normaDie Melodie

Die Oktobertage machen mir eigentlich immer zu schaffen. Der Dauerregen, der heftige Wind, die sich mehrenden Lagen an Klamotten und die tristen Gesichter, die sich keine Spur eines Lächelns erlauben. Heute jedoch kann ich von alledem nichts spüren. Die Sonne, so scheint es, hat noch einmal alles in ihrer Kraft stehende getan, um die Parks und Cafés zu füllen. An den Eisdielen bilden sich lange Schlangen und die Gesichter sind erhellt. Man vernimmt ein betriebsames Brummen, dass durch das Lachen und die Gespräche der Spaziergänger entsteht, die mit Flaschenbier die Straßen und Plätze füllen. Auch ich bin Teil einer dieser Gruppen und bis spät in den Abend hinein sitzen wir beisammen.

Schließlich wird mir kalt und ich bereue, mir lediglich die dünne Sommerjacke über den grauen Pulli geworfen zu haben. Heute Mittag schien das eine gute Idee zu sein, aber jetzt nach Sonnenuntergang, ist das jedoch der Auslöser für meinen ungewollt vorzeitigen Abschied von den anderen. Für den Heimweg hole ich mir ein weiteres Bier vom Kiosk, stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren und mache mich auf. Ohne die Kopfhörer gehe ich momentan nicht gerne raus. Immer wieder höre ich dieses schrille Pfeifen, das ab und an eine Melodie zu formen scheint. Das ist natürlich absurd, dennoch kann ich es nur ausblenden, wenn ich sie mit Musik übertöne. Auch ein Arzt konnte keinen Tinnitus oder ähnliches feststellen. In letzter Zeit scheint das Pfeifen frequentierter zu werden und da ich dabei so sehr mit den Gedanken abdrifte, bleibe ich öfter zu Hause. „Bevor es zu schlimmeren Ausfällen kommt und ich vor ein Auto laufe“, meine ich einmal zu einer Freundin, die sich nach meinem Verbleib erkundigt. Auch schlafen kann ich nicht mehr so gut. Seit einigen Wochen habe ich immer wieder Nächte, in denen ich gar keinen Tiefschlaf habe. Völlig gerädert wache ich am nächsten Morgen auf, ganz so als hätte ich keine Minute Ruhe gehabt. Ich denke, ich träume schlecht, kann mich jedoch nie an einen Traum erinnern. In meinem Kopf herrscht gähnende Leere. Nur dieses dumpfe Unwohlsein meldet sich. Ein Gefühl etwas Schreckliches gesehen zu haben.

