Jenny G.Die tödliche Schuld

 

Die tödliche Schuld

Irina hört das mechanische Klicken der Waffe, als sie entsichert wird. Sie schließt die Augen, aus denen noch weitere Tränen quellen, und presst die Lippen aufeinander. Wenigstens ist es jetzt vorbei. Mit ihrem Tod wird auch die Schuld endlich enden.

Nur wenige Tage zuvor war ihre Welt noch in Ordnung gewesen. Zumindest solange sie es schaffte, nicht über die letzten vier Jahre Ihres Lebens nachzudenken. Bald würde sich der schreckliche Tag wieder jähren. Als die 41-jährige Frau aus dem Fenster ihrer kleinen Wohnung blickte und sich gedankenverloren durch die kurzen, blonden Haare fuhr, konnte sie die Last der Schuld kaum ertragen. Ein Schauer jagte ihr über den Rücken und sie musste sich zwingen an etwas anderes zu denken, musste sich bewegen, musste irgendetwas tun, um sich abzulenken.
Energisch schüttelte sie den Kopf, stellte ihre halbleere Kaffeetasse zur Seite und beschloss, jetzt schon joggen zu gehen. Die schwarze Hose und das orangene Top lagen schon auf ihrem Bett bereit, so liebgewonnen hatte sie dieses Ritual über die letzten Jahre. Seit sie vor drei Jahren hier hergezogen war, verließ sie jeden Morgen gegen 9 Uhr das Haus, um im Park auf der anderen Seite der Straße laufen zu gehen. Bei Wind und Wetter, sie konnte sich einen Morgen ohne diese Routine nicht mehr vorstellen. Doch Tage wie dieser, an denen die Sonne mit voller Kraft strahlte, mochte sie am liebsten.

 

Mit jedem Schritt, jedem Meter, fühlte sie sich leichter und befreiter, ihre Gedanken beruhigten sich und in ihrem Kopf breitete sich eine angenehme Leere aus. Auch dieser Tag würde wieder ein guter Tag werden.
Die letzten drei Jahre hatte sie sich Stück für Stück wieder zurück gekämpft, hatte wieder die Kontrolle über ihr Leben erlangt, hatte die dunklen Gedanken und Erinnerungen weggesperrt und ihre Vergangenheit in Deutschland zurück gelassen und begraben. Irina Keller gab es nicht mehr, sie hieß nun Carina White und mit jedem Atemzug wurde sie mehr und mehr zu dieser neuen Person.
Optimistisch in die Zukunft blickend, wohl wissend, dass jeder neue Tag mehr Leichtigkeit bringen würde, drehte sie Runde um Runde in dem kleinen Park, atmete dankbar die frische Luft und strahlte mit der Sonne um die Wette.
Als sie ihr Pensum beinahe geschafft hatte, riss sie das Klingeln eines Handys aus der Routine. Eigentlich war das nichts Ungewöhnliches, in dem Park waren um diese Uhrzeit viele Menschen unterwegs und ständig klingelte irgendwo ein Handy. Doch die Melodie ließ sie innehalten. Es war der Hochzeitsmarsch von Richard Wagner. Wer hatte bitte so einen Klingelton?
Neugierig blickte Carina sich um, doch das Geräusch kam von keinem der Personen um sie herum. Sie ging ein paar Schritte zurück und stoppte, denn da lag das Handy mitten auf dem Weg. Wie in aller Welt kam es dorthin? Sie hätte es garantiert gesehen, wenn es gerade schon dagelegen hätte, als sie dort vorbei gejoggt war. Irritiert blickte sie sich um, konnte aber Niemanden erkennen, der es dort verloren haben könnte. Es hatte inzwischen aufgehört zu klingeln und Carina überlegte schon, ob sie nicht einfach weiter laufen sollte, als plötzlich wieder der Hochzeitsmarsch ertönte. Was hatte das nur zu bedeuten? Eine Wolke schob sich langsam vor die Sonne und mit einem Mal fröstelte es sie. Sie versuchte, das ungute Gefühl beiseite zu schieben, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken, doch je näher sie dem herrenlosen Telefon kam, desto schlimmer wurde es.
Kopfschüttelnd ermahnte sie sich, sich zusammen zu reißen und lachte nervös über sich selbst und dieses dumme Gefühl. Sie würde das Handy einfach aufheben und bei der Parkverwaltung abgeben, damit derjenige, der es verloren hatte, es wiederbekommen könnte. Doch als sie den Namen des Anrufers auf dem Display sah, gefror ihr das Blut in den Adern. Dort stand „Irina Keller“.

 

Minutenlang war sie wie benommen, ihre Hand wie gelähmt auf halbem Weg zum Handy auf dem Boden. Ihr war übel, schwindelig, heiß und kalt gleichzeitig. Sie konnte nicht atmen, keinen klaren Gedanken fassen, erst als das Klingeln aufhörte, konnte sie sich ein wenig beruhigen.

