Sina KuehnelDie Schuld

Der Geruch von fettigen Pommes und Burgern hing inzwischen nicht nur in meinen Haaren, sondern auch in meiner Kleidung. Die rosafarbene Schürze mit dem Logo vom Bell’s war wahrscheinlich noch nie gewaschen worden und zeigte inzwischen so viele Flecken auf, dass das Rosa langsam einem Beige gewichen war. Ob ich sie wohl mal nach Hause schmuggeln sollte, um sie heimlich zu waschen?  Nein, seit dem Vorfall damals traute ich mir nicht einmal mehr so etwas zu, obwohl das doch echt harmlos war, oder?

„Maja! Tisch 23 muss abgeräumt werden!“ Die hysterische Stimme meines Chefs riss mich aus meinen abschweifenden Gedanken und brachte mich zurück in die Gegenwart. Ruckartig lief ich los Richtung des besagten Tisches, aber nicht, ohne vorher einen Blick auf die Tischverteilung zu werfen, die ich nach einem Jahr Arbeit im Bell’s immer noch nicht zu hundert Prozent auswendig wusste.

Auf dem Weg dorthin lief jemand an mir vorbei zum Ausgang, und ich verabschiedete den Gast freundlich mit einem „Auf Wiedersehen“, ohne ihn wirklich wahr zu nehmen. Denn Regel Nummer eins, die mein Chef Danny mir beigebracht hatte, war: Der Kunde ist König! Auch wenn mir das manchmal schwer fiel. Angekommen an dem verlassenen Tisch stapelte ich die kleinen Teller auf meinem Arm, so wie ich es von Danny gelernt hatte. Den Brotkorb auf dem Tellerstapel zu balancieren war gar nicht so einfach. Als ich mein Gleichgewicht gefunden hatte, fiel mein Blick auf einen zurückgelassenen Gegenstand auf den Tisch. Blitzschnell reagierte ich, sah zur Tür, um dem Gast hinterher zu rufen, aber dieser war natürlich schon längst verschwunden. Naja, er würde schon zurückkommen, sobald er merken würde, dass er es vergessen hatte. Also schob ich das schwarze Touch-Handy mit meiner freien Hand in die hintere Hosentasche meiner schwarzen Jeans. Ich streckte meinen Arm zum nächsten Teller aus, wobei ich die wulstige ca. 3 cm lange Narbe an meinem Unterarm nicht ausblenden konnte. Wieder einmal durchzuckte mich ein unglaublich starkes Gefühl von Schuldbewusstsein. Ich drängte dieses jedoch schnell wieder zurück hinter die Mauer, die ich über die Jahre aufgebaut hatte.

 

In meiner Mittagspause suchte ich mir wie immer einen der hinteren Tische aus und genoss mein selbst mitgebrachtes Lunch Paket. Ich biss gerade beherzt in mein Putensandwich, als die rote Bank unter mir zu wackeln begann. Ein erschrockenes Keuchen entwich mir, während ich mich verwundert umsah. Niemand sonst schien dieses Erdbeben zu bemerken… was mich daran erinnerte, dass ich wohl das Handy des Gastes immer noch nicht aus meiner Hosentasche geholt hatte und dieses nun wild vibrierte. Mit spitzen Fingern zog ich das Telefon hervor und legte es vor mir auf den Tisch. Sollte ich es mir einmal genauer anschauen? Immerhin war der Gast noch nicht zurückgekehrt, um es abzuholen. Und ein Blick auf das Handy könnte vielleicht helfen, diesen ausfindig zu machen. Ja, ich gebe es ja zu, ich war immer schon zu neugierig gewesen.

Bevor ich mich davon abhalten konnte, hatte ich auch schon auf den Homebutton gedrückt. Wie komisch. Wer sicherte heutzutage sein Handy denn nicht mit einem Code? Da das Hintergrundbild des Handys auch nicht viel hergab, denn es war einfach nur grau, wischte ich schnell zur Seite und entsperrte damit das Telefon.

Doch das, was ich jetzt auf dem Bildschirm ausmachen konnte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Ich riss meine Augen auf, und im selben Moment stolperte mein Herz über seinen eigenen Rhythmus. Komplett erstarrt in meiner Bewegung lief aber mein Gehirn auf Hochtouren. Ich registrierte ein leises Klatschen neben mir. Da mir meine Muskeln nicht mehr gehorchten, hatte ich wohl das Sandwich auf den Boden fallen lassen, doch das interessierte mich in diesem Moment wenig. Ich war so geschockt, dass ich nicht einmal in der Lage war zu schreien. Hätte ich versucht, einen Laut heraus zu bringen, wäre dies vermutlich nur ein Krächzen gewesen. Je länger ich auf das Bild vor mir starrte, desto schwindeliger wurde mir. Ich hatte doch glatt vergessen zu atmen. Schnell sah ich weg, schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich musste mir das einbilden, denn DAS war schlichtweg nicht möglich. Jemand spielte mir hier einen Streich. Davon überzeugt, öffnete ich meine Augen wieder einen Spalt und schielte auf den Bildschirm. Doch das Bild war immer noch da, und ich wusste ganz genau, was das zu bedeuten hatte.

