Trixie HeimlichDie rote Liste

Die rote Liste

Samantha Lichtenfeld atmete tief durch.

Aus der Ferne wehte ein blumiger Duft heran, gemischt mit dem, frisch gemähten Grases. Sie war dankbar für die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, die sie sammeln durfte, an diesem frühen Montagnachmittag, während sich weiter unten in der Stadt der Alltag durch die Straßen kämpfte. Es war so friedlich hier, wie sonst nichts in ihrem Leben. Fast zu schön um wahr zu sein. Beinahe konnte man für einen Augenblick alle Sorgen vergessen, alle schlechten Träume, alles was geschehen war, inmitten der lichten Dünenlandschaft, die früher einmal ein dicht bewachsener Wald gewesen war. Das war lange her. Menschen kamen, um ihn zu roden. Menschen waren in der Lage schreckliche Dinge zu tun. Samantha wusste das, sie wusste es nur zu gut. Menschen zerstörten die Schönheit, die auf dieser Welt geblieben war und als ob damit nicht schon genug angerichtet war, machten sie nicht selten mit denen weiter, die versuchten, sich an allem schönen festzuhalten, das sie finden konnten. Jede Art von Monstern wurde aus Menschen geboren.

Aus genau diesem Grund war Samantha hier. Sie suchte den Weg hinaus, den Weg ins Schöne. Fort von der Dunkelheit, die tief in ihr lauerte, fort von all der sorgfältig versteckten Angst. Sie suchte einen Frieden, von dem sie sich fast sicher war, dass es ihn nirgendwo zu finden gab.

Natürlich hätte Samantha eigentlich wie alle anderen unten in der Stadt arbeiten sollen. Aber für diese Woche hatte sie noch keinen Job gefunden, mit dem sie sich weiter über Wasser halten konnte. War das nicht im Grunde schon all die Jahre der Vorwurf ihres Vaters gewesen? Dass sie ein Taugenichts sei, der sich keinen Platz in der Gesellschaft suchte und alles Potential in brotlose Kunst steckte, die niemandem, am wenigsten ihr selbst etwas bringen konnte? Dabei irrte er sich gewaltig. Diese brotlose Kunst war ihr Zufluchtsort in einer viel zu großen Welt und es war ganz und gar nicht so, dass sie in dieser Welt keinen Platz für sich suchte. Vielmehr schien es keinen Platz für sie zu geben. Samantha hatte schon so viel versucht, aber nichts schien es zu geben, das ihr wirklich half, sich unter die Menschen zu trauen. So jobbte sie hier und da für ein wenig Geld, sie zeichnete, sie malte und fotografierte. Vor über drei Jahren hatte ihr Vater aufgegeben, über ihren Lebensstil und ihre schlechten Entscheidungen zu schimpfen. Er fragte sie nicht mehr, was sie machte oder wie es ihr ging. Er rief sie nicht an und besuchte sie nicht, obwohl sie kaum nennenswert auseinander lebten. Letztes Jahr hatte er ihren Geburtstag verstreichen lassen und der einzige Beweis, dass er sie noch nicht ganz und gar aufgegeben hatte, bestand in der Miete ihrer kleinen Wohnung, die stillschweigend jeden Monat auf ihr Konto floss, und ohne die sie inzwischen ganz sicher obdachlos geworden wäre.

So nutzte Samantha an diesem Tag das einzig wertvolle, das ihr im Leben geblieben war, ihre Freiheit, und genoss sie in vollen Zügen. Sie strich durch die Gräser der Hellerberge, die die Innenstadt Dresdens vom nördlichen Stadtteil trennten und fing mit ihrer Nikon alles Schöne ein, was ihr begegnen konnte.

Das Klicken und Surren rauschte leise über die Weite und verhallte unter dem lauten Zwitschern der Vögel. Sie gönnte sich einen kurzen Ausblick auf die Hellerberge und war ein weiteres Mal froh über die kleine Wohnung im Grünen, die sie hier ganz in der Nähe ergattert hatte. Oft lief sie allein durch die Natur und konnte nichts gegen die kindliche Hoffnung tun, irgendwo zwischen den Vogelgesängen einen kleinen Riss zu finden, durch den sie in einer wärmere Welt entfliehen konnte. Eine Welt ohne Schmerz, in der sie ganz sicher ihren Patz finden würde.

Natürlich wusste sie, dass das nichts als eine Fantasie war, denn der Wirklichkeit konnte man nirgendwohin entfliehen.

