PaulineDie unendlich 2. Phase

Benjamin wohnt seit sieben Tagen in dieser Bruchbude. Eine andere Wahl hat er nicht gehabt. Ausgerechnet das einzig Schöne an ihr – der teure Parkettboden im Flur – ist nun ruiniert.

Das dunkle Blut erreicht seine Socken und Benjamin erwacht aus seiner Schockstarre.

Das hier ist nicht seine Schuld. Niemals hätte er diesem Menschen das Leben genommen, aber trotz dessen und vor allem auf Grund seiner Vergangenheit, wird ihm niemand einen Unfall abkaufen.

Er muss die Leiche und das Blut loswerden. Zum Glück ist er Chemielaborant. Den Tod wird er rächen und die Schuldige dafür bezahlen lassen – Emily.

Aus der Hosentasche zieht er das fremde Smartphone hervor und tippt mit zitternden Fingern eine Nachricht.

 

Als sie zum ersten Mal die Tür öffnete, traf Benjamins Blick ihre großen Brüste, dann ihr Gesicht. Sie hatte einen breiten Mund und genau wie seine Mutter eine helle Haut voll Sommersprossen. Aber statt blonder Haare hatte die junge Frau rote Locken.

„Schön, dass du so kurzfristig kommen konntest. Ich bin Julia Meier.“

„Benjamin Klein“, stellte er sich vor und erwiderte ihren festen Händedruck.

Julia führte ihn durch die kleine Wohnung, die aus einem dunklen Flur mit abzweigenden Zimmern bestand – Bad, Küche und zwei Schlafzimmer.

„Hier funktioniert nur das rechte Waschbecken“, erklärte sie im Badezimmer. „Und in der Küche läuft nur kaltes Wasser, denn sobald der Boiler angestellt ist, springt die Sicherung raus – warum auch immer. Die Leitungen geben außerdem seltsame Geräusche von sich, fast als würde es hier spuken. Aber immer noch besser, als unter der Brücke zu schlafen.“ Sie lächelte.

Nach der Besichtigung setzte Benjamin sich auf einen wackligen Holzstuhl und Julia kochte Kaffee.

„Ich bin Chemielaborant.“

„Tatsächlich? Und ich dachte, du willst zum Studieren hierherziehen.“

Benjamin verneinte. „Eigentlich wohne ich schon immer hier, aber… ich habe mich von meiner Freundin getrennt.“

„Das tut mir leid.“

Statt zu antworten, nippte Benjamin an der dampfenden Blümchentasse. Nach der schrecklichen Trennung hatte er Clara die Wohnung überlassen, denn er hatte nicht nochmal Lust auf Anwälte und Gerichtstermine und würde sich mit der erstbesten Wohnung zufriedengeben, ganz egal wie hoch die Miete im Verhältnis zum Zustand sei.

Julia wechselte schnell das Thema. „Ich wohne erst seit einem Jahr hier. Nach dem Abitur konnte ich es kaum abwarten, endlich von zu Hause wegzukommen – Eltern eben.“ Sie verdrehte die Augen. „Irgendwann werden sie anstrengend, das kennst du bestimmt.“

Benjamin kannte das nicht.

„Jedenfalls studiere ich Soziale Arbeit. Ich helfe in einem Jugendwohnheim aus und verteile ab und zu Essen bei Der Tafel, also hast du die Wohnung die meiste Zeit für dich allein.“ Sie zögerte. „Ja, ich weiß. Für diesen Mietpreis ist die Wohnung die reinste Abzocke. Seit Hanna ausgezogen ist, suche ich händeringend nach einem Nachmieter und wenn nicht bald ein Wunder passiert, muss ich wohl meine Eltern um Geld bitten.“

„Ich nehme das Zimmer. Wann kann ich einziehen?“

 

Am nächsten Tag brachte Benjamin die alte Gästematratze und zwei Kartons in sein neues Zuhause. Julia freute sich wie ein kleines Kind und überreichte ihm feierlich den Haustürschlüssel. Die alte Mitbewohnerin hatte nur einen Schreibtisch und hellblaue Vorhänge hinterlassen und bis auf den Holzstuhl, den Julia ihm aus der Küche brachte, war das Zimmer leer.