Ich habe es nicht allzu weit und entscheide mich zu Fuß zu laufen. Die Bewegung lässt meine von der Kälte steifen Glieder wieder etwas auftauen, als ich in den Park laufe. Es ist bereits dunkel und eigentlich sollte ich nicht alleine dadurch laufen. Ich höre schon das vorwurfsvolle, jedoch lediglich sehr besorgte, Nörgeln meines Vaters durch den Telefonhörer. „Kind, da kann dir sonst was passieren…“ Das Kind ist mittlerweile fast dreißig Jahre alt, muss aber dennoch bei dem Gedanken an die Worte meines Vaters schmunzeln. „Einmal Kind, immer Kind“, heißt es bei uns in der Familie und irgendwie stimmt das natürlich. Nun laufe ich schon eine ganze Weile und merke, dass dies nicht mein Heimweg ist. Als ich realisiere, dass ich wieder wie ferngesteuert irgendwo anders hingehe, bleibe ich stehen, um mich zu orientieren. Alles kommt mir bekannt und vertraut vor. Jedoch ist das nicht im Ansatz der Weg, den ich zu mir nach Hause gehen will oder je würde. Gerade als ich mich zwischen zwei Liedern befinde und somit wieder empfänglich für die Geräusche meiner Umgebung bin, höre ich ein Geräusch. Ich blicke auf und nehme einen Hörer aus den Ohren. Da ist es wieder. Ein Summen oder Vibrieren. Ich blicke mich um, kann aber weit und breit keine Menschenseele sehen. Wo bin ich hier nur gelandet und wieso? Ich versuche das Summen zu orten, gleichzeitig wird das Pfeifen in meinem Ohr wieder laut und… diesmal klarer. Ich kann wieder die Melodie hören. Vier abfallende Töne in Moll, die sich fortwährend wiederholen. Nicht gerade aufmunternd, denke ich noch als ich versuche, durch ein distinktes Kopfschütteln die Töne loszuwerden. Ein bisschen muss ich über mich lachen, da ich die Meldodie so bestimmt nicht aus meinem Kopf bekomme und es von außen sehr merkwürdig aussehen muss. Schließlich sehe ich es. Abrupt verharre ich in meiner Bewegung und kneife die Augen zusammen. Ein paar Meter von mir entfernt kann ich ausmachen, woher das Summen rührt. Ich frage mich, wie ich das eben habe übersehen können, aber nicht weit von dem Schotterweg, auf dem ich stehe liegt ein Telefon auf der Wiese. Ich weiß nicht wieso, aber habe ich ein ungutes Gefühl, als ich mich dem Handy nähere. Das hätte ich doch sehen müssen? Weshalb rast mein Puls auf einmal so? Weshalb halte ich den Atem an? Das ist doch nur ein Handy. Wieder das Kopfschütteln, auch diesmal kann ich die Melodie nicht vertreiben. Ich überlege kurz, ob ich einfach weiter gehen soll, aber irgendwas treibt mich dazu das Telefon aufzuheben. Das Summen ist verstummt. Als ich mich bücke, um es zu erreichen, höre ich nur noch das Rauschen des Blutes in den Ohren, so aufgeregt bin ich. — Alles um mich herum ist schwarz. Nur das Handy in meiner Hand glimmt unaufhörlich und brennt in meinen Augen. Das Handy war nicht versperrt. Nur ein Anruf in Abwesenheit einer unterdrückten Nummer. Keine Kontakte im Telefon, keine Apps, die auf irgendeinen Social Media Account führen, keine bereits gewählten Nummern. Das Hintergrundbild des Telefons löst irgendetwas in mir aus. Eine Hand auf rotem fleckigen Hintergrund. Ich kann es nicht einordnen und beschließe mit einem Schulterzucken, dass ich mich irren muss. Viel Neugier hatte ich noch nie und so ignoriere ich das unterschwellige Nagen irgendwo in meinem Kopf und schiebe das Handy in die Tasche meiner Jeans. Montag vor der Arbeit bringe ich es einfach ins Fundbüro.