Eingehend betrachtete ich es noch einmal. Auf dem Bild war ein großer, kahler Raum zu sehen, in dessen Mitte ein OP-Tisch stand. Direkt daneben stand ein Wägelchen, auf dem alle möglichen Geräte zu sehen waren. Skalpelle in allen Größen, eine Zange, jede Menge Nadeln und Scheren. Aber das war nicht das, was mir so viel Angst einjagte, sondern der völlig ausgelieferte Körper, der auf dem OP-Tisch lag. Denn das war definitiv ICH. Das war mein Körper auf diesem OP-Tisch. Ich erkannte ganz genau meine langen, braunen Haare, die wie ein Fächer um mein Gesicht herum ausgebreitet waren. Ich erkannte ganz genau meine etwas zu weichen Gesichtszüge für mein Alter und meine wuscheligen Augenbrauen. Ich erkannte auch ganz genau die weiße Bluse, die mir meine Mum letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. Aber vor allem erkannte ich ganz genau die lange Narbe an dem etwas zu dünnen Unterarm. Nur was ich nicht erkannte, war, wie dieses Bild gefälscht worden war. Ich sah keinerlei Anzeichen von Bildbearbeitung, oder wie sollte man sonst diese Täuschung produziert haben? Doch plötzlich schien das ganze Sinn zu machen, woraufhin sich ein enges Gefühl in meiner Brust breitmachte. Ich erinnerte mich an den letzten Tag, an dem ich diese Bluse getragen hatte. Das war wohl letzte Woche Freitag gewesen. Und das war zufälligerweise auch der Abend gewesen, an dem ich überfallen wurde. Die Straßenlaternen hatten mir den Weg nach Hause geleuchtet, bis mich plötzlich ein Typ anrempelte und mir im nächsten Moment gegen die Schläfe schlug. Danach bin ich wohl wie ein Taschenmesser zusammengeklappt. Aufgewacht war ich ein paar Stunden später im Polizeirevier, noch völlig benommen und mit einer Wissenslücke an der Stelle, an der sich Erinnerungen hätten befinden sollen. Ich hatte keine Ahnung, was in den vorherigen 3 Stunden passiert war, und die Polizei konnte den Täter, welcher mir meinen Geldbeutel geklaut hatte, auch nicht ausfindig machen. Allerdings hätte ich nie im Leben damit gerechnet, dass ich in diesen Stunden vielleicht bewusstlos auf einem OP-Tisch gelegen hatte. War das wirklich passiert? Dieser Gedanke machte mich absolut fertig. Wer hatte mich überfallen, und waren die Person, die mich überfallen hatte und der Fotograf ein und die selbe Person?

Ich zoomte in die verschiedenen Bildabschnitte hinein, um Unstimmigkeiten zu entdecken, dabei viel mir etwas auf, was ich durch den ganzen Schock wohl übersehen hatte. Direkt neben meinem ausgestreckten Arm lag ein kleiner, viereckiger Chip und eine gefährlich lange Spritze, dessen Spitze direkt auf meine Narbe zeigte. Während ich das Bild weiterhin eingehend betrachtete, fuhr ich unbewusst mit meiner linken Hand über meine Narbe, die ich inzwischen schon seit zwei Jahren auf der Haut trug. Plötzlich hielt ich inne und zog dann ruckartig meine Hand zurück. Stopp. Irgendetwas war anders. Ein weiteres Mal fühlte es sich an, als würde mein Herz stehen bleiben, als es in meinem Gehirn langsam zu rattern anfing. Eine Gänsehaut überzog meinen Körper und mein Atem kam stoßweise. DAS war absolut unmöglich.

Doch was dann als nächstes passierte, nahm mir alle Zweifel. Das Telefon vibrierte ein weiteres Mal, und eine Nachricht tauchte am oberen Bildschirmrand auf.

 

Du hast 3 Stunden Zeit.

 

Ich handelte, ohne groß nachzudenken. Mein viel zu schneller Herzschlag dröhnte mir in meinen Ohren, als ich mir meine Schürze über den Kopf zog und hinter den Tresen warf. Ich rannte in den Vorratsraum neben der Küche, warf das Handy in meine Handtasche, die ich dort immer lagerte, schnappte mir meine Jacke und war im nächsten Moment schon wieder aus dem Raum.