Gerade als sie die Kamera erneut vor ihr Auge heben wollte, zerschnitt ein schimmernder Lichtblitz das Bild. Samantha blinzelte. Dort war es wieder. Irgendetwas spiegelte die Sonne. Samantha ließ die Kamera sinken und näherte sich dem eigenartigen Blitzen neugierig. Sie schob die langen Halme beiseite und hob es auf. Es war ein schwarzes Smartphone.

Stirnrunzelnd blickte sie sich um. Kein Mensch war zu sehen. Wer auch immer es verloren hatte, war längst weg und vermisste es sicher schmerzlich. Samantha besah es sich genauer. Irgendein älteres Modell war es, so genau kannte sie sich mit diesen Telefonen nicht aus. Sie besaß nur ein altes Klapphandy und selbst das vergaß sie regelmäßig zu Hause. Sie kannte niemanden, den sie unbedingt hätte anrufen oder eine Nachricht oder ein Bild schicken wollen. Sie ließ ihre Bilder entwickeln.

Vorsichtig drückte sie einen kleinen Schalter an der Seite, da leuchtete es auf. Ein schlichter blauer Hintergrund, die unverfängliche Meldung, zum Entsperren über den Bildschirm zu streichen. Wohl wissend, dass sie das Handy ohne eine Pin oder ähnliche Erkennung nicht entsperren konnte, zog sie den Zeigefinger leicht über den Bildschirm. Wem auch immer das Telefon gehörte, offenbar lag ihm nicht viel an der Sicherheit seiner Daten. Ein Pincode oder etwas in der Art wurde nicht verlangt, um in die Tiefe des Handys vorzudringen. Samantha probierte ein wenig herum. So wie es aussah, gab es auf dem Gerät nicht viel zu sichern. Sämtliche Apps, von denen sie wusste, dass sie für ein soziales Leben womöglich gebraucht wurden, waren herunter gelöscht oder vielleicht deaktiviert worden. Eine Internetverbindung stand nicht und außer den Symbolen für Galerie und Kontakte schien es keinen Hinweis zu geben, wem dieses Handy überhaupt gehörte. Zögernd öffnete Samantha die Galerie. Sie blätterte beklommen durch eine Auswahl an Klassenzimmern, wie man sie aus Oberschulen kannte, Tische, Stühle, Tafeln, Wandkarten. Die Zimmer waren menschenleer. Manche aufgeräumt und verlassen, andere wüst und voller verstreut liegender Rucksäcke und Taschen. Dann kamen einzelne Treppenaufgänge, ein Lehrerzimmer, Notausgänge…

Ein ungutes Gefühl beschlich Samantha. Es kroch ihr wie eine kalte, tote Hand den Nacken hinauf. Es war schon viele Jahre her, doch je mehr Bilder sie sah, umso sicherer war sie, dass diese Bilder ihre eigene Oberschule zeigten, die sie vor elf Jahren verlassen hatte. Und ja, da war die Sporthalle, Gott, wie sie sie gehasst hatte! Die Mädchenumkleide…

Samantha drehte sich der Magen um. Eine Gänsehaut kroch ihr über den Körper, ihre Hände wurden feucht und plötzlich schien der Boden zu wanken. Der Himmel über ihr kippte seitlich weg. Zitternd sank sie zu Boden und tastete nach fester Erde, die sie halten konnte. Sie wusste nicht, woher diese Schwäche kam, erinnerte sich nicht, was dort geschehen war. Nur in einer Sache war sie sich ganz sicher, sie wollte nicht weiter sehen.

“Ich kann nicht, ich kann nicht…”, wimmerte sie.

Wer auch immer dieses Handy hier hatte liegen lassen, wusste irgendetwas. Das war ganz sicher kein Versehen gewesen. Jemand wusste, wie schwer sie es gehabt hatte. Dieses Handy sollte gefunden werden, mit all seinen Bildern, mit all den Erinnerungen, die im Dunkeln lagen, die sich wanden und streckten, wie ein Monster, das gemächlich aus dem Winterschlaf erwachte. Dass es ihr schlecht ging, dachte Samantha zittrig, war ganz sicher der Sinn hinter all dem gewesen. Wer auch immer das Handy platziert hatte, sicher amüsierte er sich prächtig. Vielleicht war es diese Hartmann oder eines ihrer Laufmädchen, die sie schon damals immer mit Freude gequält hatten. Hektisch blickte Samantha sich um. Sie spähte in alle Richtungen, lauschte auf das kleinste Geräusch, vielleicht das Knacken eines Zweiges oder das Kichern hinter einer vorgehaltenen Hand. Fast war es ihr, als könnte sie es hören. Das Höhnen und Lachen, erbarmungslos schallte es auf der weiten Wiese wider. Doch da war niemand. Sie war immer noch allein.

