlich als Schutzweste trug. Dr. Grünstich würde diese hingegen noch nicht einmal mit der Kneifzange anfassen.

Jos dunkelbraune Augen, seine lange schmale Nase und auch die rabenschwarzen, leicht struppigen Haare waren schnell passé. Denn durch die jahrelange Routine saß beim Schminken jeder Pinselstrich. Der müde Jo rückte mit jedem Farbklecks in weitere Ferne. Wohingegen der ulkige Clown immer deutlicher zutage trat. So konnte er sein heutiges Meisterstück schon nach wenigen Minuten mit einem zufriedenen Lächeln begutachten. „Du kannst dich sehen lassen, alter Freund!“, sagte er mit einem nasalen Quaken in der Stimme. Zufrieden wippte er mit seinen schwarz nachgezogenen Augenbrauen und tippte sich an die kugelrunde, grüne Nase aus Schaumstoff. „Bist du bereit?“, fragte er belustigt. Er war es.

Dennoch ließ sich Jo zunächst die drei obligatorischen Tassen Kaffee schmecken. Erst dann durfte Dr. Grünstich zu seinem langersehnten Dienst auf der Station erscheinen. Die „Klinik für Kinder und Jugendliche“, die vor ungefähr anderthalb Jahren in einen separaten Neu-Bau neben das Marien-Hospital ausgesiedelt wurde, fiel Außenstehenden schon von weitem mit ihrem weiß-roten Anstrich ins Auge. Irgendein „Künstler“ – Jo tat sich schwer, ihm diesen Titel zuzugestehen – hatte die Front des so entstandenen Klinik-Baus mit zwei überdimensionalen, roten Luftballons bepinselt. Beim Anblick der beiden aufsteigenden Objekte durchfuhr ihn ausnahmslos jedes Mal ein eiskalter Schauer. Kopfschüttelnd rief er sich stets in Erinnerung, dass Ballons fliegen konnten. Sie fielen nicht. „Doch, das tun sie“, flüsterte eine leise Stimme dann wie aufs Kommando in seinem Kopf. „Und wenn man sie zum Platzen bringt, ist ihr Sturz umso tiefer.“

Wie beinahe an jedem Morgen durchtrat Jo auch nach diesem kurzen Schaudern die Eingangstür der Kinder-Klinik. Er benutzte das Desinfektionsmittel, das an einem kleinen Spender an der Wand angebracht war. Er vollführte die reibenden Bewegungen, die seine Hände binnen kürzester Zeit von den gefährlichen Keimen befreiten. Er nahm den Aufzug nach oben, den er nach exakt 14,3 Sekunden wieder verließ. Dann ein Abstecher in die Umkleidekabine, wo er sich mit einem sauberen Kittel, einem überdimensionalen, gelben Stethoskop und bequemem Schuhwerk ausstattete. Wieder Desinfektionsmittel. Jetzt setzte Jo ein fröhliches Grinsen auf und betätigte den Türschalter zur Station 4 A mit seinem Ellenbogen. Das leise Surren der Automatiktüre bestätigte diesen Vorgang. Einen Augenblick später, hatte Dr. Grünstich die Kinderkrebsstation auch schon betreten.

„Levi, sieh nur, wer dich heute besuchen kommt!“, mit gespielter Fröhlichkeit eilte Schwester Britta auf den kleinen Jungen zu, der mit angewinkelten Beinen in einem blau getupften Leibchen auf seinem Krankenhausbett verweilte. Obgleich Jo bestürzt darüber war, wie sehr sich Levis Zustand in den vergangen drei Wochen verschlechtert haben musste, ließ sich Dr. Grünstich derlei Gefühle selbstredend nicht anmerken. Er ignorierte die Tatsache, dass Levis flammend rote Haare inzwischen allesamt verschwunden waren. Auch die fahlweiße Haut und die schwarzen Schatten unter seinen Augen ließ er unkommentiert. Nein, Dr. Grünstich ließ sich nicht anmerken, wie sehr sich Jos Magen bei diesem Anblick zusammenzog. Er war schließlich ein Vollprofi. Für ihn zählte nur eines. Und das war das schwache Lächeln, das Levis Lippen umspielte, weil er seinen Lieblingsclown endlich einmal wiedersehen durfte.

Gegen 20 Uhr war die Clownsmaskerade schon längst mit jeder Menge Seife im Abflussrohr verschwunden. Die überdrehten Jokes und das alberne Lachen in eine Kiste gesperrt. Gemeinsam mit Leon, Roman und Jasmina verbrachte Jo seinen Feierabend im „Rudy’s“ zwei Straßen weiter. Viele der Klinik-Kollegen aus der Frühschicht hatten es ihnen gleichgetan. Die Bar war an diesem Freitagabend proppevoll. Das amüsierte Gewirr vieler durcheinanderplappernder Stimmen, das Klirren von Gläsern und der leise Beat eines Songs aus den Musikboxen untermalte das Szenario. Obwohl das Trinklokal heute beinahe bis auf den letzten Platz besetzt war, hatte das Quartett ein gemütliches Plätzchen im oberen Stockwerk ergattern können. Die hölzerne Täfelung an den Wänden passte perfekt zu der lässig, günstigen Gemütlichkeit, die so vielen irischen Pubs ebenfalls innewohnt. Schon nach der ersten Runde war die Gruppe in ein ungezwungenes Gespräch vertieft. Jasmina hatte sich bei dem Thema Arbeit gerade ein wenig in Rage geredet: „Ich kann euch gar nicht oft genug sagen, wie sehr mir unsere neue Azubine auf den Wecker geht!“, schimpfte sie und schob sich einen orangefarbenen Erdnussflip in den Mund. Mit ihren sandblonden Haaren, den langen Beinen und ihren hellblauen Augen hätte sie wohl viel mehr nach Hollywood anstatt in die Radiologie des Marien-Hospitals gepasst. Doch genau dort fertigte sie Tag für Tag Aufnahmen von grotesken Brüchen und anderen Verletzungen der fragilen Knochenstruktur des Menschen an. „… jedenfalls hatte ich die Olle für einen Botengang in den zweiten Stock geschickt und als sie nach 20 Minuten immer noch nicht zurück war. Was glaubt ihr wohl, wo ich sie gefunden habe?“, stieß sie aufgebracht hervor und besprühte Leon, der neben ihr saß mit ein paar Krümeln halbzerkauter Erdnussflips. „Auf dem Balkon!“ Vielsagend warf sie einen Blick in die Runde. „Mit einer Kippe in der Hand und dem Handy am Ohr!“
„Shocking!“, rief Leon. Wobei sich Jo nicht ganz sicher war, ob sich der Ausruf auf Jasminas Geschichte oder auf die durchnässten Krumen in seinen Haaren beziehen sollte. „Und wie wars bei dir heut in der Onko?“, fügte der Bespuckte hinzu und richtete seinen Blick auf Jo, der gerade den letzten Rest seines Bieres hinunterkippen wollte. Auch die anderen Freunde warfen dem Klinikclown nun auffallend mitleidige Blicke zu. Sie wussten, dass der regelmäßige Einsatz auf der Kinderkrebsstation Jo viel mehr abverlangte, als wenn er beispielsweise in der Kardio, der Rheumatologie oder überhaupt auf einer anderen Station des Krankenhauses seinen Dienst verrichtete. „Och, das Übliche“, sagte der ausweichend und kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf. „Milan, ihr wisst schon, der lustige Dreijährige, von dem ich euch erzählt hatte. Er hats nicht geschafft. Dafür wurde Nele in der letzten Woche entlassen! Leider hab ich sie vorher nicht mehr gesehen. Aber ihre Mama hat mir eine Dankeskarte und eine Packung Merci dagelassen. Peter hat heut den ganzen Tag nur mit seinem Smartphone gezockt. Ich glaube, der wird langsam zu alt für Clowns…“