„Tja, für den Anfang sehr minimalistisch“, scherzte sie. „Falls du Hilfe bei den restlichen Sachen brauchst, melde dich.“

Benjamin bedankte sich, doch er hatte das Nötigste schon hier und sich geschworen, nie wieder einen Schritt in Richtung der alten Wohnung zu setzen. Er wusste es noch nicht, aber bald würde er diesen Schwur brechen.

Auf dem kalten Fußboden sitzend, packte er seine zwei Kartons aus und verstaute ein paar Schreibutensilien in den Tischschubladen. Plötzlich fiel ihm ein Polaroid entgegen.

Es war eine spontane Momentaufnahme seines Lebens. Eine Erinnerung, die er längst versucht hatte, aus dem Gedächtnis zu löschen.

Aus seiner hinteren Hosentasche kramte er das Feuerzeug hervor, mit dem sich seine Mutter damals Zigaretten angezündet hatte. Die lodernde Flamme hielt er an eine Fotoecke, doch bevor sich Claras blondes Haar und sein eigenes Gesicht kohlrabenschwarz verfärben konnten, löschte er das Feuer.

Am Abend kochte Julia ein scharfes Chili sin Carne und während sie von ihrer Arbeit sprach, konnte Benjamin die Augen nicht von ihrem Hintern abwenden, der unter den knappen Shorts hervorlugte.

Während des Essens konnte er ihr endlich ein paar Fragen stellen.

„Unsere WG-Regeln?“, fragte sie verblüfft. „Ich kenne keinen einzigen Mann, der sich Gedanken übers Putzen macht!“

Ihr breites Grinsen stand ihr und brachte Benjamin zum Schmunzeln. Es freute ihn, dass sie wegen ihm lachte.

„Bisher hatten wir keinen Putzplan, es hat auch so ganz gut funktioniert.“

„Wir sollten jede Woche Küche und Badezimmer putzen. Zwei Mal in der Woche saugen und auf keinen Fall mit Schuhen durch die Wohnung laufen.“ Benjamin dachte an den glänzenden Parkettboden.

„In Ordnung, das klingt gut.“

„Was denkst du über frische Blumen auf dem Esstisch?“

„Als Regel? Naja, meinetwegen.“

Benjamin war zufrieden. Es waren nicht seine Gewohnheiten, aber ein Teil seiner Kindheit und Jugend.

„Bevor ich es vergesse: Meine Freunde und ich gehen am Wochenende in den Club und du bist herzlich eingeladen. Sie sind schon sehr gespannt auf dich.“

Bei dem Gedanken, sich mit fremden Leuten in einem Club zu treffen, bekam er schweißnasse Hände, denn sowas passte überhaupt nicht zu seinem introvertierten Lebensstil und trotzdem hoffte er, unter ihnen einen Freund zu finden.

„Du hast keine Ahnung, wie oft ich ihnen schon die Ohren wegen des leeren Zimmers vollgeheult habe. Darauf werden wir morgen übrigens anstoßen – sozusagen auf dich.“ Julia zwinkerte ihm zu und ein komisches Kribbeln erfüllte seine Magengrube.

 

Bis zum Freitag lachten Benjamin und Julia über alberne Witze, hatten spannende Diskussionen und sahen abends romantische Filme. Die Schmetterlinge in Benjamins Bauch vermehrten sich und er spürte ihre heimlichen Blicke.

Julias Freunde waren genauso nett, wie sie und sie hatten ihn zur Begrüßung wie einen alten Bekannten in die Arme geschlossen.

Um Mitternacht tanzten Julia und Benjamin Haut an Haut, bis irgendwann der erste Kuss fiel.