Mit zitternden Fingern, fast so als würde sie der Bildschirm magisch anziehen, wählte sie das nächste Bild und stieß einen spitzen Schrei aus. Sie sah den Spiegel der Mädchenumkleide und in diesem Spiegel erblickte sie ihr jüngeres Ich mit den langen, dunklen Haaren, der blassen Haut und einem Handy wie diesem, sich selbst fotografierend. Aber das konnte nicht sein. Keines der Bilder hatte sie selbst fotografiert. Das konnte gar nichts anderes sein,  als ein schlechter Scherz. Wütend schloss sie die Galerie. Von so etwas würde sie sich nicht einschüchtern lassen! Mit zusammengepressten Lippen öffnete sie den Kontakte Ordner, der ihr ganz sicher dabei helfen würde, herauszufinden, wer sich diesen perfiden Spaß mit ihr erlaubte. Verblüfft hielt sie inne. Da gab es nur zwei Namen. Den einen hatte sie noch nie zuvor gehört, er hieß Devin, der andere hieß…

“Mama!”, flüsterte Samantha und ein Schaudern durchzog ihren Körper. Mit tauben Fingern wählte sie Mama und drückte auf den Hörer. Am anderen Ende klingelte es hallend.

“Samantha? Liebling? Bist du es?”

Ungläubig keuchte Samantha ins Telefon.

“Mama?!”, hauchte sie fassungslos und verstand die Welt nicht mehr.

“Oh Liebling, ich habe so gehofft, dass du dich bei mir meldest.”, antwortete die so geliebte und vertraute Stimme. Und das ergab nicht den geringsten Sinn.

“Meine Mutter ist gestorben, als ich neun war.”, sagte Samantha tonlos. Und daran gab es auch keinen Zweifel, denn mit diesem Tag war ihre heile Welt zusammengebrochen. “Wer auch immer Sie sind, Sie sind nicht meine Mutter!”

“Zerbrich dir nicht den Kopf über das Wie, es ist wichtig, dass du mir jetzt gut zuhörst…”, unterbrach die Stimme sie eindringlich.

“Meine Mutter starb an Brustkrebs!”, presste Samantha hervor und furchtbare Bilder traten vor ihre Augen. Bilder, die in eine vergangene Zeit gehörten, voller Chemo- und Strahlentherapie, Schmerzen, einen dahinschwindenden Körper des besten Menschen, den es für sie je gegeben hatte.

“Samantha! Hör mir zu…”, ein leises Rauschen schlich sich in die Leitung. “Es ist … wichtig, dass…nicht sicher… du darfst nicht…”

Immer leiser wurde die Stimme, abgehackter und hallend, als wäre sie unendlich weit weg.

“Was sagst du?”, flüsterte Samantha und presste sich das Handy fest ans Ohr. “Was hast du gesagt?!”

“…auf keinen Fall…Devin…du musst…loswerden…”

“Mama?”

Rauschen.

“Mama!”, sagte Samantha laut, doch die Verbindung war abgerissen. Fahrig drückte sie erneut auf den Hörer, versuchte es wieder und wieder, doch die Verbindung ließ sich nicht wieder aufnehmen.

“Verflucht!”, rief Samantha aus. Wovor hatte Mama sie warnen wollen? In der Tiefe ihrer Gedanken erhob sich ein sachter Widerspruch. Es war gar nicht möglich, dass sie gerade mit ihrer Mutter gesprochen hatte, egal wie sehr sie es sich wünschte. Ihre Mama war tot.

Da klingelte das Telefon in ihrer Hand laut und schrill in die Stille hinein. Vor Schreck ließ Samantha es fallen, las es fahrig auf und nahm das Gespräch an, ohne hinzusehen. Hoffnungsvoll rief sie: “Mama?”

“Nein.”, sagte eine amüsierte Stimme am anderen Ende und kicherte leise. “Hier ist nicht Mama. Ich bin’s, Devin. Freust du dich, von mir zu hören, Schwesterherz?”