Genau genommen erlaubten es die strengen Vorschriften zum Datenschutz den Klinikmitarbeitern eigentlich nicht, die sensiblen Patienteninformationen nach außen zu tragen. Die Realität sah allerdings eher anders aus. Unter dem Personal war es gang und gäbe, sich über den Alltag, die Patienten und die Vorgesetzten auszutauschen. So waren Leon und Jasmina für Jo mit der Zeit fast schon zu einer zweiten Familie geworden. Aber das war auch wenig verwunderlich, wenn man so viele Nächte wie er an seinem Arbeitsplatz verbrachte.
Nun, da er einmal angefangen hatte zu berichten, sprudelten die Namen der kranken Kinder geradezu aus Jo hervor. Er wusste selbstredend, dass sich die anderen nie und nimmer merken konnten, von wem er da gerade erzählte. Aber es half ihm, all die Gedanken, die Dr. Grünstich bei der Arbeit in sich verschließen musste, jetzt – zumindest in kleinen Teilen – herauszulassen.
„Ich weiß wirklich nicht, wie du das immer aushältst“, sagte Roman knapp. Wie so häufig, beteiligte sich der Assistenzarzt auch heute nur sporadisch an dem Gespräch. „Für den Job und das Gehalt würde ich morgens noch nicht einmal aus dem Bett aufstehen. Aber das musst du selbst wissen.“

Jo hatte überhaupt keinen Bock mit Roman schon wieder über die Themen Berufsethos, Geld oder soziales Ansehen zu diskutieren. Jasmina hatte ihn vor ungefähr anderthalb Jahren zu ihnen in die Gruppe geschleppt. Doch Jo hatte den Zugang zu ihm bis heute noch nicht so recht gefunden. Daher zuckte er nur mit den Schultern, ehe er den letzten Rest von seinem Bier hinunterstürzte. Es war warm geworden. Super. „Ich geh mal aufs Klo…“, murmelte er und stand auf. „Bestellt ihr mir noch eins mit?“ Mit der Linken wedelte Jo kurz mit seinem leeren Glas. Winzige Biertröpfchen tanzten darin zu der Bewegung. Handy und Geldbeutel zog er mit seiner Rechten aus der Tasche. Beides legte er auf eine Stelle des Tisches, die ihm weitestgehend sauber und trocken erschien.

Jo hatte sich noch keinen Schritt vom Tisch wegbewegt, da hatte Jasmina auch schon wieder das Wort ergriffen, um ein neues Gesprächsthema einzuläuten. Gerade konnte er noch irgendetwas von wegen „Fotos auf dem Handy“ vernehmen. Dann hatte die Geräuschkulisse der Bar seine Freunde auch schon verschluckt. Zu dem melodischen Gitarrenspiel von „Hotel California“ nahm er die zwei Treppen runter ins Untergeschoss, wo sich die Toiletten des „Rudy’s“ befanden. Die Klänge der überfüllten Bar waren hier nur noch gedämpft zu vernehmen. Dafür zwitscherten in dem gefliesten Durchgang bestimmt 20 Weiber durcheinander. Als Jo die lange Schlange vor dem Frauenklo erblickte, beglückwünschte er sich einmal mehr dazu, einen Schwanz in der Hose zu haben. Ehrlich gesagt konnte er sich noch nicht einmal ansatzweise vorstellen, welchen Reiz es haben sollte, immer nur im Rudel pissen zu gehen. Im Männerklo herrschte gähnende Leere. Daher zog Jo auch schon nach wenigen Minuten wieder an der gackernden Menge vorüber. Die Schlange der Frauen hatte sich nur unmerklich weiterbewegt.

Auf dem Weg nach Oben machte Jo nun doch noch einmal kurz im Erdgeschoss Halt, um sich am Tresen eine Portion Nachos zu bestellen. Während er darauf wartete, dass der Barkeeper seine Order entgegennahm, ließ er seinen Blick gedankenverloren über die zahllosen Besucher schweifen. In der Nische links neben dem Eingangsbereich hatte sich ein sieben-Mann-starker Junggesellenabschied breit gemacht. Der im pinken T-Shirt, es war ganz offensichtlich der Bräutigam, stand in regelmäßigen Abständen von seinem Platz auf, um allen Neuankömmlingen in der Bar einen Shot zu spendieren. Zugegeben, für einen Moment spielte Jo tatsächlich mit dem Gedanken, kurz nach draußen zu gehen. Vielleicht könnte er dabei ja auch einen kostenlosen Schnaps abgreifen? Doch noch während er darüber nachdachte erblickte er etwas, das ihn in all seinen Grundfesten erschütterte: Er sah … sich selbst?! Aber das war unmöglich! Und dennoch. Die Haare, das Gesicht, sogar die Klamotten! Es gab einfach keinen Zweifel. Jo sah sich selbst! Und sein „Zweites Ich“ war gerade drauf und dran die Bar zu verlassen! „Was zum Teufel?“, flüsterte er. Einen Moment lang sah Jo sich außer Stande zu reagieren. Doch dann hatte er sich auch schon wie in Trance in Bewegung gesetzt. Erst ganz langsam und dann immer schneller, marschierte er dem „anderen Jo“ hinterher. Dieser hatte das „Rudy’s“ inzwischen verlassen. „Eeeey, ich heiheeirateee, tringg doch eieineen mittt!“ Noch bevor Jo sich dessen erwehren konnte, hatte der Bräutigam in spe ihn auch schon in eine feste Umarmung gezogen. „Ähm, danke … Aber sorry, warte mal“, stammelte der und versuchte sich dem überraschend starken Griff zu entziehen. „Sssei doch keine Spaaaßbremsse“, nuschelte der Heiratswillige, ließ ihn dann aber los. Binnen Sekunden war Jo durch die Tür in die kalte Nacht hinausgestürmt. Doch bis auf ein paar Raucher, die sich in kleinen Grüppchen vor dem Eingangsbereich tummelten, war in beiden Richtungen der Straße niemand zu erspähen. „Hey, sorry, habt ihr hier draußen einen Typen gesehen, der so aussieht wie ich?“ Schon als Jo die Frage ausgesprochen hatte, wusste er wie albern das klang.
„Lass mal überlegen“, sagte einer der Raucher und zog seine brünette Freundin näher an sich. „Also ich glaube, wenn ich mal alle meine Detektiv-Skills auspacken sollte… Ja, doch. Hab ich gesehen!“