Das braune und mittlerweile taufeuchte Laub schmatzt unter meinen Schritten. Eigentlich will ich zurück in Richtung der Hauptstraße, um aus diesem Park wieder rauszukommen. Das beklemmende Gefühl von eben, als ich das Handy in den Händen halte, ist noch so präsent, dass ich nochmal in meinen Gedanken versinke. Ich schüttele mich, nehme einen großen Schluck Bier und zünde mir eine Zigarette an. Für die Nerven, sage ich mir. Gerade wünsche ich mir, auf das imaginierte Nörgeln meines Vaters gehört zu haben. Das feuchte Laub, die Kälte und keine Menschen, die mir helfen können. Meine aufkeimende Angst ignorierend, raffe ich meine Jacke zusammen und gehe weiter. In der Ferne erkenne ich ein beleuchtetes Schild, welches zu einer kleinen Bar gehört, von der ich noch nie gehört habe. Wo bin ich hier nur gelandet? Es ist wie ein Sog, in den ich gerate, seitdem ich das Licht entdeckte. Ohne weiter nachzudenken folge ich dem kleinen Pfad, der sich durch die vielen Schritte durch das hohe Gras geformt hat. Ich runzele die Stirn, als ich vor der Holztür unter dem Schild stehe. Bin ich hier doch schon gewesen? Noch einmal ziehe ich das fremde Handy aus der Tasche und schaue auf das Display, bevor ich die Tür zur Bar öffne. Das komische Gefühl von eben ist wieder da und zwar sehr viel stärker als zuvor. Das ist nicht irgendeine Hand. Das ist meine verdammte Hand, die dort auf der roten Oberfläche liegt. Ich überlege, ob es sein könnte, dass sie jemand anderem gehört, muss aber mit steigender Verzweiflung feststellen, dass das ein zu großer Zufall wäre. Wer sonst hat genau so eine sichelförmige Narbe zwischen Daumen und Zeigefinger? Als ich zwölf war, habe ich mich dort einmal am Ofen verbrannt. Natürlich erkenne ich meine eigene Hand. Das Quietschen der sich öffnenden Tür bewahrt mich vor einer Panikattacke. „Willst du rein oder warum stehst du da so rum? Holst dir ja den Tod in der dünnen Jacke.“ Der angenehme Bass des Mannes, weckt Vertrauen in mir, sodass ich seiner Aufforderung reinzukommen folge. Als ich mich zu ihm an den Tresen setze, schiebt er mir prompt ein Bier zu: „Na, was hast du denn? Du siehst ja aus, als wärst du durch den Park gejagt worden.“ „Irgendwie bin ich das auch“, stammele ich, „ich habe dieses Handy gefunden – schon mal gesehen?“ Ich schiebe das Handy über den Tresen zu ihm hin. Der Wirt inspiziert es und schüttelt den Kopf: „Tut mir leid, sieht aus wie jedes andere.“ Ich nicke abwesend, bestelle einen Korn, ich brauche jetzt was Hartes. Außer mir sitzt nur noch ein Paar in einer Ecke an einem Fenster. Ich schaue wieder auf das Bild auf dem Handy. Nichts darauf, außer dem Bild meiner Hand. Der Wirt nimmt meine zunehmende Verwirrung war: „Nun, wer hat dich denn jetzt durch den Park gejagt?“ Ein schiefes Lächeln gelingt mir, bevor ich laut seufze. „Das Handy hier —“, ich deute darauf, „es lag mitten auf der Wiese, es befindet sich nichts darauf. Keine Bilder, keine Musik und keine einzigen Kontakte. Ich habe es nur sehen können, weil es geklingelt hat. Nur ein Anruf in Abwesenheit von einer unterdrückten Nummer und kein Sperrcode.“ Ich warte auf eine Reaktion. „Nun ja, vielleicht ist das ja so ein Wegwerfhandy“, mutmaßt der Wirt. „Ja, hab mir auch zunächst nichts dabei gedacht, aber das Komische kommt erst noch. Wie gesagt, keine Kontakte, Apps oder ähnliches — Aber es hat ein Hintergrundbild!“ Ich schiebe das Handy wieder zu dem Wirt, damit er sich das Bild betrachten kann: „‘Ne Hand — Joa. Was soll das jetzt so groß bedeuten?“ Wortlos ahme ich die Position der Hand auf dem Bild nach. „Donnerwetter“, er runzelt die Stirn, „ist das deine Hand?“ Ich erzähle ihm die Geschichte hinter der Narbe und ich merke, dass der Wirt es mir nicht wirklich abnimmt und nach realistischeren Erklärungen sucht. Väterlich klopft er mir mit seiner fleischigen Hand auf die Schulter und schenkt jedem von uns einen doppelten Korn ein. „Auf den Schreck,“ schmunzelt er. Während der Wirt sich jetzt damit beschäftigt seine Gläser zu polieren, zünde ich mir eine Zigarette an und blicke abwechselnd von meiner Hand zu dem Bild eben dieser. Als ich den letzten Zug meiner Zigarette ausatme, winke ich dem Wirt zu, um zu zahlen. „Willst du den Deckel vom letzten Mal gleich mit bezahlen?“ Einige Sekunden verstreichen, bis ich den Inhalt seiner Aussage fassen kann: „Vom letzten Mal?“ Ich merke, wie meine Stimme versagt. Diese vielen Ungereimtheiten machen mir Angst, will es mir aber nicht anmerken lassen. „Wann“, zum ersten Mal in meinem Leben stottere ich, „wwwann soll ich denn hier gewesen sein?“ Der Gesichtsausdruck des Wirts verändert sich. Ich weiß nicht genau, ob er amüsiert oder besorgt ist. Er muss denken, jemand Verrücktes sitze vor ihm. Soviel zum Thema „Sich nichts anmerken lassen“. Er denkt bestimmt, ich wolle mich über ihn lustig machen. Da es mir selbst so merkwürdig vorkommt, füge ich schnell hinzu, wie betrunken ich in letzter Zeit gewesen sei. Mein Versuch, ihn versöhnlicher zu stimmen, zeigt Wirkung. Sein Mund öffnet sich und lässt ein wissendes Lachen heraus: „Mensch, ja das passiert mal und ist ja gut für meinen Berufszweig. Ich erinnere mich an dich, aber richtig betrunken wirktest du nicht. Du hattest ein paar Mädels im Schlepptau. Schicke Tanten. Eine davon … “ Er erzählt noch ein wenig länger über die Frauen, aber ich höre nicht richtig zu. Das kann ich nicht gewesen sein. Irgendjemand spielt mir hier einen ganz verdrehten Scherz. Schluckend bezahle ich den offenen Deckel. Eine Summe, die ich niemals in einer Bar vertrinken würde. Als die Kälte der Oktobernacht auf mein Gesicht trifft und die frische Luft meine frisch geteerte Lunge erfüllt, merke ich, wie betrunken ich bin. Noch mehrere Minuten ist mein Kopf voller Gedankenknoten, die sich einfach nicht entwirren lassen. Bis ich schließlich wieder das Pfeifen wahrnehme. Ich erwische mich dabei, wie ich denke, dass es mir gelegen kommt, als sich die Melodie immer und immer lauter in meinem Kopf abspielt. Ich greife mein Handy, stelle den Ton auf laut, um Musik in voller Lautstärke abzuspielen, als ich merke, dass es sich um das Fundhandy handelt, das mir so einen Schrecken eingejagt hat. Ich kann es sehen, bevor ich es höre. Es ruft jemand an. Die Melodie aus meinem Kopf ertönt aus den Lautsprechern der Handys. Ich ___________________