Mit offenem Mund starrte sie in die Weite.

“Ich weiß, du hörst mich.”, fuhr Devin lachend fort. “Es tut so gut, endlich mit dir reden zu können!”

“Ich habe keinen Bruder…”, sagte Samantha leise und fragte sich wieder, wer um alles in der Welt ihr diesen geschmacklosen Streich spielte. “Ich kenne Sie nicht!”

“Oh, aber ich kenne dich, kleine Schwester. Vielleicht besser als du selbst.”, meinte Devin ausgelassen. “Gefallen dir meine Bilder in der Galerie? Ich wette, du hattest diese Schule schon wieder vergessen!”

Seine Bilder?

“Wer sind Sie?!”, schrie Samantha ihn an. “Was wollen Sie?! Was zur Hölle soll das hier?!”

“Ich will dir helfen, dich zu erinnern, Samantha, kleine Samantha. Es ist Zeit, sich zu erinnern…”, säuselte die unbekannte Stimme und eine tiefe Kälte ergriff Besitz von ihr.

“Lassen Sie mich in Ruhe!”, fauchte sie und drückte auf den roten Hörer. Fassungslos und voller Abscheu blickte sie auf das stumme Telefon in ihrer Hand.

Da klingelte es wieder.

Devin, stand dort und panisch wischte Samantha den Anruf fort. Ein übermächtiger Impuls, das Handy weit weg zu werfen, überkam sie. Aber da war noch die andere Nummer eingespeichert. Eine, die sie unmöglich loslassen konnte. Mama.

Wieder versuchte sie Mama zu erreichen. Wieder scheiterte sie. Und wieder rief Devin an.

Wie betäubt nahm sie ab.

“Lass mich in Ruhe.”, sagte sie matt.

“Bald, Schwesterherz, versprochen. Aber lass mich dir erst etwas zeigen.”

“Ich habe keinen Bruder!”, keuchte sie atemlos mit wild schlagendem Herzen.

Devin seufzte.

“Wenn du zuhören würdest, Samantha, würdest du es verstehen.”

“Ich verstehe gar nichts!”, platzte es aus ihr heraus.

“Und deswegen versuche ich es ja zu erklären.”, erwiderte Devin mit unverhohlener Ungeduld, als habe er es mit einer Dreijährigen zu tun. “Geh nach Hause, Samantha, dann wirst du es verstehen. Ich will dir helfen.”

“Ich brauche keine Hilfe!”, flüsterte Samantha mit trockenem Mund.

“Oh doch, die brauchst du, mein Schatz.”, hielt er dagegen und lachte wieder, so kalt, dass es Samantha vor Grauen schüttelte.

“Geh nach Hause, kleine Schwester!”, rief die Stimme an ihrem Ohr. “Geh nach Hause, oder du wirst die Stimme deiner Mama nie wieder hören.”

Samantha ging nicht nach Hause, sie rannte. Das schweigende Handy in ihrer Tasche trieb sie an. Obwohl sie sich beinahe sicher war, dass sie die Stimme ihrer Mutter nie mehr hören würde, ja, sogar, dass sie sie nie wirklich gehört hatte, beschlich sie das schreckliche Gefühl, sich ihrer eigenen Gedanken nicht mehr sicher sein zu können.

Wie kamen die Bilder ihrer alten Schule auf dieses fremde Telefon? Wer hatte einen Kontakt namens Mama eingespeichert, und wie konnte es sein, dass sie wirklich mit ihr gesprochen hatte? Wer war dieser Devin? Sie hatte keinen Bruder! Und dann war da dieses Bild von ihr selbst vor dem Spiegel der Mädchenumkleide, dass sie nie gemacht hatte! Wenn das kein schlechter Scherz war, dann konnte es nur eins sein. Ein böser Traum, aus dem sie erwachen würde, sobald sie bei ihrer Wohnung war. Vielleicht würde der Schlüssel nicht passen oder die Wohnung anders aussehen! Dann würde sie aufschrecken und wenn ihr Herz sich beruhigt hatte, könnte sie vielleicht sogar darüber lachen. Nichts als ein böser Traum.

Als Samantha ihre Wohnung erreichte, zitterten ihre Hände so sehr, dass sie beide brauchte, um den Schlüssel ins Schloss zu bekommen. Der Schlüssel passte. Und sie wachte auch nicht auf.

