BarkiesDie mit der Puppe spielt

Normal
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Hannah wickelte vier Tampons aus dem Cellophan und verstaute diese nacheinander in ihre Backentaschen; jeweils zwei oben und zwei unten. Dann machte sie die Probe: „Hallo?“

Ja, so ging es.

Sie durfte unter keinen Umständen mit ihrer normalen Stimme sprechen. Diese kannten in Deutschland gewiss schon einige Millionen Menschen. Ihre Fernsehsendung lief mit stetig steigenden Einschaltquoten zur Prime Time: „Mensch Politiker“. Sie hatte sich dieses Format selbst ausgedacht und war vom Erfolg ebenso überrascht, wie überwältigt.

Sie räusperte sich und gab eine Nummer in ihr Telefon ein. Die Uhr zeigte die Ziffern 23.44. Sie wusste, dass sie auch diese Nacht nicht würde schlafen können; seit drei Abenden schon legte sich die Angst mit ihr unter die Bettdecke.

Es dauerte sehr lange, bis sich eine Frauenstimme meldete.

Im selben Moment sprang Castor, der bis eben noch ruhig neben ihr auf der Couch gelegen hatte, auf und stellte sich bellend vor die Terrassentür.

Hannah hatte aufgrund der inzwischen stark eingespeichelten Tampons Schwierigkeiten, sich zu artikulieren: „Mument bitte!“

Sie eilte dem Hund hinterher und lugte ins Dunkle. Dabei pulte sie die Tampons wieder aus dem Mund und warf sie gedankenlos auf die Erde.

Auf der Terrasse war niemand. Wahrscheinlich trieb er sich unten herum.

Am liebsten hätte sie etwas hinaus in die Dunkelheit gerufen. Aber was? Mit der Polizei konnte sie ihm nicht drohen; das wussten sie beide nur zu gut.

Ihr war nicht klar, weshalb Castor angeschlagen hatte. Gehört haben konnte er nichts, denn seit einem Jahr schon konnte er nichts mehr hören; der arme Hund.

Ansonsten hätte Castor natürlich angeschlagen, als Samstagnacht ein Fremder auf ihrer Terrasse herumgeschlichen war.

Sie kniete sich zu ihm, schlang ihre Arme um den Labrador und lobte ihn: „Fein gemacht, Castor! Guter Wachhund!“

Castor hatte einen Tampon im Maul.

„Oh je!“, das Telefonat!

Sie sprang auf, nahm das Telefon und entschuldigte sich.

Ohne die Reaktion der Frau am anderen Ende abzuwarten, überschlug sie sich regelrecht: „Ich kann nicht in meiner Wohnung bleiben. Aber die Hotels und Ländergrenzen sind doch geschlossen, jetzt, beim Lockdown. Ich weiß nicht wohin mit meinem großen Hund!“

Sie lauschte ins Telefon in der Hoffnung, nicht nur Verständnis für ihre Situation, sondern auch einen hilfreichen Tipp zu erhalten. Die freundliche Frau versicherte, dass sich jemand melden werde, sobald eine Leitung frei ist; es war eine automatische Ansage.

Das hätte nicht auch noch passieren dürfen. Hannah unterbrach die Verbindung und erhob sich. Gleichzeitig richtete sie sich auch innerlich auf. Drei Tage lang hatte sie wie gelähmt im Bett gelegen. Wie hatte sie sich nur so gehen lassen können? Sie brauchte kein Gespräch mit der Seelsorge, sondern sie musste sich auf ihre eigene Courage besinnen. Zunächst musste sie erst einmal herausfinden, wie der „Bursche“ überhaupt auf ihre Terrasse gekommen war. Immerhin befand sich ihre Wohnung in der 1. Etage.

Sie zog sich die Schuhe an und nahm die Leine. Castor war sofort bei Fuß.