___blinzele, warum ist das so hell? Nichts ergibt für mich einen Sinn.  Ich liege in meinem Bett und brauche lange um mich zurechtzufinden. Ich weiß nicht wie spät es jetzt ist, aber die Sonne steht schon weit oben am Himmel. Einen leichten Kater habe ich, aber das beachte ich nicht. Mir wird die gigantische Lücke bewusst, in der ich nicht weiß, was seit dem Verlassen der Bar passiert ist. Wieder will mich Panik mich übermannen und viele Fragen werden laut: „Was ist das für ein Handy? Wieso hat es meine Hand als Hintergrundbild? Wie bin ich nach Hause gekommen?“ Ich weiß es nicht. Keine dieser Fragen kann ich beantworten. Mein Blick fällt auf die Schachtel neben meinem Bett, nach der ich sofort greife. Zitternd und nur mit Mühe gelingt es mir eine Kippe herauszuziehen. Der Rauch in meinen Lungen beruhigt mich und ich versuche mich zu fangen. „Konzentrier dich jetzt!“, sage ich mir — auf das Pfeifen, auf die Melodie. Ich denke an die Schlafstörungen und beginne zu begreifen. Kann es sein, dass mir das schon öfter passiert ist? Ich will mehr Hinweise sammeln und begebe mich auf die Suche nach dem Handy, allerdings erfolglos. Ich resigniere und schiebe alles auf den Alkohol.

Nach einer ausgiebigen Dusche gehe ich spazieren und treffe mich mit Freunden. Niemandem erzähle ich von meiner letzten Nacht. Den höhnischen Blick des Wirts, der mir suggerierte, ich gehöre in die Klapse, ertrage ich nicht noch einmal. Weshalb kannte mich der Wirt bereits? Bis gestern hatte ich diese Bar noch nie betreten. — Irgendwelche Ausbrüche von Gefühlen der Menschen, in deren Gesellschaft ich mich befinde, schaffen es, mich aus meiner Apathie zu befreien. Die Unwissenheit über die letzten Erlebnisse taumelt aber weiterhin durch jede Nische meines Gehirns, sodass alle Gespräche nur in Fetzen bei mir ankommen. Glücklicherweise fällt das niemandem weiter auf, da ich durchaus als lakonisch bekannt bin. „Sag mal, warum hast du eigentlich so viele Tintenflecken an den Händen?“, dringt es aus einem Gespräch zu mir durch. Tintenflecken? Ich betrachte meine Hände. Tatsächlich. Der Dusche zum Trotz sind sie übersät mit kleinen verblassten Strichen. Ein weiterer Hinweis, mit dem ich jedoch noch nichts anfangen kann. Ich verzog das Gesicht und konnte nur mit einem von einem erzwungenen Grinsen untermalten Schulterzucken antworten. Es soll den Eindruck vermitteln, ich würde mich selbst aufs Korn nehmen. Niemand soll Fragen stellen, auf die ich keine Antwort habe. Wir trinken Wein, der einen schönen Rausch induziert, bis ich mich schließlich komplett mit meinen Freunden beschäftigen kann und alles andere verblasst. Im Laufe des Tages merke ich, dass ich keinerlei Pfeifen oder die Melodie höre. Ich werde lockerer, kann die Gedanken beiseite schieben und beginne meine Vermutung von heute Mittag zu leben. Nur ein Traum, zu viel getrunken, es gab gar kein Handy.