Sollte das Glück wirklich auf Jos Seite sein? „Und wo ist er hingegangen?“, wollte er wissen. „Nirgends, du Saftsack. Er steht genau vor mir.“ Die Umstehenden lachten. Dann hatten sie Jo auch schon wieder den Rücken zugedreht. Ganz großes Kino, er hätte wirklich nicht erwartet, sich mit 33 Jahren noch einmal wie ein vorgeführtes Schulkind zu fühlen. Fröstelnd schlang Jo die Arme um seinen Oberkörper. Obwohl es in diesem April bereits ungewöhnlich viele warme Sonnentage gegeben hatte, waren die Abende und Nächte nach wie vor ekelhaft kalt. Und Jo trug keine Jacke. Vielleicht hatte er sich ja doch getäuscht? Dennoch, das unangenehme Gefühl in seiner Magengrube wollte sich selbst dann nicht abstellen lassen, als er die Bar schon längst wieder betreten hatte, um zu seinen Freunden zurückzukehren. „Sag mal, bist du ins Klo gefallen, oder was?“, Roman musste über seinen eigenen Witz lachen. Dann zeigte er Jo das „neue“ Bier, von dem inzwischen alle aus der Gruppe zumindest einen großen Schluck genommen hatten. „Damit es nicht schlecht wird“, gab der Assistenzarzt als Begründung.
„Hats wenigstens geschmeckt?“, fragte Jo und zog seine zuvor abgelegten Habseligkeiten an sich. Das Handy hatte inzwischen eine nicht unwesentliche Menge Bier abbekommen. „Na, wer solche Freunde wie euch hat, braucht keine Feinde mehr“, sagte Jo und rang sich ein Grinsen ab. Dann grabschte er nach einer Serviette, um sein Handy trockenzulegen. Dabei musste er auf einen der seitlichen Knöpfe gekommen sein. „Ich sehe dich fallen.“ War Jos Herz beim Anblick seines eigenen „zweiten Ichs“ bereits in die Hose gerutscht, so versanken jetzt alle seine Eingeweide im Bodenlosen. „Ich sehe dich fallen.“ Weiß auf Schwarz lachten ihm diese Worte von seinem aktivierten Handybildschirm entgegen. Zweimal hintereinander drückte Jo rasch auf den An-/Ausschalter seines Mobiltelefons. Der Bildschirm wurde schwarz und aktivierte sich erneut. Die Worte im Hintergrund waren nicht verschwunden. Jo starrte. Starrte, ohne zu wissen, was um alles in der Welt er denken sollte. Doch dann fielen ihm Jasminas Worte von eben wieder ein. „Sehr lustig, sehr lustig“, sagte er laut und fiel dabei unwissentlich Leon ins Wort, der gerade eine Geschichte zum Besten gegeben hatte. „Ich war doch noch gar nicht fertig?“, sagte der irritiert. Auch die anderen hatten Jo nun überrascht die Köpfe zugewandt. Dieser hatte seine Augen nach wie vor stur auf den leuchtenden Bildschirm in seinen Händen gerichtet. „Fotos auf dem Handy, schon klar! Schon klar. Schon klar. Ja, ja.“

„Hä?“, fragte Jasmina. „Hä?“, sagte Leon. Roman sagte nichts, verdutzt blickte er auf Jos halbvolles Bier, dann auf dessen Handy und dann schließlich zu ihm selbst, der die dunkelbraunen Augen verdächtig lange aufgerissen hatte, ohne auch nur einmal zu zwinkern. „Ihr wart also an meinem Handy. Darüber… kann ich nicht lachen.“ Nach einigen Sekunden, ohne berührt zu werden, erstarb das Licht des Telefons erneut. Das hielt Jo allerdings nicht davon ab, es nach wie vor zu betrachten. „Dein Handy?“, Jasminas Stimme klang besorgt. „Jo, ernsthaft. Wir sind doch keine zwölf mehr. Das lag die ganze Zeit hier.“ Mit einer fließenden Bewegung lehnte sie sich nach vorne über den klebrig kalten Tisch. Sie suchte Jos Blick. Dann legte sie ihm ihre warme Hand auf den Arm. „Jo, geht’s dir gut?“ Mit kalten Augen sah der nun endlich auf. Niemals hätte er es sich träumen lassen, dass ausgerechnet seine Freunde ihm etwas derartiges antun könnten. Seine Ängste, seine Sorgen. Das ausgerechnet sie sein Geheimnis- „Ich verschwinde!“ Quietschend sprang der Stuhl einen halben Meter zurück, als sich Jo, ohne sich auch nur einmal nach den anderen umzudrehen, von ihrem gemeinsamen Tisch entfernte. Das Adrenalin hatte seinen Körper schon längst in seinem brennend heißen Griff. Jetzt hieß es Fight or Flight. Kämpfe oder flüchte … „Oder falle!“, trieb ihn die böse Stimme in seinem Kopf an. Jetzt begann er tatsächlich zu rennen. Die zwei Straßen zurück zum Marien-Hospital hatte er sehr schnell zurückgelegt.

Das winzige Zimmer, das ihm gegen einen geringen Obolus als Nachtstätte diente, lag düster vor ihm. Jo warf die Tür ins Schloss. Mit einem leisen Klicken drehte er den Schlüssel herum, dann ließ er sich im Dunkeln auf der Bettkante nieder. Obwohl sein Herz von dem schnellen Sprint und dem überraschenden Adrenalinstoß noch immer wie wild in seiner Brust hämmerte, gewann hier, in der Einsamkeit seiner eigenen vier Wände, so langsam aber sicher die Vernunft wieder die Oberhand. „Also gut“, hauchte er atemlos zu sich selbst. Jetzt galt es das Ganze möglichst objektiv zu betrachten. Wenn seine Freunde ihm dieses grauenerregende Bild auf sein Handy geladen hatten, dann musste es dafür doch irgendeinen Grund und vor allem irgendeinen Beweis geben. Plötzlich viel es ihm wie Schuppen von den Augen. Der Zeitstempel!

Jedes Bild in der Galerie war mit der Information hinterlegt, wann das Foto geschossen oder eben auf dem Handy gespeichert worden war. Und wenn dieser Zeitstempel den heutigen Abend, also den 26. April 2019 – etwa zwischen 20 und 21 Uhr – abbildete, war die Sache klar. Seine Freunde hatten das Bild während seines Toilettengangs auf sein Smartphone geladen und als Bildschirmhintergrund aktiviert. Mit seinem Zeigefinger navigierte Jo über den großflächigen Touchscreen des Gerätes. „Die Galerie, die Galerie …“, murmelte er. Seine Augen flogen in einem Sekundenbruchteil über die vertraute Anordnung der Applikationen. Nur, dass diese ganz und gar nicht vertraut war. So befand sich etwa die App „Instagram“ plötzlich nicht mehr auf ihrem Platz in der unteren linken Ecke; und das Icon für den Kalender war knallrot und nicht mehr blau wie noch zuvor. Jo stutzte. Was war hier los?

Die Galerie fand er nach einigem Suchen. Der schwarze Hintergrund forderte auch beim Navigieren seinen Tribut. Erneut war da dieses mulmige Gefühl, das ihn schon bei dem Anblick seines „Zwillings“ so schlagartig überkommen hatte. Mit geschlossenen Augen stieß er den lauwarmen Atem zwischen seinen Lippen hervor. Dann berührte er den Bildschirm und die Galerie öffnete sich.