Unten angekommen begab sie sich direkt zur Rückfront des Hauses. Im Parterre wohnten die Woblewskis. Deren Garten befand sich genau unter ihrer Terrasse.

Die Familie war verreist. Das hatte ihr die Tochter erzählt, die ab und zu mit Castor Gassi ging. Wahrscheinlich würden sie in den nächsten Tagen durch eine Rückhol-Aktion eintreffen. Doch solange wollte Hannah nicht warten.

Der Zaun war nicht sehr hoch und daher einfach zu überwinden.

Als sie mit einem Bein darüber hinweggestiegen war, bohrte sich ein hervorstehender Draht in den Zwickel ihrer Hose.

In diesem Moment glaubte sie ein verdächtiges Geräusch zu hören: Als wäre jemand gegen eine Getränkedose gestoßen; es schepperte nach.

Sie konnte weder vor noch zurück.

In aufkommender Panik zerrte sie so heftig an dem Hosenstoff, dass ein größeres Loch entstand. Nun konnte sie das andere Bein nachziehen. Wieder lauschte sie. Da Castor winselte, weil er hinter dem Zaun stehen bleiben musste, konnte sie nichts mehr hören.

Mit der Taschenlampe ihres Handys leuchtete Hannah die Umgebung ab. Obwohl es windstill war, wogte ein Busch. Sie überlegte, wie sie reagieren sollte, falls er plötzlich davor auftauchte? Sie lauerte. Doch nichts dergleichen geschah.

Als sie den Boden an der Hauswand untersuchte, sah sie es: Dort befanden sich zwei tiefe Einkerbungen, als habe dort eine Leiter gestanden.

Sie schaute nach oben. So hoch war es gar nicht. ‚Hier ist er also hochgeklettert!’, dachte sie und bekam Gänsehaut.

Erst an diesem Nachmittag hatte sie auf einem der Fotos seinen Schatten in der Scheibe entdeckt. Diese Entdeckung machte das Ganze noch beklemmender: Der Schatten bewies, dass er genau vor ihrer Terrassentür gestanden und sie von dort aus fotografiert hatte. Aber warum hatte er das Handy mit den Fotos auf ihrem Terrassentisch liegen gelassen?

Es war ein uraltes Modell. Sie ging davon aus, dass er noch ein anderes Handy hatte und es somit noch mehr Fotos gab.

Vermutlich wollte er ihr auf dem kürzesten Weg demonstrieren: ‚Sieh her, in welcher heiklen Situation ich dich erwischt habe! Jetzt habe ich dich endlich in der Hand.’

Für Hannah schloss diese Geste gleichzeitig die Drohung mit ein, die Fotos der Presse zuzuspielen. Mit der Veröffentlichung hätte er seine Revanche gehabt.

Hannah suchte vergeblich nach der Leiter. Sie war kurz vor dem Aufgeben, als ihr einfiel, dass das Einfamilienhaus auf dem Nachbargrundstück hinter der Mauer renoviert wurde. Seit dem Lockdown arbeitete niemand mehr auf der Baustelle. Hannah begab sich nach vorn zur Straße. Von hier aus konnte sie das Nachbargrundstück betreten. Es gab lediglich ein Flatterband.

Bevor sie sich darunter hinwegbückte, blickte sie sich noch einmal um. Castor tat es ihr gleich.

Ihr geliebter Castor! Der „Bursche“ wäre doch nie auf ihre Terrasse gestiegen, wenn er nicht gewusst hätte, dass Castor taub ist!

Sie hatte es bewusst in einer Sendung bekannt gegeben. Solche privaten Eingeständnisse wirkten wie ein Sog auf ihre Gäste, die dadurch animiert wurden, ebenfalls etwas von sich preiszugeben. Das war ihr Erfolgsgeheimnis.

Hannah lauschte und hörte in der Ferne ein Auto.

Dann war es wieder still. Und dunkel. Eine dicke Wolkendecke hatte sich vor den Halbmond gelegt.