In der Wohnung konnten die beiden nur schwer die Finger voneinander lassen, doch letztendlich landete jeder betrunken in seinem eigenen Bett. Zwischen Benjamin und ihr lagen nur wenige Zentimeter Mauerwerk, doch sie fühlte sich unendlich weit weg an.

 

Am nächsten Morgen erwachte er vor Julia. Benjamin kochte Kaffee und beschloss, sich heute im Haushalt nützlich zu machen. Als erstes reparierte er den Holzstuhl, was nicht weiter schwer war, dann sah er sich das linke Waschbecken im Badezimmer an. Seine Mutter war eine gute Lehrerin gewesen. Beim Gedanken an sie, packte er den Schraubendreher so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

Als er mit der Post zurück in die Wohnung kam, knarrte beim Öffnen Julias Zimmertür. Sie sah die reparierten Gegenstände und fiel Benjamin dankbar um den Hals. An seiner Brust spürte er, dass sie keinen BH trug. In diesem Moment vergaß er den Brief für Julia und den dicken Umschlag für sich selbst.

Bevor die Situation für beide peinlich werden konnte, verkündete er: „Ich mach uns Frühstück!“

In der Küche roch es nach Waffeln mit Puderzucker und Bacon-Sandwiches, aus denen geschmolzener Käse quoll.

„Habt ihr für nächste Woche schon was geplant?“, fragte er zwischen zwei Bissen.

„Meine Eltern überlegen sich, zu Besuch zu kommen.“

„Schade, ich mag deine Freunde echt gerne.“

„Bei den beiden würde das anders aussehen, sie sind so spießig. Wie sieht es mit deinen Eltern aus, habt ihr ein gutes Verhältnis?“

Benjamin erstarrte mitten in der Bewegung. „Wohl kaum.“

Die Frage warf ihn vier Jahre zurück in die Vergangenheit.

 

Am schlimmsten Tag seines Lebens hatte es wie aus Eimern gegossen. Der Regen hatte ihm die Bestätigung gegeben, dass sogar die Engel weinten. Die Gäste, von denen er die meisten nur flüchtig gekannt hatte, waren in dunkle Stoffe gehüllt und hatten geheulten.

Nur Benjamin nicht, denn das hatte er das letzte Jahr fast jede Nacht getan – wenn sie ihre Schmerzen herausgeschrien hatte und er keine Hilfe war.

Das Ende hatte er gekannt, bevor es eingetreten war.

Die Ärzte hatten nicht sagen können, woher der Krebs kam. Sie hatten bei der ersten Operation die Metastasen in ihrer Raucherlunge entdeckt. Die verseuchten Zellen hatten von der Bauchspeicheldrüse aus gestreut. Die Operation war sofort abgebrochen worden.

Trotz des vorangekündigten Schicksals war seine Hoffnung zuletzt gestorben; mit ihr seine einzige Vertraute und sein liebster Mensch auf Erden.

Jetzt war er allein. Sie hatte sich dem Tod hingegeben, aufgegeben und ihn zurückgelassen. Und mit sich hatte sie all ihre Liebe und ein Stück seines Herzens genommen.

Stocksteif, mit geballten Fäusten war er vor dem Grab gestanden und hatte sich immer wieder gefragt: „Wieso musste sie sterben?“

 

„Meine Mutter ist an Krebs gestorben. Meinen Erzeuger habe ich nie kennengelernt. Er hat uns vor meiner Geburt verlassen.“ Es klang, wie auswendiggelernt.

„Heilige Scheiße.“ Julia schloss Benjamin schweigend in die Arme, aber er hielt das nicht aus und stieß sie von sich.

Er stapfte mit der Post in sein Zimmer und schlug die Tür mit einem lauten Knall zu. Um seine düsteren Gedanken zu vertreiben, setzte er sich mit dem Umschlag an seinen Schreibtisch. Er wunderte sich über den Brief, denn außer Clara wusste niemand von diesem Zuhause.