 

Are you okay, Miss?“, erkundigte sich plötzlich eine junge Frau, die wohl auch zum Joggen hier war, ob es ihr gut ginge.
Carina brachte kein Wort heraus, konnte nur hektisch nicken und als das Handy ein weiteres Mal anfing zu klingeln und ihr alter Name auf dem Display zu lesen war, hob sie es keuchend auf und presste es an sich, während sie so schnell sie konnte zurück zu ihrer Wohnung lief.
Ihre Hände zitterten so stark, dass sie es einfach nicht schaffte, den Schlüssel ins Schloss der Tür zu stecken. Ihre Ermahnungen an sich selbst, sich verdammt noch mal zusammen zu reißen, blieben wirkungslos. Erst als einer ihrer Nachbarn aus der Tür kam und sie fast über den Haufen lief, konnte sie an ihm vorbeihuschen und sich endlich ins Haus flüchten. Ihre Beine zitterten so stark, dass sie kaum die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf kam. Vor ihrer Wohnungstür im vierten Stock angekommen verließ sie die Kraft und sie musste sich auf ihre Fußmatte setzen, auf der in grellen, gelben Buchstaben „Keep smiling“ stand. Ihr war allerdings alles andere, als zum Lächeln zumute, als sie sich an den Türrahmen kauerte, ihre Knie mit den Armen umschlang und nach Luft ringend den Kopf darauf sinken ließ.

Immer und immer wieder schoss ihr das Bild von ihrem alten Namen auf dem Display des Handys in den Kopf und jedes Mal wurde ihr wieder schwarz vor Augen. Eine Endlosschleife dieser persönlichen Folter hatte sie fest im Griff. Die Panik, die sie jedes Mal wie eine gewaltige Welle überströmte und zu ertränken drohte, ließ einfach nicht nach. Zumindest hatte das Klingeln des Handys aufgehört. Was hatte das alles nur zu bedeuten?

 

Carina war sich nicht sicher, wie viel Zeit auf diese Weise verstrichen war, aber als die Tür einer ihrer Nachbarn über ihr geöffnet wurde und eilige Schritte im Treppenhaus zu hören waren, gelang es ihr doch, ihre zitternden Hände zu kontrollieren, ihre Tür aufzuschließen und sich in ihre Wohnung zu flüchten. Sie knallte die Türe hinter sich zu, rutschte mit dem Rücken an sie gelehnt an ihr herunter und kauerte nun in derselben Position, wie vorher auf der anderen Seite. Das Handy rutschte ihr aus der kraftlosen Hand und fiel neben ihr zu Boden.
In diesem Zustand konnte sie es einfach nicht ertragen, von Jemandem gesehen oder gar angesprochen zu werden. Und wer wusste schon, wann dieses verfluchte Handy wieder klingelte?

Tief innen drin ahnte sie, wer hinter all dem steckte, nur bei einer einzigen Person würde all das Sinn machen. Der Gedanke, dass er sie hier gefunden hatte, war jedoch so unfassbar beängstigend, dass Carina das tat, was sie über die letzten drei Jahre perfektioniert hatte – sie verdrängte es und alles, was damit zu tun hatte. Aus einem Impuls heraus, nahm sie das Handy und schaltete es aus. Wenn es aus war, konnte es nicht klingeln und wenn es nicht klingelte, dann musste sie auch nicht weiter darüber nachdenken. Trotzdem konnte sie dem Impuls nicht widerstehen zur Couch zu gehen, das Handy in eine Ecke zu quetschen und alle Kissen darauf zu stapeln, die sie zu fassen bekam. Sie hielt einen Moment inne und zum ersten Mal, seit sie das Telefon gefunden hatte, konnte sie tief durchatmen. Sie fühlte sich schon wieder besser. Eine leise Melodie summend, ging sie ins Badezimmer und sprang unter die Dusche. Sie war sich sicher, dass sie all das bald so gut verdrängt haben würde, dass sie nicht mehr daran dachte. Die leise Stimme in ihrem Kopf, die ihr sagte, dass das sehr gefährlich sein könnte, ignorierte sie.

 

Draußen dämmerte es bereits, als Carina beschloss, auf ihren Balkon zu gehen um dort an der frischen Luft zu meditieren. Es fuhren kaum Autos auf der Straße unter ihr und sie hatte eine tolle Sicht auf den Park. Sie nahm einen tiefen Atemzug und wollte sich gerade auf einen kleinen Hocker setzen, als ihr plötzlich eine dunkle Gestalt auffiel, die dort unten mitten auf der Straße stand. Es schien ein Mann zu sein, ganz in schwarz gekleidet, mit einer schwarzen Kappe, die er tief ins Gesicht gezogen hatte. Wegen der schlechten Sicht in der Dämmerung war sich Carina nicht ganz sicher, aber es sah so aus, als würde der Mann direkt zu ihr hoch blicken. Ihr schlug das Herz bis zum Hals und sie stolperte so schnell sie konnte zurück in die Wohnung, schloss die Balkontüre ab und ließ sofort sämtliche Rolladen hinunter. Schwer atmend ließ sie sich auf die Couch fallen, wo ihr Blick sofort zu dem Kissenstapel wanderte und da war dieser elende Gedanke wieder, den sie den ganzen Tag erfolgreich beiseite geschoben hatte – was, wenn er sie doch gefunden hatte? War er es etwa, der da unten auf der Straße stand? Sofort wurde ihr wieder übel. Nein, das konnte einfach nicht sein. Sie hatte alles Menschenmögliche getan, um ihre Spuren zu verwischen. Irina Keller galt nach wie vor als vermisst, niemand, nicht einmal ihre Eltern, wussten, wo sie war. Das war der schmerzlichste Aspekt, aber er war notwendig gewesen und sie hatte all das ohne Umschweife durchgezogen. Der neue Pass, die neue Identität, die heimliche Reise nach Amerika – alles hatte wie am Schnürchen geklappt. Hier würde sie niemand finden.
Trotzdem ging sie noch einmal zur Wohnungstür zurück und schloss sie doppelt ab. Ohne etwas zu Abend zu essen, machte sie sich bettfertig, schloss auch die Tür zu ihrem Schlafzimmer ab und kroch unter die Bettdecke. Die Schlaftabletten lagen schon wartend auf ihrem Nachtschränkchen und zur Sicherheit nahm sie heute zwei Stück. Morgen würde bestimmt alles wieder gut sein. Sie musste nur fest genug daran glauben.