Sie lief um die Baustelle herum. Die Vorstellung, dass er sich irgendwo versteckt hielt und sie wieder beobachtete, flößte ihr – gelinde gesagt – Unbehagen ein.

In dem Moment, da sie die hohe Leiter entdeckte, quiekte Castor schrill auf. Sie eilte zu ihm, leuchtete alles ab und erkannte, was geschehen war: Er war über ein Holzbrett mit einem herausstehenden Nagel gelaufen. Hannah untersuchte seine Pfote. Es blutete aus der Wunde.

Sie hätte ihn am liebsten sofort in ihre Wohnung getragen. Doch wenn sie es nicht darauf ankommen lassen wollte, noch einmal besucht zu werden, musste sie erst einmal die Leiter fortschaffen; irgendwo verstecken, wo sie der „Bursche“ nicht finden konnte. Zu sich ins Haus konnte sie das Monstrum nicht bringen; es hätte nichts durchs Treppenhaus gepasst.

Sie streichelte Castor und bat ihn mit entsprechender Geste, sitzen zu bleiben. Sie werde sich beeilen.

Die Leiter stand auf einem Betonboden, hatte jedoch Erde an den Füßen. Das war die Erde aus dem Garten der Woblewskis, dessen war sie sich sicher.

Der Umstand, dass er die Leiter hierher zurückgeschleppt und nicht einfach irgendwo liegen gelassen hatte, deutete darauf hin, wie pedantisch er war. Das wiederum  ließ Rückschlüsse darauf zu, wie sehr er tatsächlich früher von seinem Vater „zum Gehorsam erzogen“ worden war.

Hannah steckte einen Arm durch die Sprossen, um sie schultern zu können. Dann lief sie los. Als sie an Castor vorbeilief,  jaulte er auf. Es brach ihr fast das Herz.

Nun war sie nicht konzentriert genug;  sie verhedderte sich mit dem langen Ungetüm am Flatterband. Es nahm kostbare Zeit in Anspruch, bis sie sich freigekämpft hatte.

Endlich auf der Straße angekommen, zögerte sie keine Sekunde. Wie ferngesteuert bewegte sie sich auf den nahegelegenen Grunewald zu. Sie kannte sich im Wald gut aus, weil sie dort regelmäßig joggte; allerdings bei Tage.

Die Leiter wurde mit jedem Schritt schwerer. Während sie sich anfangs noch ständig umgeblickt hatte, schaute sie nun nur noch gebannt auf ihr Ziel.

Bei der Tafel am Eingang zum Wald angekommen, blieb sie stehen und sah sich um. Es war bereits weit nach Mitternacht. Eigentlich war es ihr zu unheimlich, weiterzugehen; sie zögerte. Doch solange die Leiter nicht wirklich versteckt war, konnte sie sich keine Minute mehr sicher fühlen. Also gab sie sich einen Ruck und lief in den Wald hinein.

Als sie bereits eine kleine Strecke hinter sich gebracht hatte, hörte sie ein Auto angefahren kommen. Sie sprang so schnell, wie es ihr das Gewicht der Leiter ermöglichte, vom Weg und versteckte sich hinter einem Baum.

Ihr Herz pochte bis zum Hals.

Wer sollte das zu dieser Zeit sein? Es kam doch nur  der „Bursche“ in Frage. Also hatte er  sie tatsächlich die ganze Zeit über beobachtet.

Nicht einmal das Pfefferspray hatte sie dabei.

Das Auto fuhr in einem ziemlich hohen Tempo an ihr vorbei und hielt in Sichtweite an; die Scheinwerfer gingen aus.

Hannah hielt die Luft an und klammerte sich an die Leiter, die sie gegen einen Baum gestellt hatte.

Das Licht im Innern des Autos ging an und kurze Zeit später bewegte sich das Auto in gleichbleibendem Rhythmus.