Er öffnete ihn. Den Inhalt ließ er vorsichtig herausgleiten.

Das muss ein Fehler, grübelte er. Er überprüfte den Umschlag erneut. Doch, da stand sein Name. Benjamin Klein. Mehr nicht, keine Anschrift und keine Briefmarken.

Ein Smartphone. Auf der Rückseite des Geräts entdeckte er einen Zettel, der dort sorgfältig mit Klebestreifen befestigt war. Darauf eine vierstellige Zahlenkombination.

Von seinem Bauchgefühl geleitet, ließ er das Gerät starten. Mit verkrampften Fingern und angespannten Schultern entsperrte er die SIM-Karte. Eine weitere Verschlüsselung gab es nicht.

Benjamin zuckte zurück. Eine SMS war piepend am oberen Rand des Startbildschirms aufgetaucht. Er öffnete sie.

 

Benjamin,

das Liebste auf der Welt zu verlieren ist schwer. Es raubt einem den Atem – oder, wie in deinem Fall, den Verstand.

Aber würdest du es erneut überleben

 

Ein kalter Schauder lief ihm den Rücken hinunter.

Das ist nur ein böser Scherz.

Aber Benjamin war sich so unsicher, dass er das Einzige tat, was ihm einfiel.

 

Wer bist du?

 

Benjamin,

wer ich bin, ist unwichtig. Wichtig sind die Entscheidungen, die wir Tag für Tag treffen; ob wir mit unseren Lügen leben können.

Stell dich. Gestehe.

Du hast bis morgen Zeit.

 

Benjamin schnaubte. Irgendein Vollidiot wollte sich einen Scherz erlauben. Er wollte das Smartphone gerade weglegen, als eine neue Nachricht eintraf.

 

Benjamin,

falls ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe, hier eine kleine Motivation.

 

Es war dasselbe Bild, das angekokelt in einem der Kartons lag und Benjamin mit seiner letzten Freundin zeigte – Clara, für die er einen goldenen Ring gekauft hatte, weil seine Liebe für sie sein gesamtes Inneres füllte und der Gedanke, sie zu verlieren, unendlich weh tat.

Die Nachrichten waren kein Scherz. Sie waren eine Drohung.

Benjamins Gedanken rasten, bis sein Verstand die Nachrichten erfasste.

Clara war in Gefahr!

Er riss seine Zimmertür auf und stieß auf Julia, die nach ihrem Schlüsselbund griff. Er achtete nicht auf sie und bemerkte deshalb nicht, wie sie ihn unschlüssig musterte.

Eilig drängelte er sich an ihr vorbei und meinte: „Bin gleich wieder da.“

Benjamin fuhr mit der Straßenbahn zu seiner alten Wohnung, die nur noch auf Claras Namen lief. Er musste sie sehen und sicherstellen, dass es ihr gut ginge.

Den Haustürschlüssel hatte er behalten, doch als er aufsperren wollte, passte er nicht. Auf dem Klingelschild stand nicht mehr „Sommer und Klein“.

Claras Auszug ließ Benjamin den Boden unter den Füßen verlieren. Ihm wurde schwindelig. Er hatte keine Ahnung, wo sie war. Er konnte sie nicht mehr beschützen.

Plötzlich war er zurück im Krankenhaus, wo er sie zum letzten Mal gesehen hatte; seine blasse Mutter, umgeben von Schläuchen und Maschinen.

Sein Herz hämmerte in der Brust. Er bekam keine Luft. Der Himmel über ihm schien ihn zu erdrücken. Die Häuser rückten in die Ferne.

Das fremde Smartphone vibrierte.

Ein weiteres Bild. Claras tränenüberströmtes Gesicht.

Das Bild verschwamm vor seinen Augen und anstelle traten grausame, qualvolle Szenen, die seiner Fantasie entsprangen.