 

Als um Punkt 6 Uhr morgens der Wecker klingelte, drückte Carina grunzend die Schlummer-Taste und drehte sie stöhnend wieder um. Ihr Kopf dröhnte und sie fühlte sich, als hätte sie ein Laster überfahren. Zwei Schlaftabletten waren wohl doch zu viel gewesen. Langsam wischte sie sich mit den Händen durchs Gesicht, doch hielt sofort inne, als sie bemerkte, dass sie nass waren. Erst jetzt bemerkte sie den metallischen Geruch, der in der Luft lag. Schlagartig riss sie die Augen auf und musste ein Würgen unterdrücken – ihre Hände waren voller Blut! Panisch blickte sie sich um, nur um festzustellen, dass auch ihre Bettlaken blutdurchtränkt waren. Hastig tastete sie sich ab, doch sie war unversehrt, es war nicht ihr Blut. Doch wo kam es her und wie kam es hier hin?
Dann hörte sie es. Erst war es nicht mehr, als ein Summen, doch es wurde lauter und lauter, bis der Hochzeitsmarsch durch ihre Wohnung dröhnte. Es war so laut, dass sie sich die Ohren zuhalten musste. Sie hielt es kaum aus, ihr Kopf schien zu zerbersten und die Melodie schwoll noch weiter an. Passend dazu hörte sie mit einem Mal eine Männerstimme singen, doch sie konnte die Worte nicht verstehen. Erst als die Musik etwas leiser und die Stimme lauter wurde, vernahm sie die Worte.

 

Es ist deine Schuld! Ihr Blut klebt an deinen Händen! Es ist allein deine Schuld!“

 

Kreischend schreckte Carina hoch und saß schweißgebadet und nach Atem ringend in ihrem Bett. Das schrille Läuten ihres Weckers vernahm sie kaum, zu sehr war sie damit beschäftigt, ihr Bett nach Blutspuren abzusuchen. Doch da war nichts. Ihre Hände, das Bett, alles war normal. Sie brauchte einen Moment, um zu realisieren, dass es nur ein Traum gewesen war. Wieder einer dieser verdammten Alpträume, die sie so oft quälten.
Die Schlaftabletten unterdrückten diese für gewöhnlich ein wenig, aber – Was war das? Hörte sie da etwa wirklich – ?
Hastig schaltete Carina ihren Wecker aus und lauschte angespannt. Doch wirklich, da war diese schreckliche Melodie schon wieder. Der Hochzeitsmarsch würde sie wohl bis zu ihrem Lebensende verfolgen. Wie gelähmt saß sie in ihrem Bett, in ihrem Kopf drehte sich alles. War das schon wieder ein Traum? Sie flehte das Universum an, sie doch endlich aufwachen zu lassen, doch nichts geschah. Sie saß völlig verkrampft da und die Melodie spielte weiter und weiter. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte sie es aufzustehen und ins Wohnzimmer zu gehen. Das war doch alles nicht möglich! Sie hatte das Handy doch ausgeschaltet. Verzweifelt riss sie sämtliche Kissen von der Couch herunter und wühlte mit zitternden Fingern nach dem Telefon.
Doch die Töne kamen nicht von hier, das Handy war tatsächlich aus. Die Melodie kam aus Richtung der Diele. Carina versuchte wieder und wieder den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken, doch es war vergebens. Ihr war so schwindelig, dass sie sich an den Wänden entlang festhalten musste, um in die Diele zu kommen. Die Töne wurden zwar lauter, doch auch in der Diele war nichts. Zitternd schleppte sie sich weiter, bis sie an ihrer Wohnungstür stand. Dort war die Melodie am lautesten zu hören.

Sie überlegte hin und her, ob sie die Tür wirklich öffnen sollte. Vielleicht hörte es ja auch einfach auf? Wenn sie einfach nur abwartete, dann –
Die gellenden Rufe ihres Nachbarn über ihr nahmen ihr die Entscheidung ab, als er sich lautstark über die laute Musik beschwerte. Hastig schloss Carina die Tür auf, denn wenn sie vor einer Sache wirklich große Angst hatte, dann war es aufzufallen. Das war schlimmer, als alles andere. Als sie die Tür öffnete und beinahe über den CD-Player gestolpert wäre, war sie sich allerdings nicht mehr ganz sicher. An dem Player, aus dem mit voller Lautstärke der Hochzeitsmarsch schallte, hing ein Zettel mit der Aufschrift: „Du kannst dich nicht vor mir verstecken!“

 

Das muss wieder ein Traum sein, dachte Carina, als sie den CD-Player hastig ausschaltete und mit in ihre Wohnung nahm. Er rutschte ihr aus den Händen und fiel zu Boden, sprang auf und die CD flog im hohen Bogen heraus. Carina schaffte es grade noch, die Tür zu schließen, bevor ihre Beine unter ihr nachgaben und sie sich auf den Boden setzen musste. Auf der CD stand mit leuchtend roten Buchstaben ein Datum. Es war der 15.06.2016. Carinas Welt, die sie sich drei Jahre lang mühsam aufgebaut hatte, brach zusammen.