Am Rande bekam ich noch mit, wie mir mein Chef wütend etwas hinterher rief, woraufhin sich alle Blicke im Restaurant auf mich richteten.

Auf dem Weg nach Hause drehte ich mich gefühlt alle 5 Sekunden um. Ich konnte das Gefühl, beobachtet zu werden, einfach nicht mehr abschütteln. Also wenn ich vorher nicht schon unter Paranoia gelitten hatte, war dies, nachdem ich dieses Bild gesehen hatte, wohl der Fall. Die Geschehnisse der letzten Stunden hatten mich wohl höchstsensibel gemacht und das machte mich verletzlich. Und das war das Letzte, was ich jetzt sein durfte! Ich musste stark bleiben und wie eine erwachsene Frau eine Lösung für meine Probleme finden!
Ich schob den Schlüssel in das Schloss und öffnete die graue Tür zu meiner unspektakulären Zweizimmer-Wohnung. Erleichtert schloss ich die Tür hinter mir, lehnte mich dagegen und holte erst einmal tief Luft. Endlich in Sicherheit. Ich konnte mich von nun an wohl nur noch in meinen eigenen vier Wänden geborgen fühlen. Danach hetzte ich in Richtung Küche, damit ich mich nicht von meinem Vorhaben ablenken ließ. Meine Handtasche pfefferte ich auf mein geliebtes Ledersofa, welches den großen Raum in Wohnzimmer und Esszimmer unterteilte. Meine Hand fand wie von selbst den silbernen Griff, und ich zog den nächst schärfsten Gegenstand aus dem hölzernen Messerblock. Langsam platzierte ich meinen Unterarm auf der Küchenplatte und hob das Messer mit meiner linken Hand an den Anfang meiner Narbe. Okay, das würde jetzt unschön werden, aber ich musste diesen verdammten Mikrochip aus meinem Arm holen, auch wenn ich mir immer noch nicht so richtig erklären konnte, ob das alles hier real war. Dass ich wohl bewusstlos diesem Fremden ausgeliefert gewesen war, jagte mir eine Heidenangst ein. Aber anscheinend schien er ja irgendetwas von mir zu wollen, ansonsten hätte er ja die Chance genutzt, mich umzubringen.

Zum Glück hatte ich eine medizinische Ausbildung absolviert, weshalb ich ungefähr wusste, wie ich diesen Chip aus meinem Arm schneiden musste, ohne eine große Vene zu treffen. Nur zu doof, dass ich nicht die passenden Instrumente dazu hatte und das hier schnell gehen musste. In dem Moment, in dem ich die Spitze des Messers an meine leicht gebräunte Haut ansetzte, stieß das Telefon in meiner Tasche fürchterliche Laute aus. Ich zucke dermaßen zusammen, dass ich mir in den Finger schnitt. „Verdammter Mist!“, ich konnte diesen Ausruf nicht unterdrücken, als das Blut aus der Wunde quoll und auf die weiße Arbeitsfläche tropfte. Behutsam nahm ich meinen Finger in den Mund und leckte das Blut von dem kleinen Schnitt. Der metallische Geschmack katapultierte mich direkt wieder zurück: Ich sah das Blut auf meinen weißen Kittel tropfen und registrierte wieder den Schmerz an meinem rechten Unterarm. Meine Herz schlug mir bis zum Hals und mir wurde ganz heiß.

Tief durchatmen, Maja. Ich legte das Messer auf die Tischplatte und angelte das Handy aus meiner Handtasche. Eine neue Nachricht war darauf eingegangen.

 

Noch einen Schritt weiter und ich zünde die Bombe genauso wie DU damals… 

Der Chip ist hoch explosiv. Mit einem einzigen Knopfdruck ist alles vorbei.

Du hast noch 2 Stunden, um mit der Wahrheit heraus zu rücken, sonst nehme ich dir die Wahl ab.

 

Alarmiert schaute ich mich um. Wurde ich hier beobachtet? War mir doch jemand in die Wohnung gefolgt? Die schweren Vorhänge vor meiner Balkontür waren noch zugezogen, also daher konnte mich niemand von draußen beobachten. Angespannt hielt ich die Luft an und konzentrierte mich auf irgendwelche fremden Geräusche. Doch da war nichts Ungewöhnliches. Schützend hob ich das Messer vor meine Brust und drehte langsam und vorsichtig eine Runde durch meine Wohnung. Ich spähte in jeden noch so kleinen Winkel und doch konnte ich nichts ausmachen. Keine offensichtlichen Kameras, Mikrofone, Wanzen, oder was man sonst noch so aus Kriminalromanen kannte. Allerdings schien mich hier irgendjemand komplett in der Hand zu haben. Und dieser Jemand konnte zudrücken und mit einer einfachen Bewegung mein Leben für immer beenden. Was hatte ich demjenigen angetan, dass er mir mit dem Tod drohte?