Schnaufend und mit brennenden Lungen schaffte er es in den Schutz seiner Wohnung. Wenn er die Zukunft gekannt hätte, wäre er dort nicht hingegangen.

Er tigerte auf und ab. Die Gedanken rasten durch seinen Kopf, doch er bekam keinen zu fassen. Der einzige Mensch, der ihn jetzt beruhigen konnte, war Julia.

Nach mehrmaligem Klopfen öffnete er ungeduldig die Tür, doch das Zimmer war abgedunkelt und leer. Er war mal wieder allein – einsam. Auf ihrem Bett umschloss er seine Knie und wiegte sich wie ein kleines Kind vor und zurück.

Was sollte er tun?

Er sprang von der Bettkante, raufte sich die Haare. Er lief wieder auf und ab, blieb vor dem Schreibtisch stehen.

Der Name auf dem Brief sprang ihm sofort ins Auge. Sein Herz blieb stehen.

 

Hallo Julia,

mein Name ist Emily König. Es tut mir leid, dir die folgenden Worte schreiben zu müssen, denn ich hätte sie dir gerne erspart oder zumindest persönlich gesagt, aber ich möchte dich um etwas bitten: Halte dich von Benjamin fern. Ich weiß, wovon ich rede.

Obwohl ich einen Fehler begangen habe, ist es für Gerechtigkeit noch nicht zu spät. Er wird seine Taten büßen und seine Bestrafung bekommen.

Ja, das mag seltsam klingen, aber melde dich unter dieser Nummer, wenn du mit einem Treffen einverstanden bist oder sogar schon Hilfe brauchst. Es ist so…

 

„Was machst du in meinem Zimmer?“ Julia stand im Türrahmen. Er hatte die Haustür gar nicht gehört. „Du kannst nicht einfach hier rein gehen.“

„Wo warst du? Hast du dich mit ihr getroffen?“ Mit zitternden Händen hob er den Brief.

„Ich … ja.“

„Bist du vollkommen bescheuert? Du hast doch keine Ahnung wer …“

„Ich habe mich nur auf ein Treffen eingelassen, weil ich gefragt habe, was der Brief soll und sie mir daraufhin Beweisbilder … also, angebliche Beweisbilder geschickt hat.“

„Was hat sie dir erzählt?“

„Alles Mögliche. Ich … weiß nicht, was ich glaub…“

Er machte einen langsamen Schritt auf sie zu. „Wo ist sie?“

„Was zwischen euch passiert ist, stimmt doch nicht, oder?“

„Es ist gar nichts passiert“, behauptete er. Seine Gedanken kreisten nur um Clara.

„Dann hat sie dich nicht angezeigt?“

Benjamin schwieg, doch seine Ungeduld stieg.

„Emily hat behauptet, ihre Anzeige zurückgezogen zu haben, weil du auf Knien bei ihr angekrochen kamst und sie angefleht hättest, nicht den Rest deines Lebens zu zerstören. Weil du schon deine Mutter verloren hast.“

Bei der Erwähnung seiner Mutter ballte er die Fäuste. „Das Verfahren wurde längst eingestellt.“

„Dann ist es die Wahrheit?“ Sie sah ihn mit großen Augen an, als könnte sie nicht glauben, was er da sagte.

„Wo ist Clara?“ Seine Stimme wurde lauter.

„Clara? Was ist mit uns? Ich dachte, wir sind …“ Ihre Stimme brach.

Benjamin schwieg, denn obwohl er Gefühle für sie hatte, drehten sich seine Gedanken in diesem Moment um jemand anderen.

„Ich mag dich so gerne, aber jetzt … ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Clara … du wolltest sie heiraten?“

„Wage es nicht, über meine Clara zu sprechen.“

„Das ist sie nicht mehr. Sie hat es mit dir nicht ausgehalten und dich verlassen. Sie hatte Angst!“

Er lief rot an und schaffte es kaum, ihr zuzuhören. Sorge und unbändige Hitze übernahmen seinen Verstand.