 

Rasend schnell ging es, in Bruchteilen von Sekunden zersplitterte ihre neue Identität und alles, was sie sich damit aufgebaut hatte. Carina White löste sich auf und nun war da nur noch ihr altes Ich, Irina Keller. Ihr altes Leben brach wie ein Gewitter über sie herein und mit ihrer wahren Identität kamen auch die alten Gewohnheiten und Muster zurück, die sie so lange unterdrückt hatte.
Mit einem Ruck stand sie auf, stürzte zur Couch und wühlte nach dem Handy. Sie schaltete es an, kaute ungeduldig an ihren perfekt manikürten Fingernägeln, während es elendig langsam startete. Jetzt war alles egal, alles verloren, jetzt musste sie alles wissen. So wie damals, vor so langer Zeit, als sie nächtelang darüber nachforschte, was geschehen war, als sie einfach nicht aufhören konnte.
Der Schmerz in ihrer linken Schläfe erinnerte sie kurz daran, dass das, was sie im Begriff war zu tun, nicht gut für sie war, doch es war bereits zu spät. Das Handy war an, das Datum auf dem Display war auch hier wieder der 15.06.2016.
Nur ein einziges Symbol zierte unter den riesigen Zahlen des Datums das Display – die Galerie. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden tippte Carina darauf und das Bild einer jungen, wunderschönen Frau kam zum Vorschein. Sie wischte nach links und es kam ein weiteres. Und noch eines. Es war immer dieselbe Frau, mal in einem Café, dann am Strand, dann wieder in irgendeinem Garten. Immer lächelnd und strahlend schön. Nie würde Irina dieses Gesicht oder ihren Namen vergessen können. Sie wischte weiter und weiter, immer hektischer, immer schneller. Und plötzlich war dort nicht mehr Nina Fischer zu sehen. Die Bilder zeigten jetzt eine andere Frau. Irina wurde wieder übel, denn jetzt wurde ihr klar, dass sie in der Falle saß, dass es keinen Ausweg geben würde. Die Frau, die ihr auf dem Bild entgegen starrte, war sie selbst. Die Bilder waren höchstens ein paar Tage alt und je weiter sie wischte, desto aktueller wurden sie. Das Letzte war von gestern, als sie im Park joggen war. Das leuchtend orangene Top hatte sie gestern angehabt. Doch da war noch ein Bild. Ein Allerletztes. Und tatsächlich, er hatte es wirklich geschafft, sich das schlimmste Foto für den Schluss aufzuheben.

 

Es dämmerte wieder. Irina hatte den ganzen Tag damit verbracht, wieder und wieder durch die Fotos zu scrollen. Sie hatte nicht einmal etwas gegessen. Und jetzt wehrte sie sich schon seit Stunden gegen den Drang, den Karton aus der hintersten Ecke ihres Schrankes zu holen, den sie zwar nie wieder öffnen wollte, aber es auch nie über sich hatte bringen können, den Inhalt zu vernichten. Jetzt musste sie eine Entscheidung treffen, den genau dieser Inhalt besiegelte ihr Schicksal.
Eine kleine Weile hielt sie noch durch, das Handy an ihre Brust gepresst und dann gab sie dem Unausweichlichen nach. Sie legte das Handy beiseite und ging wie in Trance auf ihren Kleiderschrank zu. Der Karton fühlte sich so vertraut an und ehe sie sich versah, saß sie auf ihrem Bett, sein Inhalt wild um sie herum verstreut. Akten, Tests, Diagramme, Bilder, Daten und Namen und all die Zeitungsartikel – ihr persönliches schwarzes Loch hatte sie wieder. Etwas sagte ihr, dass sie ihm dieses Mal vielleicht nicht wieder entkommen würde.

 

Sie schloss die Augen und schon war sie wieder dort, in der Notaufnahme des Krankenhauses am 15.06.2016. Fast vier Jahre war es her und doch sah sie alles so deutlich vor ihrem geistigen Auge, als wäre es gestern gewesen.
Sie war nur in der Notaufnahme des Krankenhauses gewesen, um ein paar Proben abzuholen, die ihr bei ihrer Studie helfen sollten. Gerade frisch von der Uni dachte sie, die Welt läge ihr zu Füßen und einfach alles wäre möglich. Die Studie, die sie leitete, lief gut, erste positive Ergebnisse waren bei den Tierversuchen zu verzeichnen. Das Medikament, was sie entwickelte, wirkte besser gegen anaphylaktische Schocks, als alles, was bisher auf dem Markt war. Nicht mehr lang und es würde sicherlich auch an Menschen getestet werden dürfen. Allein der Gedanke, diesen Zweig der Medizin völlig zu revolutionieren, bescherte Irina einen Höhenflug nach dem Anderen.
Und da saß sie. Nina Fischer. Zusammen mit ihrem Verlobten Mark Hardtmann. Sie wirkten so unfassbar verliebt. Irina war sofort fasziniert von den Beiden, von dem Glück, das sie ausstrahlen, von den Blicken, die sie tauschten. Neugierig kam sie näher und warf einen kurzen Blick in die Akte der jungen Frau.
Sie bekam ein wenig von ihrem Gespräch mit, das jedoch gar nicht so glücklich klang.

 

Ich weiß einfach nicht, wie das gehen soll. Mein Bein ist so angeschwollen, dass ich nicht einmal laufen kann. Wie soll ich denn dann morgen mit dir tanzen?“ Nina schien verzweifelt.