Okay, nochmal von vorne. Jetzt wusste ich wenigstens genau, was hier von mir verlangt wurde, auch wenn es das Ganze nicht gerade besser machte, denn die Zeit saß mir im Nacken, um dem Fremden zu geben, was er wollte.

Der Teil mit der Bombe… Wie konnte der Fremde davon wissen? Der ganze Vorfall damals war komplett unter Verschluss gehalten worden. Nicht einmal einer dieser übereifrigen Journalisten hatte etwas gefunden, worüber er berichten konnte.

Allein wenn ich an diesen Tag zurück dachte, bekam ich eine Gänsehaut, und das Gefühl von Schuldbewusstsein übermannte mich. Damals hatte ich nicht gedacht, wie ich weiter machen sollte, und nun stand ich hier mit einem Messer in der Hand in meiner Wohnung, eingeholt von meiner Vergangenheit.

 

Der Vorfall ereignete sich vor zwei Jahren an einem Samstag. Es war 11 Uhr morgens und ein paar wackere Sonnenstrahlen kämpften sich durch die seit Wochen mit Wolken bedeckte Himmelsdecke. Ich war zum Spätdienst im Labor anwesend. Vollkommen in meinem Element reihte ich die verschiedenen Reaktoren vor mir neben dem Bunsenbrenner auf und suchte mir alles zusammen, was ich für meinen Versuch brauchte. Es war ein wunderschöner Tag und ich fühlte mich so wohl in meiner Haut. Inzwischen arbeitete ich schon seit 3 Jahren im Labor Dr. Brenner und war unglaublich stolz auf all das, was ich inzwischen erreicht hatte, nachdem es anfangs so schwer für mich gewesen war, einen Medizinstudienplatz zu bekommen und diesen mit Glanzleistung zu absolvieren. Weiter hinten in der Abteilung wuselten zwei meiner Kolleginnen herum, die ich inzwischen zu meinen engsten Freundinnen zählte. In diesem Moment öffnete sich die Tür und Jennifer, die Chefin meiner Abteilung, kam auf mich zu gelaufen. Im Hintergrund lief mal wieder ein Song von Queen, da wir hier im Labor nur einen Radiosender reinbekamen und dieser wohl besessen von dieser Band war, obwohl in jeder Pause versprochen wurde, dass sie die aktuellste Musik spielen würden. 

Bereit, weitere Anweisungen meiner Chefin anzunehmen, drehte ich mich zu ihr um und wünschte ihr mit einem Lächeln auf den Lippen einen schönen guten Morgen. Das war einer der Gründe gewesen, warum ich meinen Job so geliebt hatte: Von Anfang an hatte dieses familiäre Gefühl dazu geführt, dass ich mich hier pudelwohl fühlte, und ich mich jedes Mal freute, zum Dienst zu kommen. „Hey Maja, hast du kurz Zeit, um etwas zu besprechen?“

„Na klar, was gibt’s?“, fragte ich zurück, ohne mich im Geringsten eingeschüchtert zu fühlen.

„Ich habe tolle Nachrichten für dich! Dr. Brenner hat wohl von deinen hervorragenden Leistungen gehört und möchte dich gerne befördern!“ Strahlend überbrachte sie mir diese Nachricht. Jenny war eigentlich zu jung, um Chefin dieser Abteilung zu sein, aber sie machte ihren Job hervorragend. Umso mehr überraschte mich diese Nachricht, denn sie hatte mir schon oft berichtet, wie sehr sie sich dafür hatte hocharbeiten müssen.

„Was?! Wirklich jetzt?“ Vollkommen perplex stand ich da mit zwei Reagenzgläsern in meiner Hand und konnte mein Glück kaum fassen. 

„Ja Maja, ich veräpple dich schon nicht! Na komm. Am besten gehst du gleich zu ihm!“ Sie zwinkerte mir zu und verschwand hinter der Zentrifuge.

Hastig verließ ich meinen Platz und tauschte meinen weißen Kittel gegen einen, der an dem Haken vor der Tür hing, bevor ich aus dem Raum trat. 

„Hey, du scheinst ja einen besonders guten Tag zu haben, Schätzchen“, sagte eine mir vertraute Stimme. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass auch mein Kollege Manuel Klingenbach schon bereits fleißig war. Er lief mit einem Rack voller Proben an mir vorbei und öffnete die Tür zu unserer Abteilung. Mit einem breiten Lächeln im Gesicht erzählte ich ihm von den großartigen Neuigkeiten, und er gratulierte mir überschwänglich. Beflügelt drehte ich mich um und ging weiter in Richtung des Büros von Dr. Brenner. 