Das Bild mit der unheilvollen Nachricht war im Ordner unter „Kamera“ abgelegt. Aber es war nicht das einzige Schreckensgespenst, das ihn dort erwartete. „Falsch… Das ist völlig falsch!“ Bestürzt nahm Jo zur Kenntnis, dass der gesamte Ordner ausschließlich mit Fotografien von ihm selbst gefüllt war. Nicht etwa mit Selfies, das hätte er ja noch irgendwie verstanden. Es waren Aufnahmen, die ihn aus den verschiedensten Perspektiven zeigten. Aber selbst aufgenommen hatte er sie nicht! Schnell wischte Jo über den Bildschirm, um sich einen Überblick über all die verstörenden Bilder zu verschaffen. Dabei sah er sich selbst, wie er sich in der Kantine am Automaten einen Becher Kaffee holte. Dann wiederrum, wie er sich in der Raucherecke mit Roman unterhielt. Auch Dr. Grünstich war unter den abgebildeten Personen. Etwa wie er die Kinderklinik des Marien-Hospitals betrat. Und… „Nein!“, brachte er hervor. Das konnte nicht sein! Da war tatsächlich ein Selfie dabei. Und das zeigte Dr. Grünstich… vor der Zimmertüre „B 513“…

FLATSCH. Das Handy war ihm aus den Fingern geglitten. Tränen benetzten Jos Gesicht. „Nein…. NEIN!“ Bitte nicht! Das konnte, nein, das durfte nicht sein! Er wollte schreien, er wollte lachen, er wollte… „Fallen…“, Jo zuckte zusammen als ihm dieses letzte-, dieses widerwärtige Wort laut entfuhr. Einige Minuten lang saß er nur da. Geschüttelt von Tränen. Dann griff er zu Boden. Wenn es unter seinen Freunden wirklich jemanden gab, der sein Geheimnis kannte – und die Beweise dafür waren erdrückend – dann musste er wissen, wer. Die Gesichter der Drei flackerten rasch vor seinem geistigen Auge auf. Da war Jasmina, polnisch, blond, schön und freundlich. Aber auch dominant, nachtragend und kleinlich. Leon, lebenslustig, ehrlich und hilfsbereit. Aber auch aufdringlich, arrogant und extrem eifersüchtig. Roman. Nun, dass Roman ausgesprochen intelligent und ehrgeizig war, stand außer Frage. Er war aber auch ein Egomane, der niemals etwas für jemand anderen tun würde, wenn er für sich darin keinen Vorteil sah. Das waren sie also. Jasmina, Leon, Roman. Seine Freunde. Hatten sie wirklich das Zeug dazu, Jos Leben zu zerstören? Um das herauszufinden gab es nur den einen Weg.

Die Suche nach dem Zeitstempel kostete ihn einige Minuten. Dann entdeckte er das winzige eingekringelte „i“, welches ihm nun endlich Gewissheit schenken würde.

„Freitag, 5. April 2019, 9.43 Uhr“ – das schwarze Bild mit der weißen Schrift war also doch nicht am heuten Tag auf das Smartphone geladen worden!? Er spürte Erleichterung. Dann waren seine Freunde vielleicht doch nicht schuld an diesem Ärgernis. Jo wischte weiter und arbeitete sich so Bild für Bild bis hin zum allerletzten in der Galerie hindurch.

„Dienstag, 12. März 2019“, „Samstag, 2. März 2019“, „Dienstag, 8. Januar 2019“, …. So ging das immer weiter bis hin zum „Mittwoch, 7. Februar 2018“. Das Foto, es zeigte Jo, in seinem dunkelblauen Lieblingsshirt und mit einem Paar seiner bequemsten Jeanshosen, war also über ein Jahr alt! Unschlüssig drehte Jo das Mobiltelefon in seinen Händen. Nur wenige Rillen und unscheinbare Abnutzungserscheinungen waren auf der matten Alubeschichtung ertastbar. Der Verdacht, dass es sich bei diesem Gerät vielleicht doch nicht um sein eigenes Telefon handelte, wuchs in ihm mehr und mehr. Ebenso wie die Frage, welcher Mensch seinem Geheimnis auf die Spur gekommen war. Der ihn schon seit so langer Zeit verfolgte? Und wie? Ja, wie hatte es diese ominöse Person geschafft, das Handy so unmittelbar vor der Nase von Jos besten Freunden zu vertauschen?

So plötzlich wie Jo diese letzte Frage durch den Kopf geschossen war, so plötzlich fiel es ihm ein: sein „zweites Ich“! Noch vor etwas mehr als einer Stunde war er davon überzeugt gewesen, sich selbst aus dem „Rudy’s“ herausspazieren zu sehen! Und wenn er selbst, er, der sich jeden Tag unzählige Male im Spiegel sehen konnte, auf diese Täuschung hereinfiel… Konnte dasselbe dann nicht auch seinen besten Freunden passiert sein? Je länger Jo darüber nachdachte, desto schlüssiger erschien es ihm. Hatte dieser „andere Jo“ nicht auch ähnliche, wenn nicht sogar die gleichen Kleider getragen wie er? Ja! Ja, genau so musste es gewesen sein!

„Der Mistkerl hat also abgewartet, bis ich aufs Klo gegangen bin“, fasste Jo die Ereignisse des Abends zusammen. „Er muss schon eine ganze Weile in dem überfüllten Laden auf der Lauer gelegen haben. Dann ist er einfach so an unseren Tisch spaziert.“ Vielleicht hatte er den anderen noch eine müde Ausrede geliefert, weshalb er schon wieder zurück war. Das Handy musste er bei diesem kurzen Abstecher ausgetauscht haben. Dann verließ er die Bar. „Aber dieser Wichser hat nicht damit gerechnet, dass ich ihn sehen könnte“, mit einem triumphierenden Glitzern in den Augen sah Jo hinüber zum Fenster. Dem würde er es schon noch zeigen! Sein Geheimnis musste – komme was wolle – ein Geheimnis bleiben….

Poch, poch, poch. „Jo? Johannes!“

Knurrend raufte sich Jo die Haare. Die Nacht war nach den aufwühlenden Ereignissen des Abends alles andere als erholsam gewesen. Erneut hämmerte es laut gegen seine Zimmertüre. „Jo, mach jetzt auf oder ich hole den Hausmeister!“ – Es war Jasmina. Mehrmals wurde die Klinke heruntergedrückt doch die Tür bewegte sich keinen Spalt breit. Jo hatte abgeschlossen. „Jo!?“ Jasmina klang hysterisch. „Schon gut, schon gut“, rief er endlich als Antwort. „Ich mach ja auf, warte…“

Hastig zog er seine vom Vortag zerknautschte Hose über. Sie müffelte nach kaltem Rauch und Bier. Aber das war jetzt auch egal. Immer noch besser, als wenn Jasmina ihm noch Wonder-Women-like die Tür eintrat. Dann sperrte er auf und ließ den Schreihals eins. „Gott im Himmel, Jo!“, ohne eine Einladung abzuwarten, war Jasmina auch schon einige Schritte an Jo vorbei ins Zimmer gestürmt. Dann wandte sie sich mit aufgerissenen Augen nach ihm um. Ihr Tonfall wechselte – eben typisch Frau – sofort von besorgt zu vorwurfsvoll. „Weißt du eigentlich was für Sorgen ich mir gemacht habe?“, rief sie laut. Ihre Hände warf sie dabei ausladend in die Luft. „Erst so komisch rumspinnen und dann einfach abhauen? Ich hab dich bestimmt 30 Mal angerufen und dir 10 000 Nachrichten geschrieben! Ist es wirklich zu viel verlangt mal kurz zu reagieren?“ Dann hielt sie doch einen Augenblick inne, um Jo einen prüfenden Blick zuzuwerfen. „Du siehst übrigens übel scheiße aus, wenn ich das Mal sagen darf. Also ich hoffe, du hast eine gute Erklärung!“

„Fürs scheiße aussehen?“, Jo grinste. Dann winkte er Jasmina hinüber zu einem kleinen Tischchen und die beiden ließen sich auf zwei unbequemen Krankenhausstühlen nieder. „Du hast recht, ich hätte nicht einfach abhauen dürfen“, fügte er schnell hinzu, weil Jasmina schon wieder empört den Mund öffnete. „Aber schau mal, ich habe wirklich eine gute Erklärung!“ Dann zog er das Smartphone hervor und legte es vor Jasminas Nase auf den Tisch. „Da!“, sagte er.