 

Genau deshalb sind wir doch hier. Du bekommst etwas gegen die allergische Reaktion auf den Bienenstich und dann bist du morgen wieder topfit, du wirst schon sehen.“, versuchte Mark sie aufzumuntern. „Außerdem werden wir noch viele Jahre darüber lachen, dass wir den letzten Abend vor unserer Hochzeit hier in der Notaufnahme verbracht haben.“

 

Die Akte bestätigte die allergische Reaktion auf den Bienenstich und Irina lies weiter, um ganz sicher zu gehen. Nina war jung und kerngesund. Es gab also quasi kein Risiko. Zudem wäre ihr sehr damit geholfen. Und wie es der Zufall so wollte, hatte Irina eine kleine Ampulle in ihrer Kittel-Tasche, die genau das beinhaltete, was Nina jetzt brauchte.
Irina dachte nicht lange darüber nach, dass sie das nicht tun durfte. Sie band sich ihre braunen Locken zusammen, zog ein paar Handschuhe an und kramte eine Spritze samt Nadel aus den Fächern vor ihr. Von dem Paar, das nur Augen füreinander hatte, wurde sie gar nicht weiter beachtet und auch sonst war niemand zu sehen. Das war ihre Chance der Welt zu beweisen, zu was sie und ihr Medikament fähig waren, die konnte sie einfach nicht verstreichen lassen. Es würde ihre Forschung um Jahre vorantreiben und die Risiken waren gleich null. Sie musste es einfach tun. Langsam stach sie die Nadel durch den Gummideckel der Ampulle und zog etwas von ihrem Medikament in die Spritze auf.

 

Genau das war der Moment, den Mark Hardtmann auf dem letzten Foto festgehalten hatte. Es war ein scheinbar harmloses Selfie, im Vordergrund waren er und seine Verlobte Nina, glücklich lächelnd – doch im Hintergrund sah man Irina mit der Ampulle und der Spritze in der Hand.

 

Nach diesem Tag war nichts mehr, wie es war. Irina ging nach Hause, nachdem sie Nina in einem Augenblick, als Mark etwas zu trinken holen gegangen war, ihr Medikament gespritzt hatte. Sie hatte ihr noch versichert, dass sie morgen nichts mehr von dem Stich merken und ganz wunderbar den Hochzeitswalzer würde tanzen können. Doch der Anruf, den sie am nächsten Morgen bekam, änderte einfach alles. Ihre beste Freundin Becca, die als Assistenzärztin im Krankenhaus arbeitete, rief sie unter Tränen an. Sie war suspendiert worden und gegen sie lief eine Untersuchung. Eine junge Frau war abends zuvor mit einer heftigen allergischen Reaktion auf einen Bienenstich in die Notaufnahme gekommen und von ihr behandelt worden. Die Frau hatte die Nacht nicht überlebt. Es hatte Komplikationen gegeben, die zu einem Herzstillstand geführt hatten. Niemand konnte sich erklären, wie es dazu gekommen war. Doch als behandelnde Ärztin ermittelte man erst mal gegen Becca. Die Autopsie sollte Antworten bringen, aber das tat sie nicht. Niemand konnte sich erklären, was geschehen war und da niemand Irina bei der Verstorbenen gesehen hatte, behielt sie aus Angst vor den Konsequenzen ihre Schuld für sich. Die darauf folgenden Wochen erlebte sie wie in einem Alptraum, aus dem sie einfach nicht erwachen konnte. Sie las jeden Bericht, jeden noch so kleinen Zeitungsartikel im Wochenblatt, jedes Interview, das Mark den Reportern gab. Darüber hinaus setzte sie nie wieder einen Fuß in ihr Labor. Sie hatte nicht nur eine unschuldige Frau getötet, sondern auch ein Mittel entwickelt, dass sich nicht nachweisen ließ, sonst wäre es bei der Autopsie von Ninas Leiche sofort aufgefallen. Sie musste dem ein Ende setzen. Sofort.
Sie teilte ihrem Assistenten mit, dass sie die Studie nicht weiterführen würde, er sollte auch die anderen drei Mitarbeiter informieren, dass alles abgebrochen werden würde und ihr sämtliches Material nach Hause bringen. Als er kam, konnte sie ihn nicht einmal ansehen. Er verstand die Welt nicht mehr, konnte nicht begreifen, warum sie so eine vielversprechende Forschung einfach wegwarf, aber sie konnte es ihm unmöglich erklären. Sie sah ihn und die Anderen nie wieder.

Während sie sich immer mehr in ihrer Wohnung einigelte, nur noch Fast Food bestellte und sich nicht einmal mehr vor die Haustür traute, aus Angst doch noch überführt zu werden, war der einzige Gedanke, der sie nicht durchdrehen ließ, der, dass sie doch nur hatte helfen wollen. Sie hatte doch nur erreichen wollen, dass diese junge, wunderschöne Frau ihre perfekte Hochzeit bekommen würde. Doch diese Stimme in ihrem Kopf wurde immer leiser. Je mehr sie über Nina Fischer und Mark Hardtmann erfuhr, je intensiver sie sich mit den Folgen ihres Tuns beschäftigte, desto dunkler und tiefer wurde das Loch, in dem sie saß.
Sie aß und schlief kaum, ging nicht mehr an ihr Handy, noch nicht einmal, wenn ihr Vater anrief, ließ sämtliche Termine platzen und schaffte es noch nicht einmal, diese abzusagen. Auch die Türklingel hatte sie deaktiviert. Alles war zu viel, ihr Leben stand still, es gab nur noch die Analysen der Studie und die Berichte, die sie über Nina Fischer in die Hände bekam, nur den Wust an Papierkram, der in ihrer gesamte Wohnung verteilt war. Über all dem Chaos schwebte die panische Angst, dass alles rauskommen könnte, dass sie sich mit einer einzigen, gut gemeinten Entscheidung ihr ganzes Leben zerstört hatte. Diese Angst erreichte ihren Höhepunkt, als eines Tages zwei Polizeibeamte gegen ihre Wohnungstür hämmerten. Sie dachte schon, dass dies nun tatsächlich das Ende war, dass man ihr auf die Spur gekommen war, dass sie jetzt in Haft genommen wurde.