Mit bebendem Körper und wild schlagendem Herzen huschte sie ins Innere. Ihre Wohnung war klein und dunkel. Fenster gab es nur in ihrem Schlafzimmer, während das winzige Bad, die kleine Küche und der schmale Flur im Dunkeln lagen.

Nicht ganz.

Samantha erstarrte, denn in der Küche brannte Licht. Mit stockendem Atem schob sie die Tür auf, durch die der Lichtschein fiel und blieb wie angewurzelt stehen. Niemand außer ihr war in der Küche. Wäre der Tisch nicht gewesen, hätte sie vielleicht gedacht, sie hatte das Licht versehentlich brennen lassen, doch leider war der Tisch da. Und auf ihm lagen ein Messer, eine Pistole und ein Zettel.

Darauf geschrieben, in einer unbekannten Schrift, stand nur ein Wort, doch es reichte aus, um ihre Welt in einen reißenden Strudel zu verwandeln.

Wähle.

Samantha schrie.

Sie stolperte rückwärts aus der Küche, verschloss die Eingangstür und rannte in ihr Schlafzimmer. Ihr Rückzugsort, ihre Galerie, der Ort ihrer Träume, ihr Reich, das alleine ihr gehörte. Nur, als sie die Tür aufstieß, war sie sich da nicht mehr so sicher.

Ihre Bilder waren von den Wänden gerissen und lagen auf dem Boden verstreut. Stattdessen hingen dort Fotografien. Eben jene Bilder, die auf dem Handy gespeichert waren, direkt neben einer Zeichnung des Schulgeländes. Es gab Fotografien von Männern und Frauen, alle in ihrem Alter, Zeitungsausschnitte, und noch mehr Fotos. Auf vielen waren die Fremden eingekreist. Rote Linien verbanden die einzelnen Bilder und Zeitungsausschnitte und alle trafen sich auf einem Blatt Papier.

Keuchend schlug Samantha die Hände vor den Mund. Sie wusste, was das war, das dort an der Wand hing. Sieben Namen standen auf dem Papier, rot leuchtend, als wären sie mit Blut geschrieben. Tränen rannen Samantha stumm die Wangen hinab.

Niemand hatte sie finden können. Niemand hatte sie an die Wand hängen können.

Es war unmöglich. Ungläubig berührte sie das Papier.

Sie ist echt, dachte Samantha entsetzt, sie hängt wirklich hier. Die rote Liste.

Diese Liste hatte sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Nachdem sie sie vernichtet hatte.

Und während ihr Blick von den Namen zu den Bildern der fremden Menschen huschte, wurde ihr klar, dass das gar keine Fremden waren.

Das Handy in ihrer Tasche klingelte schrill.

Zitternd nahm sie es, den Blick unentwegt auf die Namen und Gesichter gerichtet.

“Bist du zu Hause, Schwesterherz?”, ertönte Devins gut gelaunte Stimme.

“Ich verstehe das nicht!”, hauchte Samantha und das Herz schlug ihr bis zum Hals.

“Sie sind alle dort, sieh nur.”, meinte Devin gutmütig und mit jedem Wort, das folgte, tauchte ein grauenvolles Bild nach dem nächsten vor ihrem inneren Auge auf, fast so, als hätte sich in ihren Tiefen ein gnadenloser Abgrund aufgetan.

“Da sind Maya König und Lena Bleibtreu, toller Name, nicht wahr? Sie hat diesen Sommer geheiratet. Nun, ihren Freundinnen ist sie immer treu geblieben, hat sie immer gedeckt, oder nicht? Hat sie von allen Schandtaten freigesprochen, hat Beweise verschwinden lassen und jedes Mal zugesehen, stumm wie ein Fisch. Maya König war nicht so stumm, richtig? Hat regelmäßig deine Sachen gestohlen und unter den Jungs verteilt, besonders gern deine Unterwäsche nach dem Sport, weißt du es noch, Samantha?”

Samantha stöhnte.

“Das ist so lange her!”

“Hat sie nicht einmal dein Tagebuch gestohlen und es Denise überlassen? Sie hat in allen Einzelheiten daraus vorgelesen. Die liebe Denise. Siehst du sie?”

Denise Hartmann, die schlimmste der Mädchenclique. Sie steckte hinter jeder noch so niederträchtigen Tat, jedem bösen Wort, jeder Hänselei, jedem Verbrechen. Selbst die peinlichen Fotos von Samantha, die die Runde gemacht hatten, hatten ihren Weg durch Denise Hartmann gefunden. Ja, sie sah das Miststück auf den Fotos.