„Was genau soll mir das jetzt sagen?“, mit spitzen Fingern stupfte sie gegen das soeben abgelegte Telefon. „Machst du plötzlich Digital Detox oder was?“ „Das Ding da“, antwortete Jo unbeeindruckt. „Ist nicht mein Handy.“ Jasmina griff danach. „Nicht dein Handy? Das ist doch deins, ich erkenn es doch!“ „Nein“, sagte Jo und er versuchte krampfhaft nicht allzu siegesgewiss zu klingen. „Denn meines wurde gestern durch ein anderes, eines das genauso aussieht ausgetauscht.“

Einen Moment lang war Jasmina sprachlos. Ganz erschien es Jo, als sei sie über den bösen Komplott, dem Jo zum Opfer gefallen war, ebenso überrascht wie er. „Okay“, sagte sie. Und dann nochmal: „Okay.“ Schnell huschten Jasminas Augen zu Jo. Dann erneut zu dem Handy zwischen ihren Fingern und zurück. „Und von wem glaubst du, wurde dein Handy… ausgetauscht?“

„Das klingt jetzt alles ziemlich seltsam. Aber ich glaube, es war dieser Kerl.“ Vorsichtig zog Jo Jasmina das Gerät aus der Hand. Sorgsam darauf bedacht, sie nicht auf den Bildschirm spicken zu lassen, suchte er nach dem Selfie von Dr. Grünstich. Er hielt es ihr – so herangezoomt, dass die Zimmernummer im Hintergrund nicht zu erkennen war – vor die Nase.
Fast 30 Sekunden lang sagte Jasmina kein Wort. Dann besann sie sich. „Jo“, Jasmina flüsterte fast. „Das bist du.“ Entnervt verdrehte der die Augen. „Nein, eben nicht!“, rief er. „Das ist nur einer, der aussieht wie ich und er hat sich als Dr. Grünstich verkleidet! Und der gleiche Typ war auch gestern bei euch am Tisch, während ich auf dem Klo war. Er hat mein Handy ausgetauscht!“ Ärgerlich ballte Jo seine Hände zu Fäusten. Wieso raffte Jasmina das denn nicht! „Das ist nicht mein Telefon!“, wiederholte er aufgebracht. „Deswegen habe ich auch keinen einzigen deiner Anrufe bekommen!“

Wortlos zog Jasmina ihr eigenes Handy aus der Tasche. „In Ordnung, Jo“, sagte sie. „Das sollten wir ja recht einfach überprüfen können.“ Sie drehte den Bildschirm, sodass Jo genau verfolgen konnte was sie mit ihrem Telefon tat. Sie wählte den Button mit den Kontakten, swipte rasch durch das Alphabet und blieb dann bei „J“ wie „Jogi Bär“ schließlich hängen. „Das ist deine Nummer“, sagte sie und wartete ab bis Jo nickte. Nun würde sie ja gleich sehen, dass es stimmte. Dass er die ganze Zeit über Recht behalten hatte! Dass dieses Gerät hier auf dem Tisch nicht sein Handy war. Jasmina betätigte den Rufknopf.

BRRRRR BRRRRRR BRRRRRRR Der Vibrationsalarm auf Jos Telefon erwachte prompt zum Leben. „Eingehender Anruf: Jassi“

Fassungslos beobachtete Jo wie das Gerät zu dem monotonen Brummen langsam über den Tisch tänzelte. Sein Herz beschleunigte den Takt. „Siehst du das?“, fragte Jasmina. Ihre Stimme klang vorsichtig. Jo mied ihren Blick. Er sah es, ja. Aber das bewies rein gar nichts. Er wusste schließlich, dass dieses Drecksteil zuvor kein einziges Mal geklingelt hatte. „Das ändert nichts“, sprach er den Gedanken mit zusammengebissenen Zähnen aus. Das Handy brummte indes immer noch. Am liebsten hätte er es gegen die Wand geschmissen, um dem ganzen Unsinn so ein promptes Ende zu bereiten. Aber das hätte ihm die Möglichkeit geraubt, seinem ominösen Zwilling auf die Spur zu kommen. „Das ist nicht mein Telefon.“

„Du siehst doch, dass es klingelt“, ergänzte Jasmina mit mehr Nachdruck. „Hör mir doch zu, das ist nicht mein Handy!“, wehrte er ab. Eines war klar. Wenn Jasmina jetzt nicht gleich mit diesem dummen Gefasel aufhören würde, konnte Jo nicht mehr dafür garantieren, dass ihm seine freundliche Stimme nicht entglitt. Doch Jasmina, die weder die pochende Ader an Jos Stirn noch das leichte Zittern seiner Hände zu registrieren schien, sprach unbedarft weiter. „Vielleicht bist du einfach überarbeitet“, vermutete sie. „Wie wäre es, wenn ich uns einen Kaffee hole. Und dann reden wir in aller Ruhe darüber, was dich bedrückt. Vielleicht könnten Leon und Roman ja auch-“ „ICH BIN NICHT ÜBERARBEITET!“ Erschrocken ob des plötzlich lauten Tonfalls, sprang Jasmina von ihrem Sitzplatz auf. Die Hände hatte sie zu einer abwehrenden Geste erhoben, die Jo nur noch wütender machte. „Schon gut!“, rief sie, ganz offensichtlich unsicher, wie nah sie ihm in diesem Augenblick kommen sollte. „Schon gut. Aber Jo, bitte beruhige dich!“ Damit war das Fass nun endgültig zum Überlaufen gebracht.

„ICH BIN RUHIG!“, schrie er.  „UND ICH WILL MICH NICHT BERUHIGEN!“ In jeder anderen Situation hätte dieses Paradoxon Jasmina vielleicht zum Lachen gebracht. Gerade jetzt wollte sie allerdings nur noch eines: so schnell wie möglich aus Jos Reichweite verschwinden. Hastig stolperte sie aus dem Zimmer. Jo hielt sie nicht davon ab. In zusammenhangslosen Sätzen kämpften die Gedanken um seine volle Aufmerksamkeit. Jasmina hatte keine Ahnung! Er wusste genau was er gesehen hatte. Das Handy gehörte ihm nicht! Und wenn Jasmina die Handynummer dieses fremden Telefons besaß, dann konnte das doch nur eines bedeuten: sie war doch in den Komplott involviert.

Ach wirklich?“, flüsterte die Stimme in seinem Kopf, die sich mit ihrem vergifteten Tonfall sofort ganz nach vorne schlängelte. „Hast du nicht gerade gesehen, dass sie deine Nummer gewählt hat?“ Das brachte Jo ganz schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Es stimmte. Jasmina hatte seine Nummer gewählt. Jo eilte auf den Gang hinaus. Seine Freundin war allerdings längst verschwunden. „Ich habe den Kerl wohl unterschätzt“, sagte Jo. Dann ging er in sein Zimmer zurück. Der Doppelgänger war gefährlicher als zunächst angenommen. Wie denn auch sonst hatte er sich Jos Handykontakte beschaffen und eine fast exakte Kopie des Gerätes anfertigen können? Dass er von Jos echtem Mobiltelefon aus eine Rufumleitung eingestellt haben musste, war ihm inzwischen allerdings völlig klar.