Hannah wusste, dass vor kurzem ein Bordell in unmittelbarer Nähe eröffnet worden war. Das hatte sehr zum Verdruss der Anwohner geführt, die nun froh waren, dass das Etablissement während der Corona-Krise hatte schließen müssen. In dieser  „feinen Gegend“ hatte so etwas nichts zu suchen.

Erleichtert atmete sie aus. Sie wäre sowieso nicht einen einzigen Schritt weitergegangen.

Sie ließ die Leiter vorsichtig auf den Boden gleiten und bedeckte sie mit Zweigen und Laub. ‚Als würde ich hier eine Leiche verschwinden lassen.’, kam ihr in den Sinn.

Das Auto stand bereits wieder still, als sie im Laufschritt zum Ausgang des Waldes eilte.

Hannah trug Castor in ihre Wohnung, zumindest versuchte sie es. Da er etwa 35 Kilo wog, musste sie ihn immer wieder absetzen. Er lief dann ein Stück auf drei Beinen, bis er sich wieder von ihr hochnehmen ließ.

Als sie endlich oben angekommen waren und sie die Wunde mit Jod säuberte, erklärte sie ihm, dass sie nicht zum Tierarzt gehen können.  Sie hatte sich nach dem Handyfund nicht nur hundeelend, sondern auch außerstande gefühlt,  ihre Arbeit wieder aufnehmen zu können. Deshalb hatte sie sich als „Corona-krank“ gemeldet.

Wenn sich die Pfote entzünden sollte, müsste Alexander ihn abholen.

Es schien ihr ewig her, seit Alexander am Sonntag auf ihre Mailbox gesprochen und ihr zur Sendung am Vorabend gratuliert hatte.

Sie war nicht fähig gewesen, ihn zurückzurufen, nachdem sie morgens das Handy auf dem Terrassentisch entdeckt hatte. Alexander machte sich bestimmt schon Sorgen um sie.

Dieser liebenswürdige, attraktive und humorvolle Mann, der ganz sicher kommen und Castor abholen würde. Und nicht nur das: Alexander würde viel mehr für sie tun.

Sie verstand selbst nicht, weshalb sie sich nicht für ihn entscheiden konnte. Wenn er zwei Wochen mit seiner Tochter im Urlaub war, dann hatte sie regelrecht Sehnsucht nach ihm. Sie zählte sogar die Tage. Doch sobald er sich ihr nähern wollte, ergriff sie die Flucht.

Stattdessen hatte sie in der Vergangenheit eine Reihe von chaotischen Beziehungen zu Männern gehabt, die ihrer Meinung nach alle „liebesunfähig“ gewesen waren.

Irgendetwas lag wohl auch bei ihr im Argen. Und nun hatte sich ihre Situation derart zugespitzt:  Ihr wurde speiübel bei der Vorstellung, in welcher intimen Situation sie der „Bursche“ beobachtet hatte.

Hannah ahnte, wer der „Bursche“ war. Sie hatte über den Sender bereits seit Monaten Mails von dem erwachsenen Sohn eines inzwischen verstorbenen Politikers erhalten. Als der Politiker in ihrer Sendung zu Gast gewesen war, hatte sie diesem entlockt, dass ihm bei seinem kleinen Sohn früher des öfteren „die Hand ausgerutscht“ war.

Der Bursche musste doch gehorchen!“, hatte sich ihr Gast ereifert.

Die Presse hatte eine Schlagzeile daraus gemacht.

Einige Monate später hielt ihr der „Bursche“ in höchst aggressivem Ton vor, nicht nur für die rasant fortschreitende Krebserkrankung des Vaters verantwortlich zu sein, sondern er gab ihr auch die Schuld daran, dass er seine Anstellung bei einer Bank verloren hatte.