Unter dieser Prämisse kann ich mein Leben wieder normal leben. Einige Tage vergehen und ich denke weder an die Melodie noch an das Handy. Bis ich eine Nachricht bekomme. Wie es scheint, von mir selbst. Ich stehe vor dem Wäscheständer und hänge die saubere Kleidung auf. Beim Ausschütteln einer meiner Jeans fällt mir ein kleines Briefchen aus Alufolie in die Hand. Als ich es zerknülle, um es wegzuwerfen, merke ich, dass sich darin etwas befindet. Mühselig muss ich die Folie entfernen. Hastig, aber dennoch sorgfältig, scheint die Folie um den Inhalt geschlagen. Innen finde ich ein Stück Papier. Es ist stark zerknittert, jedoch nicht durchnässt vom Waschen. Ganz eindeutig kann ich meine Schrift erkennen, nur stark verzerrt. Ich frage mich noch, ob daher die Striche auf meiner Hand kommen, als ich es zu seiner ganzen Größe auffalte. Zunächst starre ich einfach nur eine Ewigkeit auf das Blatt. Hunderte Male lese ich die Worte, als würden sie irgendwann mehr Sinn ergeben. Ich schlage eine Hand über den Mund und hole tief Luft, bevor ich schon wieder nach meinen Zigaretten taste, ohne die Augen von den zittrigen Linien zu nehmen. Es ist die erste Bewegung, die mich mein Körper nach einer gefühlten Ewigkeit durchführen lässt. Ganz langsam schaffe ich es, mich auf meinen neuen Erkenntnisstand zu fokussieren. Die ersten beiden Wörter „Reimann” und „Hypnose“ sagen mir etwas. Herr Dr. Reimann war mein Psychiater vor über zehn Monaten. Seit meiner letzten Sitzung habe ich nie auch nur ein Wort mit ihm gewechselt. Ich habe ihn aufgesucht, um eine Sache zu verarbeiten, die mir in meiner Jugend widerfahren ist. Oft habe ich ihn nicht gesehen. Eine Hypnose, so versprach er mir, würde mir helfen zu vergessen was passiert war. Mehr wollte ich gar nicht und so willigte ich ein und tatsächlich habe ich seit Langem nicht mehr daran denken müssen. Wären die ersten beiden Worte die einzigen auf dem Zettel, würde das wahrscheinlich auch so bleiben. So könnte ich damit meinen, ich solle meinen Psychiater noch einmal aufsuchen, um meinem Problem auf den Grund zu gehen. Ich würde herausfinden können, warum ich diese Melodie manchmal höre und warum ich ab und an so schlecht schlafe. Aber sie sind nicht die Einzigen. Da ist noch das Dritte, das dieses mulmige Gefühl in mir ausgelöst hat.