“Sie ist Influenzerin.”, fuhr die Stimme an ihrem Ohr unbeirrt fort. “Sie hat inzwischen fast vierhunderttausend Follower. Denen zeigt sie ihr schönes Leben, viel Schimmer und Schein und alle verfolgen gebannt jeden ihrer Schritte, ihre Kleidung, ihre Schuhe, jeden Bissen, den sie sich zwischen die operierten Lippen schiebt. Sie ist ja so erfolgreich!”

“Hör auf! Hör endlich auf!”, flüsterte Samantha, deren Stimme genauso wie damals zu dünn war, um etwas auszurichten.

“Und Manuel Porz, der dich gerne festgehalten hat, wenn Markus gegen dich ausgeteilt hat. Er ist jetzt Rechtsanwalt für Privatklagen. Was für eine Ironie.”, fuhr Devin unbeirrt fort. “Markus Herme, der Schläger, leitet ein eigenes Fitnessstudio mit Boxstall. Treffend, nicht?”

“Bitte!”, flehte Samantha mit erstickter Stimme. “Ich will das nicht mehr hören. Ich kann nicht!”

“Herr Roberts ist immer noch Sportlehrer an der Schule!”, rief Devin heftig aus. “Schikaniert die stillen Mädchen noch heute! Weißt du noch, als er die Turnhalle abgeschlossen hat? Hat dich mit Flynn alleine gelassen. Weißt du es noch?!”

Samantha schrie. “Nicht das! Bitte nicht!”

“Was er mit dir gemacht hat, Samantha? Was er dir angetan hat?”

“Was willst du von mir?!”, Samantha spürte, wie ihr die Stimme entglitt. Sie überschlug sich heftig, während es sie am ganzen Körper schüttelte. Zerschunden, missbraucht, ein Meer aus Schmerzen. Und immer tiefer fraßen sich die Worte in sie hinein.

“Rache.”, sagte Devin leise.

“Habe ich nicht genug gelitten?”, hauchte Samantha entkräftet.

“Nicht an dir, Schwesterherz, doch nicht an dir. Ich will Rache an jedem Einzelnen auf dieser Liste! Ich will, dass sie endlich bekommen, was sie verdienen! Das, was du bereits vor zwölf Jahren tun wolltest!”

Samantha erstarrte.

Davon hatte niemand gewusst. Niemand.

Keiner wusste, wie sie wach gelegen hatte. Wie sie sich vorgestellt hatte, mit einer Waffe in die Schule zu ziehen und sie alle büßen zu lassen. Niemand wusste von der roten Liste, die sie geschrieben hatte. Die Liste, auf der Flynn Ehring ganz oben stand. Die Liste, die sie schließlich zerstört hatte, in der Hoffnung, eines Tages alles vergessen zu können. Die Liste, die nun wieder vor ihr hing, mit all diesen Namen. Mit all den Bildern, Zeitungsausschnitten, Ausdrucken aus dem Internet und den Adressen jedes Einzelnen.

“Wer bist du?”, fragte Samantha furchtsam die Stimme an ihrem Ohr.

“Die viel bessere Frage ist…”, sagte Devin mit einem Lächeln in der Stimme, “…Wer bist du?”

Dann legte er auf.

Wie hypnotisiert starrte sie das Telefon an. Ihre Tränen waren versiegt. Doch als es wieder klingelte, gab es für sie kein Halten mehr.

“Samantha? Liebling?”, drang die Stimme ihrer Mama aus dem Handy. Und sie klang so fern, wie das Echo eines leisen Flüsterns.

“Hör nicht auf ihn, mein Schatz, hör nicht auf ihn! Du musst das Telefon loswerden!”

“Ich will dich nicht wieder verlieren.”, weinte Samantha leise.

“Es ist viel wichtiger…”, und wieder begann es in der Leitung zu knistern und zu knacken, “…dich nicht selbst verlierst!”

“Mama?!”, rief Samantha und presste sich das Handy ans Ohr. Sie konnte sie kaum noch verstehen.

“Ruf… deinen Vater…Samantha!”

Dann riss die Verbindung endgültig ab.