Die Kollegen hätten ihn hinter vorgehaltener Hand nur noch „geprügelter Bursche“ genannt; ihm war das nicht entgangen. Als er die Häme nicht mehr ertragen konnte, habe er sich zur Wehr gesetzt. In welcher Form dies geschehen war, hatte er in seiner Mail  nicht  ausgeführt.

Er hatte stets mit „Ihr geprügelter Bursche“ unterschrieben.

Auf die ersten Mails hatte Hannah noch geantwortet und ihr Bedauern ausgedrückt. Ihre Freundlichkeit und ihre Empathie haben möglicherweise irgendetwas in ihm entfacht.

Vielleicht hatte aber auch der Tod des Vaters eine große Erschütterung ausgelöst?

Was auch immer dazu beigetragen haben könnte: In seinen darauffolgenden Mails steigerte er sich zunehmend in einen Wahn hinein. Waren seine anfänglichen Nachrichten noch voller Hass, so war er im Laufe der Zeit dazu übergegangen, ihr seine Zuneigung zu offenbaren.

Zuletzt ist er sogar immer anzüglicher geworden.

Sie hatte diesen Fall einmal auf die Tagesordnung einer Konferenz gesetzt. Da in solchen Fällen jedoch kaum Handlungsspielraum gegeben ist, kam man überein, die Sache noch ein wenig zu beobachten.

Und nun war sie diejenige, die beobachtet worden war.

Er muss ihr nach der letzten Sendung gefolgt sein.

Hannah entschied sich dafür, ihm eine hohe Summe anzubieten. Er war wohl immer noch arbeitslos; da konnte er das gut gebrauchen.

Würde es dadurch eine Geschichte ohne Ende werden? Was würde sie tun, wenn er immer weitere Forderungen stellte? Hinlänglich bekannt war das ja.

Eigentlich gab es dann nur zwei Möglichkeiten: Entweder einen Auftragskiller anzuheuern oder sich selbst vom Funkturm zu stürzen.

Eine andere Lösung gab es dann nicht.

Warum meldete er sich denn nicht? Offenbar wollte er sie schmoren lassen, dieser kranke „Bursche“.

Doch was war mit ihr? War das nicht auch irgendwie krank, was sie getan hatte? Ansonsten hätte es doch gar nichts zu Fotografieren gegeben.

Der Morgen graute bereits, als Hannah den Entschluss fasste, sich der Situation zu stellen. Wie auch immer.

Sie rief auf ihrem Tablet das Internet auf. Schnell fand sie die Koryphäe Martin Gutenberg. Dieser war Professor am Institut für Psychologie an der Humboldt Universität. Sie waren sich schon einmal flüchtig im Sender begegnet, als er für ein anderes Format sein Expertenwissen eingebracht hatte.

Sie notierte seine Rufnummer. Bevor sie ihn anrufen konnte, hatte sie noch drei Stunden zum Schlafen.

Er hatte den Lesesaal der Bibliothek für ihr Treffen vorgeschlagen. Der war offiziell geschlossen, sodass sie den notwendigen Abstand einhalten konnten.

Hannah war mit Atemschutzmaske und Sonnenbrille, also inkognito, gekommen.

Der gigantische, hohe Raum flößte ihr Erfurcht ein. Hannah kam sich vor, wie ein kleines Mädchen.

Nur gut, dass sie geübt darin war, übergangslos von einer Rolle zur anderen zu wechseln. Und so kam unversehens die Moderatorin in ihr zum Vorschein, die ohne weitere Umschweife erklärte, dass inzwischen fast alle bekannten Politiker bei ihr in der Sendung gewesen waren. Künftig wolle sie den Fokus auf ganz normale Menschen richten. Nach einer kleinen Pause ergänzte sie mit leiser Stimme: „Auf Menschen …, mhm, … vielleicht mit abnormen Vorlieben.“

Professor Gutenberg nickte. Das war schließlich sein Fachgebiet, sodass ihn das Anliegen Hannahs nicht überraschte.