Mondsucht.  Wieder und wieder lese ich das Wort und mit jeder Wiederholung bringt es mir die Erinnerung von ein Stück zurück. Eine schnelle Recherche ergibt, dass Mondsucht eine alte Bezeichnung für Schlafwandeln ist. Als ich die Artikel weiterlese überschwemmt mich die Erinnerung wie eine Welle: Ich bin wieder 19, ich laufe durch die Straßen meiner neu gewählten Heimat. In der Ferne ertönt leise, aber gut hörbar ein Glockenspiel. Die Melodie, die mich heute immer wieder so quält. Ich höre erstickte Schreie. Grauverschwommen sehe ich, wie sich eine vermummte Gestalt über eine junge Frau beugt. Ich merke, wie sich meine Lippen bewegen, doch ich bin so verkrampft vor Angst, dass ich keinen Ton herausbekomme. Ich finde eine zerschlagene Flasche, nehme all meine Kraft zusammen und renne auf die Gestalt zu. Ob das Glück oder Unglück ist weiß ich nicht, aber ich stolpere über meine eigenen Füße, sodass ich ins Straucheln gerate. Während meines Falles ramme ich der Maske, die sich in diesem Moment zu mir umdreht, die dreckigen Zacken in den Hals. Ich kann fühlen, wie sich das Glas in das Fleisch bohrt und durch die Zugkraft meines Körpers bis zu seinem Schlüsselbein einen tiefen Schnitt zieht. Ich höre ein blutiges Gurgeln, gefolgt von schmerzverzerrtem Stöhnen, dann sehe ich, wie die Gestalt fliehen will. Sie dreht sich nach einigen Metern um, beide Hände presst sie sich gegen die Wunde. Unaufhörlich quillt das im Mondlicht schwarz glänzende Blut durch seine Finger. Geradezu schlürfend bricht aus ihrem Mund ein Zischen hervor: „Warte nur. Eines Tages wird mir die Mondsucht helfen, mich an dir zu rächen.“
Dann ist der wabernde Flashback zu Ende. Ich habe die Polizei und den Notarzt gerufen. Alle haben versucht das Mädchen zu retten, aber jede Hilfe kam zu spät. Der Blutverlust war einfach zu enorm. Die Gestalt hat ihr bei vollem Bewusstsein die Haut an vielen Stellen, auch im Gesicht, tief eingeschnitten. Ein schrecklicher Anblick, den ich erst durch meinen Besuch in der Praxis vergessen kann. Die Polizei muss den Fall nach langen Ermittlung ergebnislos einstellen.

Mir ist schwindelig, ich hyperventiliere. Das Schlafwandeln, so lese ich weiter, kann auch durch äußere Reize ausgelöst werden. Die Melodie. Das Handy. Kalter Schweiß läuft mir in die Augen, sodass ich heftig blinzeln muss. Das Gefühl, etwas Schreckliches gesehen zu haben, überfällt mich abermals. Wenn ich die Augen schließe, kann ich meine Hand auf der roten Oberfläche sehen. Sie ist aber nicht einfach rot. Sie ist blutig. Wie kleine Blitze schießen immer mehr Bilder in meinen Kopf. Blinzeln. Schreck geweitete Augen. Blinzeln. Eine nackte Bauchdecke. Blinzeln. Ein Skalpell. Blinzeln. Lachen aus Blut auf einem mit Folie bedecktem Boden. Blinzeln. Mir entfährt ein kehliger Laut. Es geht mir so schlecht, dass mich nicht einmal die immer helfenden Zigaretten beruhigen. Ich muss etwas tun und beginne zu rennen, um Antworten zu bekommen. Hoffnung auf Hilfe, von Herrn Dr. Reimann. Die gesamte Strecke bis zu ihm renne ich, wahrscheinlich auch um den immer gleichen Bildern zu entkommen. Die Augenpaare ändern sich und ich erinnere mich daran, wie ich eine Flasche öffne und etwas von dem Inhalt auf ein Tuch schütte. Komplett verschwitzt komme ich bei der Praxis an. Mein Hemd klebt an meiner Haut und ich brauche lange, bis ich wieder weitgehend normal atmen kann.