Samanthas Gedanken überschlugen sich. Ihre Mutter wollte sie warnen vor der anderen Stimme, Devin. Ihren Vater sollte sie anrufen? Als ob er ihr helfen würde…

Das Handy loswerden? Sie hätte es schon längst zerstören sollen. Zerstören, wie all die Bilder an der Wand, die Adressen, die Erinnerungen, die Liste. Und doch… Rache. Rache an all denen, die sie gebrochen hatten. Ein Messer, eine Pistole, ein Wort. Wähle.

Wer bin ich?, fragte sie sich wieder und wieder. Wer bin ich heute?

Zitternd wählte sie Devins Namen und stellte die Verbindung her.

“Sie alle leben ihr Leben als wäre nie etwas geschehen.”, sagte er sogleich, als wären sie nie unterbrochen worden.

“Flynn Ehring ist Vater zweier Mädchen. Meinst du, er stellt das gleiche mit ihnen an, was er mit dir gemacht hat? Er ist schließlich nie bestraft worden, nicht wahr? Er ist jetzt Polizist und arbeitet ganz in der Nähe, im gleichen Revier, wie dein Vater. Meinst du wirklich, er würde deinem Wort Glauben schenken, dein Vater? Eine Schande bist du immer für ihn gewesen. Ist nicht viel eher Flynn die Schande? Nicht jeder Name auf deiner Liste? Findest du nicht, es ist Zeit, zu wählen?”

“Ich bin nicht mehr dieselbe.”, flüsterte Samantha erstickt. “Ich werde es hinter mir lassen!”

“Warum, kleine Schwester, hast du mich dann angerufen?”, kicherte Devin leise. “Weil du willst, dass ich es für dich tue, richtig?”

“Nein!”, schrie Samantha ihm entgegen und es kostete sie alle Kraft, die sie besaß. Sie rannte ins Badezimmer, warf das Handy in die Toilette und hämmerte mit der Faust gegen die Spülung. Gurgelnd versank das elende Ding mitsamt der Stimme im Wasser, doch da hatte sie sich schon abgewandt.

Weinend riss sie die Bilder und mit ihnen alle Pläne von der Wand. Sie zerriss die rote Liste ein zweites Mal und sank schließlich bebend in sich zusammen. In ihrem ganzen Schmerz wusste sie, dass sie es niemals hinter sich lassen würde. Sie wusste, niemals mehr würden die Erinnerungen von ihr ablassen, die wie ein giftiger Regen auf sie niederfielen. Sie konnte sich nur verstecken und immer kleiner werden und hoffen, dass sie einfach eines Tages verschwinden würde und mit ihr alles, was an diese finstere Zeit erinnerte. Die Augen schließen und nie mehr erwachen. Und kaum, dass sie es dachte, wurde es auf einmal dunkel und viel zu kalt.

So, wie Samantha die Augen geschlossen hatte, schlug Devin seine auf. Ein siegessicheres Lächeln auf den Lippen. Frei. Endlich frei! So lange schon träumte er davon.

Er streckte sich aus und betrachtete seinen Körper. Ein Frauenkörper. Nicht ideal, aber diesen Preis war er bereit zu zahlen.

Er schöpfte sich im Bad kaltes Wasser ins Gesicht und fühlte sich wie neu geboren.

In der Küche steckte er sich beides ein, das Messer und die Pistole. Die Zeit zum wählen war vorbei.

“Ich werde dich rächen, kleine Schwester.”, sagte Devin leise und war froh, dass dieser zerrissene Teil ihrer gemeinsamen Seele nun friedlich schlafen konnte.

Er löschte das Licht und verließ die kleine Wohnung mit einem breiten Lächeln.

Er brauchte die rote Liste nicht und auch nicht die Adressen.

Er konnte sich an alles erinnern, was er wissen musste.

Trixie Heimlich

One thought on “Die rote Liste

  1. Sehr spannend geschrieben, einmal angefangen zu lesen, muss man es durchziehen bis zum Schluss 🙂
    Mir gefällt der Stil, weil man sich so wie du schreibst gut in die Gefühlswelt von Samantha hineinversetzen kann. Viel zu verbessern fällt mir da nicht ein, du könntest höchstens kurz vor Schluss 1-2 Sätze so kürzen, dass man keine Chance hat auf die Lösung zu kommen, damit sie am Ende härter trifft. (Dumm formuliert, aber ich will niemanden spoilern, der vielleicht erst die Kommentare liest)
    Kompliment für deine Arbeit und wenn du Lust hast freue ich mich natürlich auch über Feedback 🙂
    LG, Simone mit “Momentaufnahme”

Schreibe einen Kommentar