Hannah schaltete ihr Aufnahmegerät ein und stellte die erste Frage: „Ein junger Mann belästigt mich seit Monaten. Obwohl ich fast doppelt so alt bin wie er, werden seine Mails immer anzüglicher. Was steckt, psychologisch gesehen, dahinter?“

Professor Gutenberg nickte abermals und begann zu erklären, dass manche Menschen in ihrer psychosexuellen Entwicklung auf einem kindlichen Niveau stehengeblieben sind und deshalb Angst vor der Nähe zu erwachsenen Personen haben.

Er ergänzte:„Solange sie sich in jemanden verlieben, der unerreichbar für sie ist, merken sie nicht, dass sie selbst gar nicht zu einer reifen Liebesbeziehung fähig sind.“

Professor Gutenberg konnte ein anschauliches Beispiel dafür geben:

„Als 12-Jähriger habe ich Madonna heißglühend begehrt. Aber mal angenommen, die Sängerin wäre damals leibhaftig in mein Kinderzimmer eingetreten, …“, er lachte selbst über seinen Einfall und fuhr fort: „Wenn sie mit der Absicht gekommen wäre, meine  Liebe zu erwidern, dann hätte ich mich wohl ruckzuck hinter dem Sofa verkrochen.“

Hannah lachte auf. Es war ein gekünsteltes Lachen, denn ihr war ganz und gar nicht danach zumute.

Professor Gutenberg schmunzelte: „Sie müssen sich einfach nur den 12-jährigen Gutenberg mit der erwachsenen Madonna vorstellen. Dann ahnen sie, was in diesen Menschen vorgeht.“

Hannah fragte, wodurch es zu diesen Entwicklungsdefiziten kommt.

Professor Gutenberg wurde jetzt wieder ernst, als er erklärte:

„Immer dann, wenn ein Kind von seinen Eltern schwer verletzt wird, nimmt die Seele großen Schaden. Wenn bestimmte Reifungsprozesse verhindert werden, fehlt diesen Menschen später die Geschlechtsidentität, das heißt, sie fühlen sich nicht wirklich als Mann oder als Frau. Das Fatale ist, dass sich die Betroffenen nicht darüber bewusst sind. Sie verstehen dann natürlich auch nicht, weshalb sich ihr sehnlicher Wunsch nach einer harmonischen Partnerschaft einfach nicht erfüllen lässt.“

Hannah nickte nachdenklich: „Es gibt so viele von ihnen.“

Professor Gutenberg gab ihr Recht: „Es gibt eben so viele Kinder, die von ihren Eltern verletzt werden.“

Hannah blieb professionell, obwohl ihr das Blut in den Adern gefror: „Danke! Kommen wir nun zur nächsten Kategorie. Was ist mit denen, die …“, sie räusperte sich, „…. die zum Beispiel, .. äh, ähm … mit lebensechten Puppen intim werden?“

„Das ist das gleiche Prinzip!“, antwortete Professor Gutenberg, auch hier ist es oft die fehlende Geschlechtsidentität.

Hannah starrte durch ihn hindurch.

Professor Gutenberg schickte hinterher: „Sie können das alles sehr gut in meinem Buch nachlesen; es trägt den Titel „Abweichungen”.

Hannah fuhr zusammen. Mit belegter Stimme fragte sie: „Abweichungen?“

Wieder nickte Gutenberg: “Sogenannte Abweichungen finden wir bei Menschen, denen aus den genannten Gründen ein normales Liebesleben nicht möglich ist; meist sind die Abweichungen sexueller Natur.“

Hannah schaltete das Aufnahmegerät aus und erklärte, dass sie genug erfahren hat. Und das war nun wirklich die volle Wahrheit.

Sie bedankte sich überschwänglich und verließ schnellen Schrittes den Saal.