Eilig stürme ich am Empfang vorbei direkt in das Zimmer von Herrn Dr. Reimann. Da steht er. Er sieht mich an mit einem Gesichtsausdruck, den ich nicht einzuordnen vermag. „Was machen Sie denn hier?“, seine Stimme bebt. Ich weiß nicht, ob es die Wut über mein nicht angekündigtes Hereinplatzen oder etwas anderes ist. Nein, er scheint eher entspannt, denke ich, bevor ich ihm erzähle, weshalb ich bei ihm bin. „Ich war Helfer bei einem Mord oder mehreren, Dr. Reimann.“, beschließe ich meine wirren Erzählungen. „Sie wissen also alles“, er krempelt in aller Ruhe seine Ärmel hoch, ohne mich aus den Augen zu lassen. Wieso wirkt er fast gelangweilt? „Es ist vorbei. Sie waren mir eine große Hilfe und ich habe endlich meine Rache bekommen.“ Mein Unvermögen zu reagieren, bringt ihn dazu hämisch zu lachen. „Wie Sie nach all den Jahren freiwillig in meine Praxis gelaufen sind, war ein dummer Zufall. Mein Glück, versteht sich, aber nun sollten Sie doch soweit sein zu verstehen, wen Sie hier vor sich haben. Na kommen Sie, ich helfe Ihnen auf die Sprünge.“ Er macht sich über mich lustig. Er fixiert mich während er langsam am Kragen seines Pullovers zieht. Tränen der Verzweiflung rollen über meine Wangen, als ich sehe, was er unter den immer hochgeschlossenen Outfits versteckt. „Na? Erinnern Sie sich. Ich haben Ihnen ja gesagt, ich werde Rache nehmen.“ Eine rote, breite Narbe. Rache. Mondsucht. „Was haben Sie mit mir gemacht?“, will ich wissen, auch wenn ich mich unglaublich vor der Antwort fürchte. „Nun, da Sie ja so freiwillig in meine Praxis gestiefelt sind und ohne Weiteres eingewilligt haben, von mir hypnotisiert zu werden, konnte ich einen Trigger in Ihrem Unterbewusstsein implantieren. Haben Sie das schon bemerkt?“ Er sieht mich nicken und fährt fort: „Gut. Ich habe Sie natürlich beobachtet, wenn ich Sie brauchte abgewartet, bis Sie alleine waren. Dann habe ich das Handy platziert, sodass Sie es finden. Sobald die Melodie ertönt, habe ich, Ihr Meister, mich Ihnen gezeigt und Ihnen meinen Wunsch geäußert.“ Beim Wort „Meister“ läuft es mir kalt den Rücken runter und ich zucke zusammen. „Wunsch?“, ich will es eigentlich nicht wissen. Er genießt, was hier gerade passiert. Er kräuselt genussvoll die Lippen und beobachtet jede Regung und jeden Schweißtropfen in meinem Gesicht. „Ich mag, wie brüchig Ihre Stimme ist und wie hörig Sie mir sind. Brav, dass Sie direkt zu mir gekommen sind, als Sie die Notiz gelesen haben, die ich Ihnen diktiert habe.“ Er wartet meine aufkommende Frage gar nicht ab. „Nun, ich habe eine kleine Diashow für Sie zusammengestellt.“ Er grinst verboten amüsiert, während ich wie gelähmt dastehe und nur ganz langsam verstehe, was hier passiert. Dabei geht er auf mich zu, was mich zur Seite springen lässt und ihm leider die Chance gibt ohne Gegenwehr meinerseits die Tür von innen abzuschließen. „Denken Sie ja nicht, Sie kämen hier lebend wieder raus.“ Auch dabei lacht er und es wirkt eher, als hätte er eine Einladung zu einem tollen Abendessen, als eine Morddrohung ausgesprochen. „Nun setzen Sie sich doch. So wie sie da herum stehen, klappen Sie mir noch gleich zusammen. Der Abend hat gerade erst begonnen.“ Ich bewege mich keinen Meter. Die Züge des Doktors verfinstern sich. „Setzen habe ich gesagt.“, zischt er mit verkrampften Kiefermuskeln durch seine Zähne. Meine Beine bewegen sich wie ferngesteuert zu dem Stuhl vor seinem Schreibtisch. Die Gesichtszüge des Herrn Dr. Reimann entspannen sich sofort und er zieht seinen Laptop zu sich herüber. Er öffnet Fenster und klickt bis er an einem Ordner angelangt ist, der mit meinem Namen betitelt ist. Er stellt sich hinter mich und kommt mit seinem Mund genau an mein Ohr. Ich kann mich nicht bewegen und die Tränen der Angst laufen immer weiter. Ich schaffe es, ein kleines hilfloses „Bitte“ zu formen, jedoch bekomme ich als Antwort lediglich den warmen Windhauch seines Lachens ab. Über meine Schulter hinweg öffnet er den Ordner. In ihm befinden sich viele Bild-Dateien, die mit verschiedenen Namen beschriftet sind. Marina. Sophie. Carina. Leonie. Vier Namen. Seine Lippen berühren fast mein Ohr, ich will die Bilder nicht sehen. Er bewegt den Cursor zu einem Bild und wispert: „Maria vorher.“ Ich will es nicht sehen, aber ich kann auch nicht weggucken. Eine schöne junge Frau lächelt mich aus dem Foto heraus an. Ein wenig beschwipst scheint sie zu sein. „Das Bild haben Sie gemacht. Ich akzeptiere Ihre Wahl, Sie erfüllen meinen Wunsch.“ Er klickt aufs nächste Bild. „Marina während des Aktes.“ Die Frau lächelt nicht mehr. Sie liegt auf einer Plane, sie hat Angst, scheint ruhiggestellt, sie ist entblößt. „Schauen Sie sie an. Was machen wir nun mit ihr?“ Er wirkt erregt, mir wird übel, ich will meinen Kopf wegdrehen. Als er meine Bewegung spürt, schlägt er mir mit voller Wucht ins Gesicht, er spuckt beim Schreien: „Sie sehen hin. Sie haben sie ausgesucht, Sie haben sie präpariert für Ihren Meister.“ Mein Gesicht brennt. Das nächste Foto. Klick. Ich schreie. Er streichelt meine Haare und flüstert: „Wie schön sie blutet. Schauen Sie nur, wie Sie geöffnet daliegt und immer noch denkt, Sie würde überleben. Das ist meine Lieblingsstelle. Diese Hoffnung beflügelt mich, meine Kunst so behutsam wie nur möglich durchzuführen. Sie sollen so lange wie möglich dabei zu sehen, wie ihr Leben aus ihren Öffnungen rinnt.“ „Hören Sie auf, bitte, bitte hören Sie auf.“ Er schüttelt den Kopf. „Sie haben doch die anderen Mädchen noch gar nicht gesehen. Zunächst jedoch das finalen Bilder unserer Marina. — Marina danach. Freuen Sie sich?“ Seine Stimme wirkt gespannt, aber wartet wieder keine Antwort ab. Er klickt und erzählt, welche Techniken seine Arbeit zu so einer Kunstform werden lassen. Geifer thront an seinen Mundwinkeln, wie bei einem Tier, das ausgehungert das erste Mal seit Wochen wieder Beute wittert. Er klickt. Tote Augen. Er klickt. Kalkweiße, durchscheinende Haut. Er klickt. Wunden zugenäht. Er klickt. Kein Tropfen Blut um sie herum. Er gratuliert mir, zu meiner makellosen Säuberung. Er klickt. Die nächste Frau.