Nachdenklich rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger über die Schläfen. Ein dünner Schweißfilm klebte darauf. Was konnte er tun? Kurz dachte Jo an die letzte Folge Navy-CIS, die er vor einiger Zeit im Fernsehen gesehen hatte. Die Ermittler hatten den Besitzer eines Mobiltelefons über dessen Seriennummer ermitteln können. Aber Jo war weiß Gott kein Technik-Crack. Er kannte auch niemanden, der das für ihn erledigen konnte. Zur Kripo besaß er natürlich ebenfalls keine entsprechenden Kontakte. Er wäre sogar damit überfordert gewesen, Fingerabdrücke von dem Telefon zu nehmen. Jeder Gedanke, der in eine solche Richtung ging, war also geradezu absurd. Einen Hinweis gab es da allerdings. Auch wenn Jo sich schwertat, diesem nachzugehen. Dabei müsste er das Marien-Hospital dazu noch nicht einmal verlassen… Wieder nahm er sein Handy zur Hand. Die Zimmertüre mit der Nummer „B513“ kreischte ihm nach wie vor von dem einzigen Selfie entgegen.

„B513“, es war unsinnig danach zu fragen, wie lange er diesen Raum schon nicht mehr betreten hatte. Jo kannte die Antwort auf den Tag genau. Zehn Jahre lang hatte er um die Station einen großen Bogen gemacht. Wie es dort heute nach all den Modernisierungsmaßnahmen aussah, konnte er daher gerade mal erahnen. Aber wollte er das überhaupt wissen? Sollte er seine Vermeidungsstrategie ausgerechnet heute unterbrechen? Noch einmal ging Jo die Anhaltspunkte durch. Das „Rudy’s“, das fremde Handy, die Fotos, seine Freunde. Andere Indizien hatte er nicht. Dass ein Gespräch mit seinen Freunden ihn keinen Schritt weiterbringen würde, dass hatte ihm Jasminas Reaktion bereits zu Genüge bewiesen. Also was tun? Natürlich hätte er auch einfach so weitermachen können wie zuvor: er könnte am Montag in Dr. Grünstichs übergroße Schuhe schlüpfen, sich schminken, Witze reißen und lachen wie vorher. Ja, das könnte er tun. Aber was, wenn der „Zwilling“ redete? Wenn dieser furchtbare Mensch das Wissen preisgab, das Jo nun schon seit zehn Jahren hütete? Dann wäre seine „Karriere“ von heute auf morgen beendet. Mehr noch: sein Leben, seine Freiheit, alles was ihn vermeintlich ausmachte war dann in Gefahr. Jo fasste einen Entschluss. Dazu durfte er es nicht kommen lassen!

Dass Jo nicht gerade an einem Samstagvormittag auf die Station „B“ marschieren würde, stand außer Frage. Der Samstag war ein ganz typischer Besuchstag. Da trauten sich selbst die nachlässigsten Angehörigen aus ihren Löchern, um den vergessenen Patienten mal wieder einen Anstandsbesuch zukommen zu lassen. Das galt auch für die Station „B“. Obwohl sich dort freilich mit Abstand die wenigsten Besucher herumtrieben. Dennoch würde Jo den Anbruch der Nacht abwarten. Wenn die Nachtschwester ihren einsamen Dienst verrichtete war seine Zeit gekommen.

Die Sonne war längst hinter dem Horizont verschwunden, als Jo sich endlich auf seinen Weg ins Ungewisse machte. Den Tag über hatte er sich in seinem Zimmer eingeschlossen. Zwei, drei Mal wurde an der Tür geklopft. Aber das hatte er wohlweislich ignoriert. Jetzt lagen die Gänge des Marien-Hospitals im Halbdunkel. Das Krankenhaus war zu dieser späten Stunde selbstverständlich keineswegs verlassen. Auf jeder Station musste zumindest einer der Pfleger die Nachtschicht übernehmen. Übermüdete Assistenzärzte huschten gelegentlich von einer Abteilung zur anderen. Jo hatte allerdings Glück. Auf seinem Weg zur Station „B“ begegnete ihm keine Menschenseele.

Wie erwartet war der lange Krankenhausflügel wie ausgestorben. Die zahllosen Türen zu beiden Seiten lachten Jo mit ihren Schlündern rachsüchtig entgegen. Klack, klack, klack. Obwohl der hellblaue Kunststoffboden das Geräusch seiner Schritte weitestgehend schluckte, erschien es Jo schier unerträglich laut. Ob es die Nachtschwester wohl auf den Plan rufen würde? Doch die hatte es sich mit einer dampfenden Tasse Kaffee gerade im Schwesternzimmer gemütlich gemacht. Nach ihr „klingeln“ würde hier ohnehin niemand, so viel war klar. „B509“, „B510“ … Jos Lippen bewegten sich stumm, während er die aufsteigenden Türnummern im Vorbeigehen rasch registrierte. Die Beschilderung war noch die gleiche wie früher. So befand sich auch die „B513“ nach wie vor am gleichen Platz. Jo würgte.

Noch war es nicht zu spät. Er konnte abhauen, von hier verschwinden. Einfach so weitermachen, als wenn nichts gewesen wäre. Aber tief in seinem Inneren wusste Jo bereits, dass es kein Zurück mehr gab. Bebend legte er seine Hand auf die Klinke. Dann drückte er sie mit angehaltenem Atem schnell herunter.

Zehn Jahre zuvor:

Einfach mal fünf Minuten Ruhe. Das war doch wohl kaum zu viel verlangt? Mit gespitzten Ohren flitzte Jo durch die Gänge der neurologischen Abteilung „B“. Zu sehen oder gar zu hören gab es hier im Augenblick allerdings niemanden. „Perfekt!“ Jo feixte. Mehr oder weniger willkürlich blieb er vor der Zimmertüre „B513“ stehen. Da Jo an einem „13.“ Geburtstag hatte, verbuchte er es als gutes Zeichen, wenn er sich in dieses Zimmer zurückziehen konnte. Nach einem prüfenden Blick in beide Richtungen – es war niemand da – drückte er die Türklinke mit seinen behandschuhten Fingern rasch herunter. Dann schlüpfte er in das Krankenzimmer und schloss die Tür hinter sich. „Tschhhhhh Tschhhhhh“, das war das Geräusch, das Jo hatte hören wollen. Der Patient, der da in seinem Krankenbett friedlich schlummerte, zuckte noch nicht einmal mit der Wimper, als sich Jo ihm vorsichtig näherte. Tja, so war das hier auf der Neuro eben. Die Koma-Patienten bekamen nichts mit von dem ganzen Wahnsinn um sie herum. Daher würde es den hier – Jo konnte am Bett das Namensschild „Bernhard Weinknecht“ erspähen – sicher kaum stören, wenn er in seinem Zimmer ein kleines Nickerchen machte. Das unaufhaltsame „Tschhhhh Tschhhhh“ des Beatmungsgerätes klang ja fast schon so, als wollte es ihn in den Schlaf wiegen. Bernhard Weinknecht war seinem Aussehen zufolge zwischen 55 und 60 Jahre alt. Er hatte hellbraunes, von weißen Strähnen durchzogenes Haar. Die Geheimratsecken traten deutlich hervor. Das Gesicht des Mannes war unter einem Kabelwirrwarr und dem dicken Beatmungsschlauch halb verdeckt. Er gehörte mal wieder rasiert, so viel nahm Jo als Pflegepraktikant allerdings zur Kenntnis. Zugegeben, auf der Neuro hatte er eigentlich überhaupt nichts verloren. Aber hey, wer konnte ihm seinen kleinen Ausflug verübeln? Nach so einer Nacht!