Das über das Internet bestellte Buch traf schon am nächsten Tag ein. Hannah begann sofort mit der Lektüre. Im Anhang befand sich eine Therapeuten-Liste. Gegen Abend rief sie bei einer Therapeutin an und vereinbarte eine Skype-Sitzung für die kommende Woche.

Tags drauf hatte sie bereits das gesamte Buch gelesen. Sie lag auf dem Bett und starrte zur Decke: ‚Merkwürdig’, dachte sie, ‚es gibt sogar Parallelen zwischen mir und dem „Burschen“. Auch mein Vater …’ Sie wischte den Gedanken schnell weg; sie wollte sich jetzt nicht auch noch ihre schmerzvolle Vergangenheit in Erinnerung rufen. Das konnte sie in der kommenden Woche bei der Therapeutin tun.

Aber sie hatte keine Angst mehr vor dem „Burschen“. Sie wusste jetzt: Im seinem Inneren war er ein verängstigtes Kind geblieben. Im Buch war ausführlich beschrieben worden, wie hilflos sich diese Menschen fühlen: Äußerlich erwachsen, innerlich verkümmert. Sie durfte nur nicht vergessen, dass ihn gerade seine Hilflosigkeit auch gefährlich machte.

Plötzlich klingelte das fatale Handy.

 „Hast du es also gefunden!“, sagte der „Bursche“ in überheblichem Ton.

Hannah hatte sich vorgenommen, keine Schwäche zu zeigen: „Warum meldest du dich erst jetzt?“, fragte sie herausfordernd. Und ehe er noch etwas entgegnen konnte, fragte sie weiter: „Was willst du? Geld?“

Einen Augenblick war es still in der Leitung. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass Hannah ihm gegenüber so forsch auftreten würde.  Seine zurechtgelegten  Worte sprach er im Befehlston: „Wir treffen uns heute um elf im Grunewald. Laufe einfach bei dir rein. Ich werde dort auf dich warten. Deinen Hund lässt du bitte zu Hause. Und du weißt, was ich tun werde, wenn du nicht kommst.“

Hannah hatte noch genug Zeit, um sich vorzubereiten. Es lag auf der Hand, dass er sie mit dem Treffpunkt im Wald in Angst versetzen wollte. Sie sollte sich ihm unterwerfen; das brauchte er, um sich überlegen, das heißt, um sich größer fühlen zu können – er, der innerlich klein gebliebene „Bursche“. Wie gut, dass ihr die Motivation dieser Menschen nahegebracht worden war. Sie nahm sich vor, Professor Gutenberg in ihre Sendung einzuladen. Aber jetzt musste sie erst einmal diesen Abend überleben.

Bevor sich Hannah auf den Weg machte, steckte sie das Pfefferspray in die Jackentasche, verabschiedete sich innig von Castor und zog die Tür hinter sich zu. Er winselte dahinter.

Mit schnellen Schritten lief sie in den Wald hinein. Das Adrenalin ließ ihr Herz bis zum Hals pochen.

Hannah war vielleicht hundert Meter gelaufen, als der „Bursche“ aus dem Dickicht hervortrat. Sie erschrak und stieß einen kurzen Schrei aus.

„Na, na, na, hast du mich etwa nicht erwartet?,  fragte der „Bursche“.

Er fuhr mit der Taschenlampe seines Handys auf ihrem Körper auf und ab. „Du bist eine wirklich schöne Frau. Und seitdem ich dich so in action durchs Fenster gesehen hab’, ….“

Hannah ließ ihn nicht ausreden, sondern tat überrascht:

„Ach du meine Güte, du bist ja noch ein halbes Kind!“

Diese Worte machten ihn aggressiv. Er packte sie bei den Schultern und drückte sie gegen einen Baum.