Mehr davon kann ich mir nicht ansehen. Die Praxis befindet sich im zweiten Stock. Das würde ich überleben. Verletzt, aber wenigstens ist unten viel Betrieb. So kann ich den Mistkerl hinter Gitter bringen. Doch ich überlege zu lange, er spürt es. „Was sind Sie doch für ein wahrhaft guter Diener. Jetzt bereuen Sie sicher, mir vor zehn Jahren in die Quere gekommen zu sein.“ Er geht um seinen Schreibtisch herum und öffnet eine Schublade, aus der er das Handy hervorholt. “Ich sagte doch, Sie sollen nicht denken, Sie kämen hier lebend wieder raus. Wenn ich die Melodie ertönen lasse, wachen Sie nie wieder auf, das verspreche ich Ihnen, also bleiben Sie sitzen.“ Er grinst, ist sich seines Sieges gewiss, doch kampflos will ich nicht untergehen. Will es ihm nicht leicht machen, denn wenn es eh vorbei ist, kann ich es mit dem Fensterplan wagen. Als er das Handy auf den Tisch legt, um den Laptop wieder bedienen zu können, kann ich die Chance nutzen. Das Fenster lässt sich leicht öffnen. Ich steige auf das schmale Fensterbrett, welches unter meinem Gewicht bedenklich quietscht. Ich mache mich zum Sprung bereit. Was in meinem Rücken geschieht, kann ich nicht sehen — Nur hören. Die Melodie.

3 thoughts on “Die Melodie

  1. Hallo Norma hab gerade deine Geschichte gelesen und sie gefällt mir echt gut. Ich hab schon einige gelesen in den letzten Tagen, und muss sagen, dass bisher keine der anderen gleicht, genauso wie deine. Komplett anderes Thema, spannend geschrieben und guter Schluss 👍

    1. Falls du noch nicht dabei bist, schau doch mal auf #wir_schrieben_zuhause vorbei das ist eine community, die für uns Schreiberlinge, welche bei dem Projekt mitgemacht haben, ins Leben gerufen worden…ist echt toll dort und da kannst du allen anderen deine Story zeigen 😃

  2. Hei Norma, spannende Geschichte, sehr Fitzek-Like. Ich hinterlasse dir ein Sternchen und viel Glück für die Online-Ausgabe. Falls du Lust hast, würde ich mich freuen, wenn du auch meine Geschichte liest: Der Gesang der Zikaden.
    LG, Susanne

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