„Und Emily? Obwohl sie versucht hatte, dich nach dem Tod deiner Mutter aufzubauen und die Einzige war, die du hattest, hast du sie …“ Das Wort kam ihr nicht über die Lippen. „Nachdem Clara sich von dir getrennt hatte, hat sie Emily erzählt, was passiert ist. Emily war so wütend über sich, weil sie Mitleid mit dir gehabt hatte und deshalb die Anzeige zurückgezogen hat. Sie war so …“

„Nutzlos! Eine Verräterin!“

Emily hatte das Loch in seinem Herzen nie füllen können und sich auch nicht bemüht, seine Mutter zu ersetzen. Nur anzeigen konnte sie ihn, nachdem seine Wut überhandgenommen hatte und er seine Fäuste nicht mehr stoppen konnte.

Unendliche Wut, das einzige Gefühl, das ihm seine Mutter hinterlassen hatte – seine scheiß Mutter, die ihn verlassen hatte, weil sie nicht rechtzeitig zum Arzt gegangen war.

Julia zuckte zurück, aber wollte schon wieder Luft holen.

„Halt endlich deinen verdammten Mund!“, brüllte er. „Sie erpresst mich! Clara ist in Gefahr!“

„Was zum … wie redest du mit mir? Beruhig dich endlich, dann kann dein Spatzenhirn auch eins und eins zusammenzählen!“

Das brachte das Fass zum Überlaufen. Sie hielt ihn für dumm. Sie nahm ihn nicht ernst.

Benjamin war so schnell, dass Julia gar nicht reagieren konnte. Er stieß sie aus dem Zimmer. Sie knallte gegen die Flurwand. Benjamin presste seinen Arm gegen ihren Brustkorb. Seine Hand umschloss ihren Hals. Sie röchelte, bekam kaum Luft.

„Clara … geht’s … g…“

„Wo?!“

Er schleuderte sie gegen die andere Wand. Dann war er wieder bei ihr, umschloss mit seiner Klaue ihr Kinn.

„Hör auf, … das bist … nicht du.“ Sie hustete. Ihr Atem ging schnell. Ihre Augen starr vor Schreck.

Diesen Ausdruck kannte er. Er hatte ihn oft genug bei Emily und Clara gesehen. Obwohl er diesen Blick nie gemocht hatte, erleichterte die Gewalt sein Herz und es fühlte sich gut an, die Wut zu spüren und sie hinauszulassen.

Doch die Befriedigung würde nicht lange anhalten, denn bald würden ihn die Schuldgefühle überrollen. Die Schuldgefühle, die sich in Selbsthass und dann wieder in Zorn verwandeln würden.

„Die Bilder sind doch alt – das warst du selbst!“ Julia nahm all ihre Kraft zusammen. „Claras Entführung ist doch nur …“ Sie stieß ihn von sich.

„Julia!“, brüllte er ihren Namen. „Du bleibst, wo du bist!“ Benjamin folgte ihr.

Sie schlüpfte nur in ihre Sneakers.

Er war fast hinter ihr. Zwei Schritte. Eine Armlänge.

Wie ein gejagtes Reh, sah sie in seine Augen.

Sie lief rückwärts, stolperte über einen Schnürsenkel.

Als sie stürzte, begriff er ihre Worte.

25 thoughts on “Die unendlich 2. Phase

  1. Hey, ich bin beim Stöbern über deine Story gestolpert und hab sie gerade gelesen. Ich mag es total wenn Geschichten gut strukturiert sind, das hast du super gemacht und ist mir gleich auf den ersten Blick aufgefallen. Schöne Handlungsführung und geschickte Rückblicke. Außerdem super, dass du das meiste in Dialogen stattfinden lässt statt unendlich zu erklären. Hat mir sehr gut gefallen das ganze. Ich lasse gern einen Like da und drücke dir die Daumen für die Aufnahme ins E-Book 🙂 LG!