Doch hinter den beiden Männern erblickte sie das besorgte Gesicht ihrer Mutter und es stellte sich heraus, dass sie von ihren Eltern als vermisst gemeldet worden war, weil sie nicht ans Telefon gegangen war und auch die Türe nicht mehr geöffnet hatte. Die Polizisten konnte sie schnell überzeugen, dass es ihr soweit gut ging, aber ihre Mutter ließ sich nicht so leicht täuschen. Sie tischte ihr eine Geschichte von einer in die Brüche gegangenen Beziehung auf und erklärte damit ihren eigenen und den Zustand ihrer Wohnung. Sie versprach sich wieder zu melden und versicherte, dass sie keine Hilfe beim Putzen benötigte. Ihre Mutter blieb skeptisch, aber ließ sie letztendlich wieder allein.
Als sie die Tür hinter sich schloss und an sie gelehnt nach Fassung rang, war ihr klar, dass sie so nicht weitermachen konnte. Wären die Polizisten in ihre Wohnung gekommen und hätten all diese Unterlagen gefunden, sie hätten nur eins und eins zusammenzählen müssen. Das durfte nicht passieren. So schlimm das Schicksal von Nina Fischer war, es durfte ihr eigenes Leben nicht zerstören.
Sie verbrachte Tage damit, alles zu sortieren und ordentlich zusammen zu packen, sodass am Ende ein Karton in ihrem Vorratsschrank alles war, was noch übrig blieb. Sie schloss es tief in sich ein und versuchte weiter zu machen, doch ihre Welt blieb dunkel und ihre Tage blieben grau. Sie fand einen Job als Telefonistin für eine große Werbeagentur, um zumindest ihre Rechnungen bezahlen zu können, doch sie schleppte sich jeden Tag mit Bauchschmerzen in das Großraumbüro. Ihre Freunde und Bekannte, ihre neuen Kollegen, niemanden konnte sie um sich ertragen und nach einer Weile fragte auch niemand mehr, wie es ihr ging oder ob man sich treffen könnte. Niemand verstand ihren Absturz und sie konnte es auch nicht erklären.
So verbrachte sie fast ein halbes Jahr, einsam und allein und nur der Alkohol ließ sie hin und wieder ihre Verzweiflung vergessen.

Ihr grauer und trostloser Alltag wurde schlagartig durchbrochen, als Becca sich wieder aufgeregt meldete und ihr verkündete, dass sie endlich wieder arbeiten durfte, weil sämtliche Untersuchungsverfahren gegen sie eingestellt worden waren. Dass jetzt aber wieder in alle Richtungen ermittelt wurde und einer vielversprechenden Spur nachgegangen wurde, schlug in Irinas Leben ein wie eine Bombe.
Sie waren ihr auf der Spur, ganz bestimmt. Sie würden alles herausfinden, würden Beweise gegen sie finden und sie würde für den Rest ihres erbärmlichen Lebens eingesperrt werden. Von der Schmach und der Schade gar nicht zu sprechen.

Das durfte einfach nicht passieren. Ihr Leben war doch schon zerstört, der tolle Abschluss an der Uni, die vielversprechende Forschung – ihre Zukunft hätte absolut fantastisch sein können. All das war nun dahin und jetzt sollte auch der letzte Rest mit gerade mal 38 Jahren zu Ende sein? Nein, da musste es noch mehr geben. Es musste einen Weg für sie geben, nochmal neu anzufangen. Sie hatte doch nie etwas Böses gewollt, es musste einfach noch eine zweite Chance für sie geben.
Sie erinnerte sich an einen ehemaligen Kommilitonen, der immer damit geprahlt hatte, dass er einfach alles besorgen könnte, sogar einen falschen Pass oder dergleichen. Und damit stand ihr Entschluss fest – sie würde fliehen. Sie würde ins Ausland gehen und mit einer neuen Identität und einer weißen Weste nochmal von ganz vorne anfangen.

 

Carina White war geboren.

 

Tief seufzend ließ Irina von dem Karton mit den Unterlagen ab, ging schlurfend ins Wohnzimmer und ließ sich schwer auf ihre Couch fallen. Mit einem bitteren Lachen musste sie ihre neue Identität jetzt begraben. Sie wusste nicht wie, aber Mark Hardtmann hatte sie gefunden und ihr neues Ich vernichtet.
Sie lies sich zur Seite fallen, zog sich eine Decke über den Kopf und wollte einfach nur, dass alles aufhört.