Erst um 4 Uhr morgens war Jo nach einer ordentlichen Zeche in sein Bett getorkelt. Nur, um dann um 6.20 Uhr schon wieder zum Dienst zu erscheinen. Wäre ja auch alles kein Problem gewesen, wenn sich der andere Prakti für die Spätschicht nicht krankgemeldet hätte. Doch so wurde Jo kurzerhand zu einem „geteilten Dienst“, also dem „Dienst für Deppen“ eingeteilt. Bei dem galt es zunächst eine Frühschicht zu übernehmen. Nur um dann abends gleich nochmal zur Spätschicht aufzukreuzen. Wen wunderte es da also, dass sich Jo nach einer kleinen Ruhepause sehnte? Seufzend ließ er sich auf einem Stuhl neben dem Krankenbett nieder. Die riesige Beatmungsmaschine verrichtete unaufhörlich ihren Dienst. „Tschhhh Tschhhh.“ Jos Lider wurden schon nach wenigen Sekunden schwer. Er gähnte. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. Lediglich dessen Hinterbeine berührten jetzt noch den Boden. „Tschhhh Tschhhh“ Ein herrliches Geräusch. „Tschhhh Tschhhh“ Einfach herrlich.

In seinen Träumen war Jo wieder ein kleiner Bub von sieben Jahren. Es kümmerte keinen, ob er sein Abi schaffte. Auch sein Beitrag zum Deutschen Bruttoinlandsprodukt juckte kein Schwein. Wenn er nur niedlich genug mit seinen braunen Äuglein klimperte, durfte er den ganzen Tag auf der Schaukel verbringen. Vor und zurück. Vor und zurück. Jo schaukelte höher und höher. Seine Beine schwangen ausgelassen dazu. Den Garten seiner Eltern ließ er weit unter sich. Vor und zurück. Jo sah die winzigen Dächer der Stadt von oben. Weiße Wolken und sogar einer der Sterne am Himmelszelt kamen ihm jetzt beachtlich nahe. Vor und zurück. Vor und zurück. Plötzlich war die Schaukel unter Jos Po verschwunden. Haltlos stürzte er – den Rücken voran – in ein großes schwarzes Nichts. Fahrig suchten seine Finger nach einem Halt! Und tatsächlich, war da nicht ein Seil? Doch mit einem kurzen Ruck riss Jo es mit sich in die Tiefe.

Wäre Jo nicht dermaßen heftig mit dem Stuhl auf den Boden geknallt, so hätte ihn das ohrenbetäubende Fiepen spätestens jetzt aus dem Schlaf gerissen. PIEP PIEP PIEP PIEP

Verwirrt rasten Jos Augen hin und her. Orangerote Ausrufezeichen waren auf dem kleinen Monitor der Beatmungsmaschine erschienen. „Was zum?“ Dann erkannte Jo, woran er sich bei seinem Sturz festgeklammert hatte. Das dunkelrote Kabel lag noch immer in seiner Hand. Sein Fehlen hatte den schrecklichen Lärm an der Maschine ausgelöst. So schnell er konnte sprang Jo auf die Beine „Fuck!“ Wo zum Teufel war das blöde Ding nur dringesteckt? Jo entschied sich für irgendeinen der ungenutzten Stöpsel. Aber das Beatmungsgerät fiepte immer noch. „Fuck, fuck, fuck!“ Wäre Jo in diesem Moment nicht ganz so sehr auf sich selbst und die Gerätschaft konzentriert gewesen, hätte ihm mit Sicherheit auffallen müssen, dass sich Bernhard Weinknechts Gesicht ganz langsam blauzufärben begann. PIEP PIEP PIEP. Jo verlor die Nerven. Er war am Arsch! Dieses Scheißgeräusch würde sicher gleich irgendjemanden auf den Plan rufen. Und dann? Ja, dann konnte er die erhoffte Ausbildungsstelle garantiert vergessen! Wenn nur dieses verdammte Piepen endlich aufhören würde! Einem unwillkürlichen Impuls folgend, riss Jo kurzerhand das gesamte Stromkabel aus der Dose. Das Geräusch erstarb. „Und jetzt nichts wie raus hier.“ So schnell er konnte, spurtete Jo aus dem Zimmer. Dabei rannte er geradewegs in eine der fetten Pflegerinnen hinein. RUMMS. Weiß traf auf Rosa. Jung auf Alt.

„Hey, spinnst du?“ Jo stieß die Krankenschwester rasch von sich, um in Höchstgeschwindigkeit zum Treppenhaus zu gelangen. „Michi, was hast du gemacht?“ Das waren die letzten Worte, die Jo hörte, ehe er die Station „B“ endlich verlassen hatte…

Heute:

Lange starrte der zehn Jahre ältere Jo durch das Fenster in die sternenklare Nacht hinaus. Seine blasse Silhouette spähte ihm in der Spiegelung entgegen. Hier stand er nun. An dem Ort, der die Wende in seinem Leben begründet hatte. An dem Ort, an dem Bernhard Weinknecht sein fürchterlich jähes Ende fand. „Es war meine Schuld.“ Jo wurde schlecht. Hastig öffnete er das Fenster, um die kalte Nachtluft in tiefen Zügen zu inhalieren. Er begrub das Gesicht in beiden Händen. Ja, es war seine Schuld. Das stand außer Frage. Von dem Tod des Mannes hatte er zwei Tage später über eine Zeitungsanzeige erfahren. Der „Glauener Stadtbote“ lag wie immer im Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter herum. Entgegen aller Erwartungen war Jo für seine Tat allerdings niemals zur Rechenschaft gezogen worden. Es gab keine Abmahnung, keine Verhandlung und somit keinerlei Konsequenzen. Und Jo hatte geschwiegen… Hatte geschwiegen, als man ihm die Ausbildungsstelle in der Kinderkrankenpflege anbot. Geschwiegen, während er die grüne Clownsnase von Dr. Grünstich das erste Mal aufsetzte. Und er hatte geschwiegen, als das ihm untergejubelte Telefon bei Jasminas Anruf so plötzlich klingelte …

„Ich wusste, dass du hierherkommen würdest.“ Die leise Stimme hinter Jos Rücken klang düster und fremd. Jo wirbelte herum. Der Unbekannte hatte das Zimmer „B513“ geräuschlos betreten und die Tür hinter sich geschlossen. Eine Kapuze warf ihren schwarzen Schatten tief auf sein Gesicht. Jo schwieg. „Den Täter zieht es eben doch immer wieder an den Ort des Verbrechens zurück, nicht wahr?“ Der Mann gluckste. Die Art wie er seine Stimme dabei verstellte, rührte etwas in Jos Gedächtnis. Es war ein nasales Quaken. Ganz so, wie es Jo als Dr. Grünstich verwendete. „Was soll das?“, brachte er als Erwiderung zustande. Sein Tonfall klang dabei mutiger als er sich fühlte. „Was willst du von mir?“ „Von dir?“, zischte der Unbekannte mit seiner grässlichen Dr.-Grünstich-Parodie. „Sag, was will ich von mir?“ Er lachte erneut. Jos Nackenhaare sträubten sich. Dann fasste er sich ein Herz. „Du hattest deinen Spaß, jetzt zeig mir dein Gesicht! Dann können wir über alles reden.“

„Die Zeit fürs Reden ist längst vorbei“, der Unbekannte machte einen langsamen Schritt in Jos Richtung. Der wollte zurückweichen. Doch das kalte Glas des Fensters unterband diesen Versuch.  „Du hättest zehn Jahre lang Zeit dafür gehabt.“ Wieder kam der Kapuzenträger näher. Jos Kehle schnürte sich zusammen. Weg hier, bloß weg hier, schrie sein Gehirn. Aber seine Beine bewegten sich nicht vom Fleck. Einen Ausweg hätte es ohnehin nicht gegeben. Wieder dieses leise Glucksen. „Wer bist du!“, Jo rief ihm nun regelrecht entgegen. Wenn er nur laut genug war, vielleicht streckte die Nachtschwester dann ja doch den Kopf herein? Das war immer noch besser, als hier von einem Verrückten erdrosselt oder sonst was zu werden!