Sie versuchte, ihre Angst zu unterdrücken und fragte: „Wenn du mich als Frau willst – warum treffen wir uns dann hier und nicht bei mir nach Hause?“

Der „Bursche“ reagierte nicht; erst nach einer längeren Pause sagte er: „Du bluffst doch nur!“

Mit Kopfschütteln erwiderte Hannah: „Das war kein Bluff, sondern eine Frage. Ich wundere mich nämlich. Statt dass du dir eine Frau suchst, die zu dir passt und die dich auch will, schleichst du wie ein kleiner Junge auf fremde Terrassen und gaffst heimlich durch fremde Vorhänge.“

Mit solchen verbalen Angriffen hatte er nicht gerechnet. Er schrie sie an: „Hör’ auf, sonst …!“

Doch Hannah wollte ihre Überlegenheit nicht auf’s Spiel setzen: „Du läufst einer Frau hinterher, die beinahe deine Mutter sein könnte. Wach endlich auf!“

Jetzt wurde es ihm wirklich zu bunt. Er setzte sich die Kopfhörer auf, die um seinen Hals gelegen haben und stellte die Lautstärke höher.

Er wippte demonstrativ mit dem Kopf zur Musik, als hätten ihn die Worte Hannahs nicht tangiert. In Wirklichkeit überlegte er, wie er Herr über die Lage werden könnte.

Hannah versuchte, ihm die Kopfhörer mit einer energischen Geste wieder vom Kopf zu schieben. Dabei rief sie ihm zu: „Sieh doch endlich ein, dass das hier nichts mehr wird …“. Eigentlich hatte sie vor, ihm jetzt die Summe zu nennen, die sie bereit war zu zahlen. Doch dazu kam sie nicht mehr. Er packte sie mit beiden Händen am Hals und drückte fest zu. Er war plötzlich wie abgetreten und es war nicht zu erwarten, dass er sich noch würde fangen können.

Hannah wehrte sich mit allen  Kräften.

Es gelang ihr, einen Schritt nach hinten zu setzen. Dabei stolperte  sie über die dort liegende Leiter und fiel nach hinten. Unwillkürlich ließ er sie los, weil er sonst auf sie gestürzt wäre.

Hannah blieb reglos auf dem Waldboden liegen.

Er wusste nicht, ob er ihr aufhelfen sollte und blieb unschlüssig stehen. Die Bässe drangen aus seinen Kopfhörern. Er setzte sie wie zum Schutz wieder auf.

Als habe sie sich schwer verletzt, bewegte sich Hannah wie in Zeitlupe. Er sah nicht, dass sie zwei Sprossen der Leiter fest in den Griff nahm. Mit einem Ruck schoss sie in die Höhe und schwenkte die Leiter so herum, dass der „Bursche“ zu Fall kam. Bevor er sich wieder aufrichten konnte, attackierte sie ihn mit dem Pfefferspray.

„Du Miststück, du!“, schrie er aus. Er rieb sich die brennenden Augen, wandte sich um und rannte los. Genau in das  heranfahrende Auto, welches hier wieder zu so später Stunde nur fuhr, weil das Bordell geschlossen war.

Er wurde hoch durch die Luft geschleudert.

Hannah rief dem Fahrer zu, er solle einen Krankenwagen rufen. Gleichzeitig eilte sie zu ihm.

Sie hielt seinen Kopf und versuchte, mit einem Taschentuch den Pfeffer von seinen Augen abzutupfen. Aus seinem Mund rann Blut. Die Kopfhörer waren bei dem Aufprall weggeschleudert worden. „Crazy“ von Madonna beschallte die Szene.

Mit gurgelnder Stimme versicherte er, dass es keine weiteren Fotos von ihr gebe.

„Pscht, jetzt nicht sprechen!“, forderte ihn Hannah auf.

Sie strich weiterhin sanft über seine Augen und versicherte ihm: „Es tut mir so leid. Das wollte ich wirklich nicht. Schließlich habe ich dir soviel zu verdanken!“

Den letzten Satz verstand er nicht.

Das war auch nicht mehr notwendig, denn er starb auf dem Weg ins Krankenhaus.

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