Der nächste Tag kam und verging wieder, wie ferngesteuert bewegte sich Irina durch ihre Wohnung, aß und schlief und starrte Löcher in die Luft. Das hielt sie einige Tage lang durch und sie hätte sicherlich noch eine lange Zeit so weiter gemacht, wenn nicht ihre Lebensmittelvorräte zur Neige gegangen wären.
Doch Mark war irgendwo da draußen, vermutlich gar nicht weit weg, und wartete sicher nur auf sie. Sich den dritten Tag in Folge nur von Cornflakes zu ernähren, ging aber auch nicht. Irgendetwas musste jetzt passieren, sie konnte sich nicht länger vor dem Unausweichlichen verstecken. Vielleicht ging ja alles gut. Sie würde sich komplett vermummen, eine Sonnenbrille und einen Hut tragen und nur schnell zur Tankstelle um die Ecke laufen. Und dann würde sie einen weiteren Fluchtplan entwickeln, würde sich noch mehr Mühe geben und sich im Zweifel irgendwo im Australischen Busch verkriechen. Sie hatte es einmal geschafft, zu entkommen, sie würde es wieder schaffen.
Doch als sie langsam und vorsichtig auf die Straße trat, war ihr klar, dass nichts davon passieren würde. Sie hatte ihre zweite Chance bekommen, aber eine Dritte würde es nicht geben. Das war unmissverständlich klar, als sie sah, was er getan hatte. An sämtlichen Straßenlaternen und Schildern hing das Bild. Sie war nicht sehr deutlich darauf zu sehen, da sie ja im Hintergrund stand, und es würde sie auf der Straße auch niemand erkennen, da sie ihr Aussehen vor ihrer Abreise aus Deutschland komplett verändert hatte. Die Brille war Kontaktlinsen gewichen, die braunen, langen Haare waren blond und kurz geworden und ihre elegante Garderobe hatte sie im Vorfeld schon durch einen sportlichen, lockeren Stil ersetzt. Aber Mark wusste es. Er hatte sie gefunden und erkannt und er würde sie immer wieder finden. Er würde sicher nicht locker lassen, bis sie sich gestellt und alles gestanden hatte. Es gab kein zurück mehr, sie musste es tun. Sie musste reinen Tisch machen, vielleicht half es ja. Unschlüssig blicke sie sich um, bis sie die Kreidezeichnungen auf dem Bordstein sah. Dort stand wieder das elende Datum und ein Blick auf ihre Smartwatch zeigte ihr, dass es genau heute vier Jahre her war. Ein Pfeil über den Zahlen auf dem Boden zeigte die Straße hinunter. Sie folgte ihm, ihre Füße gingen praktisch von selbst und sie konnte nichts weiter tun, als sich von ihnen vorwärts tragen zu lassen. Um die Ecke hingen weitere Bilder, weitere Pfeile und sie folge auch ihnen. In ihrem Kopf drehte sich alles und sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, konnte sich nicht ausmalen, wie die Konsequenzen aussehen würden. Nach einer Weile kam sie zu einem alten, verlassenen Fabrikgebäude. Ein großer, roter Kreidepfeil zeigte auf den Eingang, die Türe war nur angelehnt. Eine leise Stimme in ihrem Kopf lachte über dieses Klischee, doch wie ferngesteuert betrat Irina langsam die alte Fabrik. Es war stickig und staubig, die Fenster waren mit Zeitungspapier beklebt und sie sah kaum ihre Hand vor Augen. Vorsichtig tastete sie sich weiter und als sie sich langsam an das dämmrige Licht gewöhnt hatte, schlug jemand hinter ihr die schwere Türe zu. Erst jetzt bemerkte sie den großen Fehler, den sie begangen hatte. Überall um sie herum hingen Fotos, sämtliche Bilder, die sich auch in der Galerie auf dem Handy befanden, waren ausgedruckt worden und kunstvoll an durchsichtigen Fäden aufgehangen worden. Sie schwebten im Raum, überall um sie herum. Es waren auch neue dabei, Bilder von einem Hochzeitskleid, einem Brautstrauß, einem Ring. Je weiter sich Irina in den Raum traute, desto grotesker wurden die Fotos. Dort hing eines von einem Sarg, eins mit einem Blumenkranz, sogar eines von einem über und über mit Blumen geschmückten Grab. Und auch hier, bei dieser abscheulichen Inszenierung, hatte er sich das schlimmste Bild für den Schluss aufgehoben. Es zeigte ein Portrait von ihr selbst in schwarz/weiß in einem schwarzen Rahmen. Schlagartig wurde ihr klar, dass Mark gar nicht wollte, dass sie sich stellte. Sie hörte langsame Schritte von hinten auf sich zukommen, vernahm das mechanische Klicken einer Waffe und schloss die Augen. Das war ihr Ende.

 

 

Am ganzen Körper zitternd wartet Irina auf den Schuss, auf das Ende ihrer Schuld. Doch es passiert nichts. Die Sekunden werden endlos und sie verspürt eine ganze neue Form der Folter.

 

Jetzt tu es doch endlich!“, schreit sie ihre Anspannung heraus, doch als Antwort bekommt sie nur ein Schluchzen.
Irritiert dreht sie sich um. Dort steht Mark, abgemagert, das Gesicht grau und eingefallen, mit glanzlosen Augen und dem entsicherten Revolver in der Hand, die auf sie gerichtet ist. Seine Hand zittert so sehr, dass er die Waffe kaum halten kann.
Er schießt nicht. Er weint.
Er lässt die Waffe sinken und starrt sie an, schüttelt wieder und wieder den Kopf.

 

Du hättest es verdient! Du hättest es verdammt nochmal verdient, dass ich dich abknalle. Dich unter die Erde bringe, genau wie du sie… Sie…“, er bricht schluchzend ab.

 

Irina kann nur wie gelähmt dastehen, kann sich nicht bewegen, bekommt keinen Ton heraus. Sie hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit.