„Wer ich bin?“, fragte der Unbekannte. Das Grinsen war deutlich aus seiner quakenden Stimme herauszuhören. „Ich bin doch du!?“ Jos Herz setzte einen Schlag lang aus. Was zur Hölle sagte der da? Jetzt schlug der Unbekannte nun endlich seine Kapuze zurück. Fassungslos starrte Jo ihm dabei entgegen.

Da stand Dr. Grünstich … und dann auch irgendwie nicht! Die notdürftig aufgetragene Maskerade und die knallgrüne Nase zeugten von einer unbestreitbaren Ähnlichkeit. Aber das da vor ihm war nicht Dr. Grünstich. Es war auch nicht Jo. Obwohl sich die beiden zweifellos ähnelten.

Der Clown grinste immer noch. Seine gelben Zähne blitzten dabei zwischen seinen geschminkten Lippen hervor. Dann zog er ein Mobiltelefon aus seiner Tasche. Es gehörte Jo, so viel war klar. „Ein Selfie mit deinem Alter Ego gefällig, mein Freund?“, zwitscherte er. Die Augen hatte er dabei weit aufgerissen. Fröhlich zwirbelte er das Gerät zwischen seinen behandschuhten Fingern hin und her. „Du bist nicht Dr. Grünstich“, sagte Jo laut. „Und du bist auch nicht ich!“ Wenn er nur lange genug in diesem lauten Tonfall redete, dann würde irgendjemand ihre Anwesenheit bemerken. „Wirklich nicht?“ Der Clown zuckte übertrieben mit seinen Schultern. „Wie kann es dann sein, dass ich die Schuld für dein Vergehen auf mich nehmen musste?“ Jo biss sich auf die Unterlippe. „Ich weiß nicht wovon du sprichst!“, sagte er. „Der Mörder weiß es nicht!“, wieder dieses Glucksen. „Aber Michi weiß es ganz genau. Michi, der für den Mörder seinen hübschen Hals hinhalten musste!“ Jetzt waren sich Jo und „Michi“ ganz nahe. Jo erkannte die Striemen, an denen der das Make-up nur unzureichend verrieben hatte. „Rennt in die Schwester und haut einfach ab. Der Michi wars, der Michi wars. Es gab ja eine Zeugin!“ Jo hatte einige Schwierigkeiten, den zusammenhangslosen Satzfetzen zu folgen. Doch nach einigen Sekunden erschloss es sich ihm, dass man Jo auf seiner Flucht vor zehn Jahren wohl fälschlicherweise für Michi gehalten haben musste.

„Das war es dann mit Dr. Michael Berger“, raunte der und gluckste erneut. „Aber was macht ein Doktor, wenn er nicht mehr arbeiten darf? Verliert sein Geld. Verliert sein Leben.“ Die Beschreibung war in eine Art kindlichen Singsang ausgeartet. „Abgestürzt ist er. Tief gefallen!“ Dann hielt Michael Berger unvermittelt inne. „Und du?“, fragte er ernst. Alles Dr.-Grünstich-hafte war aus seiner Stimme gewichen. Michael klang wütend. „Du hast es dir hier hübsch gemütlich gemacht!“ Er besprühte Jos Gesicht mit Speichel. Jo schielte zur Tür. Die hing immer noch unbewegt in ihren Angeln. „Aber manchmal sollte man auch aufpassen, mit wem man sich verbündet, oder? Doktoren gehören zu Doktoren. Pfleger zu Pflegern. Und Clowns gehören in den Zirkus. Hast du das nicht verstanden?“ Der süßliche Gestank nach altem Alkohol raubte Jo die Luft zum Atmen. „Aber der Michael hat Freunde, weißt du? Freunde, wie den Roman. Der bringt die Männer im weißen Kittel zum Grünstich. Den Roman, kennst du den?“ Jo wollte es nicht glauben. Er konnte es nicht glauben! Dann hatte einer seiner Freunde also doch mit der Sache zu tun… Er schluckte. Und doch war er zugleich froh, dass weder Leon noch Jasmina sein Geheimnis kannten. Der Gedanke an die beiden war es auch, der den letzten Funken Widerstand in Jos Brust letztlich noch einmal zum Erglühen brachte. Wenn er zwischen einem Gespräch mit der Polizei und diesem Verrückten hier wählen musste, dann nahm Jo doch lieber die Polizei. Ohne Vorwarnung griff er nach Michaels Armen, um ihn mit einem kräftigen Schubser zur Seite zu drängen. Dabei hatte er das geöffnete Fenster zu seiner Linken leider völlig vergessen. Michael gluckste unbeeindruckt, während Jo verzweifelt mit ihm rangelte. „Was für ein Spaß! Wir haben Publikum!“ Jetzt starrte Jo seinem vor Anstrengung verzerrten Gesicht in der Fensterscheibe entgegen. Michael packte ihn am Hinterkopf und stieß ihn dann gnadenlos in die Richtung der gläsernen Front. Ein Schlag. Und noch ein Schlag. Jo hörte das Splittern von Glas und doch registrierte er es nicht. Er schmeckte das Blut und doch verstand er nicht was er da schluckte. Jo fühlte den Wind und doch wusste er nicht was mit ihm geschah.

Jo fiel. Und Jo hasste es zu fallen. Mit rasanter Geschwindigkeit riss es ihn – den Rücken voran – Meter für Meter weiter ins Nichts. Die Farben um ihn her vermischten sich zu einem grauenerregenden Kaleidoskop aus Blau, Rot, Weiß und Schwarz, Angst und Verzweiflung. Jo wollte schreien. Doch seine Stimme versagte ihm den Dienst. Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, diesem Albtraum zu entkommen? Und tatsächlich! War da nicht ein Seil? Fahrig griff Jo nach oben, um diese eine letzte Rettung zu ergreifen. Doch es gab keines. Er griff ins Leere. Mit einem stummen Schrei des Entsetzens fiel Jo immer weiter in die Tiefe.

6 thoughts on “Die Maskerade des Clowns

  1. Toll geschrieben, für ne Kurzgeschichte meiner Meinung nach zu lang, aber das trübt das Leseerlebnis keineswegs! Vor allem wie du das fallen beschreibst hat mir richtig gut gefallen. Am Anfang und am Ende. Aber am besten in der Rückblende man hatte fast das Gefühl man fällt mit.

    Clowns machen den meisten Menschen Angst, dass hast du gut ausgenutzt für deine Geschichte. Der Plot ist richtig gut…

    Aber was mir am besten gefällt, diese Geschichte war wohl für mich geschrieben…Leon und Jo. Das kann kein Zufall sein..🤗😅

    LG Frank aka leonjoestick ( Der Ponyjäger)

  2. hi, ich finde deine Geschichte echt gut durchdacht. Dein Schreibstil hat mir auch gut gefallen. ich hoffe du bekommst noch ein paar Likes mehr. hast es verdient. Von mir bekommst du auf jeden Fall eins.
    Schau doch auch mal bei meiner Geschichte vorbei und lass mir dein Feedback da.
    LG, Patricia

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