  2. Liebe Pauline,
    Ich kann mich hier den anderen Kommentaren anschließen. Wirklich schön geschrieben und die vielen Dialoge waren eine schöne Abwechslung zwischen den ganzen Geschichten 🙂 Dein Ende hat mich persönlich zum Nachdenken gebracht und dass wir dann nicht genau wissen, was mit Julia passiert, gefällt mir. Kompliment!
    Liebe Grüße,
    Jasmin

    1. Liebe Pauline

      Es ist so traurig, dass deine Geschichte erst so wenige Herzen hat.
      Deine Story ist so gut, dass sie eigentlich schon 5 mal so viele Likes verdient hätte.

      Ich bin durch einen absoluten Zufall bei dir gelandet.
      Wenn ich ehrlich bin, wollte ich eine ganz andere Geschichte lesen… Und habe mich vertippt.
      🙂

      Jetzt jedoch bin ich froh, deine Story entdeckt zu haben.
      Denn sie gehört definitiv ins EBook.

      Deine Dialoge sind für mich das Herausragende an deiner KG. Das macht das Lesen flüssig und angenehm. Man bekommt dennoch alles von der Grundidee und der Handlung mit.

      Natürlich hätte ich auch gerne etwas genauer gewusst, was mit Julia geschieht, dennoch mag ich dein Finale sehr.
      Außerordentlich gelungen.
      Kompliment.

      Ich wünsche dir und deiner Geschichte noch viel Erfolg und Herzen.

      Mein Like hast du natürlich sicher.

      Schreib weiter und weiter und du wirst von Tag zu Tag besser und sicherer. Und du wirst noch viele bezaubernde Geschichten schreiben, wetten?

      Ganz liebe Grüße und pass auf dich auf.
      Swen Artmann (Artsneurosia)

      Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
      Würde mich freuen.
      Einen kleinen Kommentar fänd ich auch Klasse.
      Meine Geschichte heißt:

      “Die silberne Katze”

      Ich danke dir für deine Geschichte und die gute Unterhaltung.

      1. Hallo Swen,
        ich habe mich echt total über deine lieben Worte gefreut und schon einen Kommentar unter deiner Geschichte hinterlassen 🙂
        Alles Liebe
        Pauline

  3. Moin Pauline,

    ein richtig gut durchdachter Plot. Am Anfang gleich Spannung erzeugt und ein paar Krümelchen geworfen. Wie bei einer Schnitzeljagd folgt man den Brotkrümeln und wartet auf den Knall am Ende. Und man wird nicht enttäuscht! Die Wandlung vom Protagonisten hast du sehr überzeugend und authentisch beschrieben. Hat mir gut gefallen.
    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

  4. Hallo Pauline,
    habe dir gerne ein Like dagelassen.
    Auch in meinem Kopf überlege ich, wie es wohl weitergeht. Ich hoffe immer auf das Gute, auch wenn wir hier im Bereich Krimi/Thriller schreiben 🙈.
    Grüße Jana
    Falls du magst, freue ich mich auch immer über einen Kommentar (Strafe).

    1. Hallo liebe Jana,
      vielen Dank für deinen Kommentar und das Like! 🙂
      Als Schreibender mag ich es immer sehr gerne, wenn ich den Leser mit Fragen zurücklasse 😀
      Ich schaue gerne bei dir vorbei 🙂
      Alles Liebe
      Pauline 🙂

  5. Liebe Pauline,
    ich habe es jetzt doch endlich geschafft, deine Geschichte zu lesen und wie versprochen kommt hier mein Feedback 🙂

    Achtung, Spoiler!