 

Instinktiv zog ich mir meine Arme schützend über den Kopf, als ein ohrenbetäubender Knall mir meine Sinne raubte, und ich durch die Luft nach vorne geschleudert wurde. Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen rechten Unterarm, und im nächsten Moment schlug ich auch schon schmerzhaft auf dem Boden auf. Scherben und Schutt rieselten über meinen Körper zu Boden, und in meinen Ohren rauschte es so laut, dass ich mich einen Moment auf nichts anderes konzentrieren konnte. Schwer atmend blieb ich liegen und versuchte mich wieder zu sammeln. Was zur Hölle war das gewesen? Geschockt rappelte ich mich so gut es ging auf, nicht ohne einen Schwindelanfall unterdrücken zu müssen. Was sich da vor meinen Augen abspielte, zog mir erneut den ganzen Sauerstoff aus den Lungen. Ich merkte gar nicht, wie ich wieder auf meine Knie fiel und mir die Hand vor den Mund schlug, um mein Schluchzen zu ersticken. 

 

Die Erinnerung an diesen Moment ließ mich auch in der Gegenwart nicht kalt. Ich zitterte erneut am ganzen Körper und das, obwohl sich die Luft im Raum deutlich aufgeheizt hatte. Meine Knie drohten unter mir nach zu geben, aber ich konnte jetzt nicht aufgeben.

 

Leute aus den anliegenden Abteilungen kamen angerannt, nicht weniger geschockt als ich, das konnte man Ihnen deutlich ansehen.

Lautes Geschrei drang an meine Ohren. Jemand fasste mich an meine Schultern und schüttelte mich. Erst da bemerkte ich, dass wohl ich diejenige war, die hier so laut schrie. Eine Frau fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Bestürzt schaute ich an mir herunter. Auf meinem Kittel vermischte sich Staub mit Blut und den Tränen, die an meinem Gesicht herunterliefen. Mein rechter Unterarm war wohl von einer der Scherben, die durch die Luft geflogen waren, getroffen worden, allerdings konnte ich das Ausmaß der Verletzung unter diesem ganzen Blut nicht ausmachen. Plötzlich durchzuckte mich die Wahrheit wie ein siedend heißer Blitz. Verdammt, das war alles meine Schuld! Hätte ich mich nicht so von der positiven Nachricht ablenken lassen, hätte ich die zwei Reagenzgläser nicht so nah am Bunsenbrenner abgestellt! Ich nahm einen unfassbar starken Schmerz in meiner Brust wahr, der mich zu verschlucken drohte. Das war wohl das erste Mal, dass ich dieses Ausmaß an Schulbewusstsein erfuhr. Von diesem Moment an war ich nicht mehr wirklich ich selbst. Diese Schuld zerfraß mich von innen heraus und fegte meinen Lebenswillen davon. 

 

Später erst erkannte ich, dass das die Strafe war, die ich zu zahlen bereit war. Etwas anderes hätte ich nicht verdient gehabt. Ich musste von nun an mit dieser Schuld leben.

 

Ich sprang auf, machte mich von der Frau los und rannte in die Abteilung. Vielleicht bestand ja noch etwas Hoffnung…

Als ich versuchte, die Tür zu öffnen, stieß ich gegen einen Widerstand. Gleichzeitig schlug mir eine Hitzewelle entgegen und trieb mir Schweißperlen auf die Stirn. Ich stemmte die Tür auf und zwängte mich durch die Öffnung, die ich nur mühsam offen halten konnte. Überall im Labor hatten Gegenstände Feuer gefangen und von irgendwo her zischte es. Ich blickte nach unten und erkannte, dass der Widerstand, gegen den ich gestoßen war, ein lebloser Körper war. Ich sank auf die Knie und drehte ihn um. Es war Manuel. Er hatte eine große Platzwunde am Kopf, aus der das Blut in einem Rinnsal seitlich an seinem Gesicht herunter floss. Seine Kleidung war größtenteils verbrannt und er hatte mehrere übelaussehende Brandblasen auf der Haut. „Nein, nein, wach auf!“, stieß ich verzweifelt aus. Mir liefen die Tränen über’s Gesicht, so dass ich kaum noch etwas sehen konnte. Ich bemerkte nur am Rande, wie die Tür der Abteilung wieder geöffnet und ich von dem leblosen Körper zurückgezogen wurde, und man beruhigend auf mich einredete. Die Sanitäter und die Feuerwehr waren da, doch es gab hier nichts mehr zu retten. Wäre ich doch wenigsten mit Ihnen gestorben, dann hätte ich nicht mit diesen Schulgefühlen leben müssen.