 

Weißt du eigentlich, was du da getan hast? Was du zerstört hast? Wir wollten heiraten! Der nächste Tag sollte der schönste unseres Lebens werden. Wir waren so glücklich, es war alles fertig geplant, es war alles bereit. Wir wollten eine Familie gründen. Du hast nicht nur sie auf dem Gewissen, sondern auch das Leben der Kinder, die es jetzt nie geboren werden. Du hast an diesem Abend nicht nur ihr Leben genommen, sondern auch meins!“, schreit Mark seine Trauer hinaus in die Welt.

 

Ja. Ja ich weiß. Und es tut mir so unfassbar l-…“

 

Wag es nicht! Wag es nicht weiterzusprechen. Ich will dein Mitleid nicht. Ich will, dass du stirbst!“ Wieder richtet er den Revolver auf sie. „Ich ertrage deinen Anblick nicht. Du hast alles zerstört. Du hast aus meinem Hochzeitstag einen Todestag gemacht. Mein Leben war voller Freude und jetzt ist da nichts mehr! Nichts! Der einzige Gedanke, der mich hat weitermachen lassen, war der an diesen Moment. Der Gedanke daran, dass ich dich zerstören werde, dass ich dein Leben beende, so wie du ihres beendet hast. Ich habe zwar kein Medikament, was dich vergiftet, aber dieser Revolver tut es auch. Aber ich muss es vorher wissen – Warum? Warum zur Hölle hast du das getan? Was hatten wir verbrochen, dass du uns so etwas Unmenschliches angetan hast?“

 

Irina wischt Träne um Träne von ihren Wangen, aber es ist vergebens. Sie öffnet den Mund, aber es kommen keine Worte heraus.
Mark schießt und trifft die Wand hinter ihr.

 

Jetzt rede schon!“

 

Ich – ich wollte nicht… Ich wollte nur helfen!“

 

Helfen? Wem wolltest du helfen? Doch nur dir selbst. Du wolltest deine beschissene Studie vorantreiben, nichts weiter. Ich habe lange mit deinem Assistenten gesprochen, ihr stecktet in einer Sackgasse und nicht mehr lange, dann wären euch die Mittel gestrichen worden! Also wem wolltest du helfen?“

 

Irina schluckt schwer. Was Mark sagt, stimmte, doch sie hatte es nicht wahrhaben wollen. Sie hätte sicher einen Weg gefunden, es hätte sicher bald den Durchbruch gegeben.

 

Du hast keine Vorstellung davon, was ich die letzten Jahre durchgemacht habe. Wie schwer es war, all diese Informationen zusammen zu tragen und für mich zu behalten. Wie aufwändig es war, dich zu finden. Wie verzweifelt ich versucht habe, Nina nicht zu enttäuschen. Ihre Eltern nicht zu enttäuschen. Hast du auch nur den Hauch einer Ahnung -…“

 

Für mich war es auch die Hölle!“, platzt es mit tränenerstickter Stimme aus Irina heraus. „Ich wollte das alles doch nicht! Ich war mir so sicher, dass alles gut gehen würde. Ich halte die Schuld kaum aus, ich bin auch durch die Hölle gegangen und wünschte ich wäre an ihrer Stelle gestorben.“

 

Mark betrachtet Irina kritisch und erkennt ihre Verfassung, begreift, dass sie die Wahrheit sagt. „Immerhin.“

 

Er schließt die Augen, wendet sich ab, seufzt laut und lange.

 

Ich bin mit dem Vorsatz hier hergekommen und habe dich mit der Absicht hier hergelockt, um dich zu töten.“, spricht er das Offensichtliche aus, trotzdem erschreckt es Irina diese Worte aus seinem Mund zu hören. Für einen Moment hatte sie gedacht, dass sie vielleicht doch noch irgendwie lebend aus dieser Sache herauskommen könnte, doch diese Hoffnung zerspringt in tausend Scherben, als sie den entschlossenen Ausdruck in Marks Gesicht sieht.

 

Ich hatte alles geplant, hier sollte es enden und ich würde endlich frei sein, könnte endlich von vorne anfangen und ein neues Leben beginnen. Aber es wäre zu einfach. Nicht für mich, versteh mich nicht falsch. Ich bin kein Killer, so wie du. Ich meine es wäre zu einfach für dich. Der Tod wäre zu gnädig. Nein, ich will, dass du, bis du alt und grau bist, mit dieser Schuld leben musst. Ich wünsche dir ein langes, qualvolles Leben in dem du nie wieder froh wirst. Denn genau das hast du verdient. Und ich habe es verdient, frei zu sein. Wirklich frei. Ich werde dich nicht anzeigen, werde all die Beweise, die ich gesammelt habe, nicht mehr nutzen. Was du tust, überlasse ich dir selbst. Ob du mit der Schuld leben kannst, nicht nur Ninas Leben beendet zu haben, sondern auch meins. Denn das hier, das geht auf dich!“

Mark dreht sich ruckartig um, hebt die Waffe an seine Schläfe und drückt ab.

Der Knall hallt in der leeren Fabrik noch lange nach, genau wie Irinas verzweifelter Schrei. Sie kriecht auf allen Vieren zu dem leblosen Körper hinüber und obwohl sie es besser weiß, sucht sie trotzdem den Puls. Eine Blutlache breitet sich rasend schnell aus und sie sitzt mitten drin. Die Waffe, mit der Mark sich erschossen hat, liegt zum Greifen nah. Irina schluckt und streckt langsam ihre Hand danach aus.

Wie soll sie mit dieser Schuld leben?

One thought on “Die tödliche Schuld

Schreibe einen Kommentar