    Du hast ein super wichtiges Thema gewählt. Häusliche Gewalt wird viel zu wenig thematisiert und viele fühlen sich leider immer noch beschämt, wenn ihr Partner oder ihre Partnerin sie angreift. Die Geschichte von dem Standpunkt des “Peinigers” aus zu erzählen, fand ich daher super interessant und auch, dass er sich selbst nicht so wirklich im Klaren darüber ist, dass er viel Gewalt anwendet und dass er Clara selbst entführt hatte (Habe ich das richtig verstanden?).
    Ich hätte mir noch mehr Einblicke in sein Gefühlsleben und seine Gedankenwelt gewünscht. In Bezug auf seine Mutter beschreibst du das sehr gut, allerdings in Bezug auf Clara, Emily und Julia bleibt diese eher flach.
    Der Bruch in der Person, also der introvertierte Mann, der insgeheim zuhause seine Freundin schlägt, fand ich auch gut gewählt. Trotzdem kommt diese “Verwandlung von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde” in der Kürze der Geschichte ein wenig zu kurz.
    Ebenso die Liebesgeschichte zwischen Julia und Benjamin. Ich konnte viele Szenen nicht allzu gut nachvollziehen, weil du dich durch die Vorgabe Kurzgeschichte einfach zu kurz fassen musstest.

    In der Überarbeitung würde ich daher einige Szenen streichen, da hast du ja bereits ein paar Tipps zu bekommen. (Die Dialoge hätte ich mir übrigens auch ein bisschen länger gewünscht, die wurden immer recht abrupt abgebrochen, hatte ich das Gefühl.)

    Ansonsten hast du aber viele Dinge sehr richtig gemacht und ich wünsche dir ganz viel Erfolg für das eBook-Voting 🙂

    Falls du noch nicht bei @wir_schrieben_zuhause bist, schau doch auch da mal vorbei, da kannst du noch mehr Leser für dich gewinnen.

    Beste Grüße, Leandra aka @leahschreibt (Versteckspiel)

      1. Ich hatte das Ende so verstanden, dass er selbst die Bilder von Clara gemacht hatte, die er auf seinem alten Handy gefunden hat, also bin ich davon ausgegangen, dass er sie selbst entführt hatte 😀

      2. Achso, aber es war ja nicht sein altes Handy. Ihm wurde eines per Post zugeschickt und auf diesem hat ihm Emily die Bilder von Clara geschickt 😀 Benjamin hat ihr nur die Verletzungen zugefügt.

  6. Hallo Pauline,
    Kompliment zu Deiner Geschichte. Quasi mit dem Ende zu beginnen, um dann die Handlung “von hinten aufzuzäumen”, das fand ich richtig gut. Auch Deine Dialoge sind sehr gut gelungen – das ist für mich mit das schwerste. Chapeau!

    Mein Like hast Du jedenfalls!

    LG,
    der schweenie

    P.S. vielleicht hast Du ja Zeit und Lust, auch meine Geschichte zu lesen und ein Feedback da zu lassen…
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/glasauge

  7. Liebe Pauline!
    Wow, so eine Geschichte mit Gruseleffekt, das mag ich. Der Anfang, quasi das Ende, war der Hammer und zog mich gleich in den Bann. Einmal begonnen konnte ich nicht mehr aufhören zu lesen. So soll es sein. Guter Aufbau und sicherer Schreibstil, tolles Ende.
    Ein 💖 von mir und alles Gute für dich!
    Vielleicht hast du Lust und Zeit meine Geschichte zu lesen und mir Feedback zu geben? Ich würde mich riesig freuen.
    Liebe Grüße Lotte
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/der-alte-mann-und-die-pflegerin

  8. Hallo Pauline,
    Starkes Thema hast du dir da ausgesucht und es klasse umgesetzt. Den Aufbau fand ich ebenso klasse, genau wie deinen mitreißenden Schreibstil. Von mir bekommst du auf jeden Fall ein Herzchen 💛. Ich wünsche Dir viel Erfolg 🍀.

    Vielleicht magst Du auch bei meiner Geschichte “Alte Bekannte” einmal vorbei schauen, würde mich freuen ☺️.

    Wünsche Dir ein schönes Wochenende!

    Liebe Grüße

    Maddy

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