An den Rest des Tages erinnerte ich mich nur noch schwach, aber die Schreie, das Heulen der Sirenen, das Blut, den Geruch… nichts davon würde ich jemals vergessen können. Und vor allem würde ich nicht vergessen können, dass das alles auf mein Konto ging. Nachdem der tiefe Schnitt an meinem Arm versorgt worden war, führte ich ein langes Gespräch mit Dr. Brenner, der mich mit zu sich ins Büro nahm. Doch das lief komplett anders ab, als ich es mir am Morgen erhofft hatte. 

Ich wollte zu meiner Tat, meiner Unachtsamkeit, stehen, das wollte ich wirklich. Mich dem stellen, was mich erwartete, um meine Tat in irgendeiner Weise wieder gut zu machen. Doch Dr. Brenner hatte da eine ganz klare Vorstellung, und in dieser stand nicht ich ganz oben auf dem Plan, sondern der gute Ruf des Labors.

Er forderte mich auf, den Grund für den Unfall tot zu schweigen und niemanden davon in Kenntnis zu setzen. Als wäre das überhaupt möglich. So schlecht ich mich dabei auch fühlte, nahm ich das Geld, welches er mir anbot, an. Ich wünschte ich hätte das nicht gemusst, aber meine Mutter war zu dieser Zeit schwer krank und die Medikamente sehr teuer. Mit sofortiger Wirkung verlor ich auch meinen Job, für den ich so lange so hart gekämpft hatte, und das alles aufgrund eines kleinen Momentes der Unachtsamkeit. 

 

An diesem Tag starben vier Menschen und das meinetwegen. Und selbst bis heute hatte ich niemandem den wahren Grund der damaligen Explosion im Labor Dr. Brenner genannt. Auch nach zwei Jahren Therapie machte mich der Gedanke daran immer noch schwach. Ich hatte mir schon so oft erklärt, dass das alles ein Unfall gewesen war und ich keine Schuld daran trug. Dennoch kam ich nicht drum herum, mir das Ganze zu zuschreiben. Als hätte ich gerade einen Marathon gelaufen, lies ich mich völlig außer Atmen auf meinem Sofa nieder und schnappte mir nochmal das Touch Handy. Ich musste mir das Foto nochmal genauer anschauen, irgendwo musste ein Fehler zu finden sein. Erneut entsperrte ich das Telefon und zoomte noch einmal genau in die verschiedenen Abschnitte hinein. Das Foto war immer noch genauso schrecklich an zu sehen wie beim ersten Mal. Aber halt, da war noch etwas, was mir im ersten Moment nicht aufgefallen war. Dort in einem silberglänzendem Skalpell war etwas eingraviert. Plötzlich stach mir der Name so sehr entgegen, dass ich mich fragte, wie ich ihn beim ersten Ansehen des Bildes nicht habe entdecken können. Dort stand er ganz eindeutig, der Name, den ich mit meinen Schuldgefühlen verband: Klingenbach. Aber wie war das möglich? Manuel war an diesem Tag gestorben. Ich war auf seiner Beerdigung! Aber Vielleicht wollte jemand aus seiner Familie nun Rache. Nur wie hatte diese Person herausgefunden, dass sein Tod mit mir zu tun hatte? Und warum sollte ich nun die Wahrheit darüber ans Licht bringen? Inwiefern tat das etwas zur Sache? Vielleicht hatte auch irgend jemand extra diesen Hinweis in dem Bild versteckt, dass ich genau das dachte, um mich von meiner Spur abzulenken? All diese Fragen schwirrten in meinem Kopf herum und ich musste eindeutig Klarheit in das Chaos bringen. Ich musste einen Schritt weiter denken, und vor allem musste ich diesen dämlichen Chip loswerden. Also verschwand ich im Bad und nahm das Desinfektionsmittel, Nagelschere und eine Pinzette aus dem Schrank. Die letzte Drohung einfach ignorierend ritzte ich mir meine Haut an der leicht erhabenen Stelle auf und zog mit der Pinzette den Chip heraus. Alles ging wider Erwarten kurz und relativ schmerzlos, ich brauchte eigentlich nicht mal ein Pflaster, klebte aber dennoch eines drauf. Die spontane Überlegung, den Chip im Klo herunter zu spülen, verwarf ich schnell, wickelte ihn in Klopapier und stopfte ihn in meine Handtasche. Vielleicht brauchte ich ihn noch, wer weiß. Dann öffnete ich die Textnachrichten auf dem Handy und schrieb an den Absender des Fotos:

 

In 30 Minuten an der Ecke.

 

Ich schnappte mir meine Sachen und war in der nächsten Sekunde auch schon aus der Tür, ich musste auf jeden Fall als Erste an diesem Ort sein.

Draußen war es inzwischen schon dämmerig, als ich an der Häuserecke ankam. Die alte rostige Bank stand immer noch auf der anderen Straßenseite und schaute in Richtung der scheinbar endlosen Felder, die sich dort erstreckten. Es war komisch, nach zwei Jahren wieder hier zu sein und doch war mir der Ort so vertraut wie damals. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Okay noch 10 Minuten. Ich betrat das Feld und steuerte das Gebüsch rechts von der Bank an, um dort auf meinen Peiniger zu warten. Ich machte mich so klein wie möglich und hielt den Blick auf die Bank gerichtet. Dann wartete ich. Erst passierte gar nichts. Die Zeit verging und ich dachte, dass mein Plan nicht aufgehen würde. Doch plötzlich drückte mir ein Arm die Luft ab. Ich  versuchte zu schreien, wehrte mich mit all meiner Kraft und schlug mit meiner Handtasche um mich. In der nächsten Sekunde wurde mir diese aus der Hand gerissen und auf den Boden geschleudert. Shit, ich hatte nicht damit gerechnet, dass er sich von hinten anschleichen würde. Dabei wollte ich ihm so unbedingt einem Schritt voraus sein.

„Halt still!“, zischt die altbekannte Stimme hinter mir und im selben Moment fühlte ich einen kühlen Gegenstand an meinem Hals. Ich verstummte und lies mich von dem Mann zu der Bank führen. Mit einem Seil band dieser meine Handgelenke daran fest und trat dann endlich vor mich. Endlich bestätigte sich meine Theorie. Auch wenn ich ihn seitdem nicht mehr gesehen hatte, erkannte ich ihn auf Anhieb. Breitbeinig, mit verschränkten Armen und einem abwertendem Gesicht schaute Manuel mich an. Diesen Ausdruck hatte ich noch nie zuvor auf seinem Gesicht gesehen. Es lag so viel Hass in seinen Augen, seine Zähne waren vor Wut zusammen gebissen, seine Haare länger und ungepflegt.

„Ich, ich dachte du wärst tot…“, brachte ich stammelnd hervor.

Darauf reagierte Manuel mit solch einem diabolischen Lächeln, dass ich eine Gänsehaut bekam und ich erkannte, dass dies nicht mehr mein alter Arbeitskollege war. Was auch immer mit ihm passiert war, es hatte ihn verändert, es zerfraß ihn und nötigte ihn dazu, mir das hier an zu tun. Ich erinnerte mich noch zu gut an das letzte Mal, als wir an dieser Ecke unsere Mittagspause zusammen verbracht hatten. Ich erinnerte mich daran, wie fröhlich er immer war und wie viel ich mit ihm hatte lachen können. Doch dieser Mann, der vor mir stand, war gebrochen, das sah man ihm deutlich an.

„Da hast du dich geirrt, Schätzchen. Glücklicherweise war ich weit genug entfernt von der Explosion, um letztendlich davon zu kommen“, stieß er  hervor. Dass er diesen Kosenamen mit so einem Unterton in seiner Stimme hervor brachte, ließ Übelkeit in mir aufsteigen. „Nachdem du mich fast umgebracht hast, musste ich untertauchen, damit ich einen Racheplan aufstellen konnte. Ich habe alle glauben lassen, dass ich tot sei und bin dann aus der Leichenhalle gekrabbelt. Ich wusste, dass dort eine verschwundene Leiche vertuscht werden würde, dennoch hat es zwei Jahre gedauert, bis ich die Idee mit dem Mikrochip umsetzen konnte, ohne dass du etwas davon bemerkst.  Die intramuskuläre Injektion wurde bisher nur mit Flüssigkeiten durchgeführt, doch ich habe einen Weg gefunden, den Mikrochip in deine Haut einzuschleusen. Sehr genial oder? Damit hab ich jetzt endlich die komplette Kontrolle über dich. Ich könnte dich hier einen Stepptanz vorführen lassen.“ Bei diesen Worten verzog sich sein Gesicht zu einer Fratze.

„Aber Manuel, das war ein Unfall! Wenn ich es rückgängig machen könnte, dann würde ich das sofort tun! Ich wollte doch nie irgendjemanden von euch verletzen!“

„Tja, genau das hast du aber geschafft und sogar noch Schlimmeres! Ich hatte noch Glück im Vergleich zu den anderen. Jenny konnten Sie nicht mehr retten. Sie ist komplett zerfetzt worden bei der Explosion. Und das nur deinetwegen! Damit hast du alle unsere Zukunftspläne zerstört! Ich lasse dich nicht ohne Strafe davonkommen!“ Er spuckte diese Worte förmlich vor meine Füße, während sein Gesicht vor Wut rot anlief. Da ging mir plötzlich ein Licht auf. Das war also der Grund, warum Manuel das hier tat. Er wollte sich gar nicht für sich selbst rächen, sondern für Jenny! Damals schon hatte ich die Blicke zwischen den beiden bemerkt, doch mitbekommen, dass sie ein Paar waren, hatte ich nicht.

„Und jetzt lass ich dir noch die Wahl: Entweder, du stellst dich sofort der Polizei und erzählst ihnen von den Morden, oder ich lasse dich hier sitzen und drücke auf diesen Knopf…“ Er zog ein Handy aus seiner Tasche, entsperrte es und zeigte mir den Bildschirm, auf welchem ein roter Button abgebildet war „…und du fliegst in die Luft!“

Am oberen Rand des Bildschirms lief auch noch der Countdown. Nur noch 15 Minuten, dann würde der Chip explodieren und mich mit sich zerreißen. Aber ich konnte mich nicht stellen, die Polizei würde das Ganze genauso falsch sehen, wie Manuel es tat. Besonders, weil ich es so lange geheim gehalten hatte, war ich mehr als verdächtig. Es musste einen anderen Ausweg geben, ohne den Verlust meines Lebens. Ich dachte angestrengt nach, doch mir viel nichts ein, was mich aus dieser misslichen Lage retten konnte. Manuel schien ungeduldig zu werden, da ich nicht auf seine Ansprache reagiert hatte. Er beugte sich vor, so dass sein Gesicht mit meinem auf Augenhöhe war, und packte mich an meinen Haaren, womit er mich zwang, ihn anzusehen. Ich nutzte meine scheinbar einzige Chance: ich spuckte ihm ins Gesicht und trat zur gleichen Zeit mit aller Wucht zwischen seine Beine. Sofort krümmte er sich zusammen, ließ das Handy ins Gras fallen und stieß einen Fluch aus: „Du verdammtes Miststück!“.

Panisch schaute ich mich um und schrie aus vollem Hals um Hilfe, doch anscheinend war hier im Industriegebiet um diese Uhrzeit kein Mensch mehr unterwegs, der mich hätte hören können. Manuel kochte vor Zorn, schlug mir mit dem Handy, welches er inzwischen vom Boden aufgehoben hatte, gegen die Stirn, woraufhin ich schlagartig verstummte. Die Sicht verschwamm vor meinen Augen und ein stechender Schmerz machte sich in meinem Kopf breit.

„So, das war’s! Du hattest deine Chance!“, knurrte er. Er lief zum Gebüsch, in welchem ich mich überwältigt hatte, warf mir einen letzten Blick durchs Gebüsch zu und sagte: „Wenn du noch ein paar letzte Worte hast, dann ist das jetzt deine letzte Chance diese loszuwerden“

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, und ich musste mich anstrengen, gedanklich im Jetzt zu bleiben. Verzweifelt versuchte ich, meine Hände aus den Fesseln zu befreien, doch diese waren so fest gebunden, dass meine Handgelenke anfingen zu brennen, als ich an ihnen zog. Als Manuel hinter dem Geäst verschwand, zwang ich mich zur Ruhe. „Manuel bitte. Das hätte Jenny doch nie gewollt. Wie kannst du dir selber so etwas antun? So kannst du Jenny auch nicht mehr zurückholen!“ Panisch wurde meine Stimme immer lauter, da ich Angst hatte, er könnte mich vielleicht nicht mehr hören. Anstatt dass Manuel mir antwortete, hörte ich eine mechanische Frauenstimme:

10, 9, 8…

Das war er also der Countdown, mit dem mein Leben sein Ende nehmen würde. Ich schloss meine Augen und fühlte tief in mich hinein. Fand meine innere Ruhe und schickte ein kurzes Gebet gen Himmel, in der Hoffnung, dass ich für meine Taten nicht in die Hölle kommen würde.

… 4. 3. 2…

Mein Kopf war komplett leer.

…1…

Ich hörte einen kurzen Piep-Ton und direkt darauf folgte ein ohrenbetäubender Knall.

Die Welle erfasste mich und ließ sofort alles um mich herum schwarz werden. Stille.

 

 

 

Am nächsten Tag betrat ich das Bell’s wie immer, entschuldigte mich bei Danny dafür, dass ich gestern so fluchtartig verschwunden war und zeigte ihm als Vorwand dafür das große Pflaster an meinem Unterarm.

 

Ende

One thought on “Die Schuld

  1. Liebe Sina,

    deine Geschichte hat mir gut gefallen, du hast einen ausgefeilten und packenden Schreibstil!

    Einzig die Tatsache, dass ein Toter aus der Leichenhalle entkommen kann, hat mich etwas irritiert 😉 aber ansonsten fand ich deinen Plot sehr gut durchdacht und spannend.

    Schreib auf jeden Fall weiter!

    Alles Gute,
    Yvonne (Der goldene Pokal)

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