patrickinflamezDIE UNSCHULD

DIE UNSCHULD

#wirschreibenzuhause

Eine Kurzgeschichte von 

patrick_in_flamez

Hinweis: Handlung, Namen, Orte etc. sind im Sinne der Aktion #wirschreibenzuhause fiktiv und frei erfunden.

 

1.

„Es ist das Jahr, in dem du meine Mutter hast sterben lassen!“

steht da als Text auf dem Hintergrundbild des Smartphones, das er gerade in seinem Briefkasten entdeckt hat. Sofort stellt sich ein Gefühl bei ihm ein, das man mit nur einem Wort erklären kann. Ein Wort, das heftiger wiegen kann, als jede Strafe, die sich daraus ergibt.

SCHULD.

„Das Jahr, in dem eine Mutter gestorben ist….“ Noch ist er sich nicht ganz im Klaren darüber, was das genau zu bedeuten hat. Aber schon jetzt fühlt er sich schuldig und eine dunkle Vorahnung macht sich in ihm breit.

„Warum liegt da ein Smartphone im Briefkasten?“ denkt Nikolas. Es ist Samstag und dennoch kommt er gerade aus dem Labor, da er dort gestern sein Portomonee vergessen hat und aus diesem Grund extra samstags früh noch einmal ins Büro gefahren ist.

Nikolas S., Kriminaltechniker

steht auf dem Schild seiner Bürotür. Das Auto vor der Haustür geparkt sieht er den Postboten, der schon zwei Häuser weiter gezogen ist und ihn daran erinnert, dass er gleich direkt die Post mit reinnehmen kann. Die Post und ein Smartphone, das jemand für mich im Briefkasten platziert hat. Und zwar nur für ihn, denn sein Name ist auf die Rückseite des Smartphones eingeritzt. Schnell sprintet er samt Post und Smartphone ins Haus. Noch ist keiner wach, weder sein zwei Jahre alter Sohn Lewis, noch seine Frau Piper. Er schmeißt die Reklame und Post auf den Küchentisch und nimmt seine ganz spezielle Post mit in sein Arbeitszimmer.

„Es ist das Jahr, in dem Du meine Mutter hast sterben lassen!“

steht da auf dem Display. Und dann passiert es. Blitzschnell. Ein unerklärbares Schuldgefühl, welches er von der ersten Sekunde an empfand als der das Smartphone aus dem Briefkasten geholt hat, wandelt sich zu einer konkreteren Theorie. Eine These, die im Inbegriff ist ihn aus dem Smartphone-Display heraus leuchtend zu verstrahlen, zu durchlöchern, zu durchbohren. Heute ist Nikolas ein ganz grundsolider Mensch, mit Familie, geregeltem Job, Einkommen und Hobbies. Da gab es eigentlich nur eine einzige Situation, eine Flamme aus seiner Vergangenheit, die gerade in seiner Erinnerung auflodert. Lange genug unterdrückt, um sie fast nicht geschehen erscheinen zu lassen. Er steht fassungslos, mit weit geöffnetem Mund und zittrigen Händen im Büro und lässt das Smartphone fast fallen.

Nachdem er seinem Verdacht nachkommt und „2002“ als Entsperrcode in das Smartphone eingibt, gibt es den Bildschirminhalt frei. Nun gibt es keinen Raum mehr für Interpretation, denn das, was er sieht, trifft ihn wie die Wucht einer aufgedrehten Gasflasche, die gerade offenes Feuer geküsst hat.

 

2.

Eigentlich eine der normalsten Sachen der Welt, aber in dieser Form so surreal, was er da sieht; sich selbst, von hinten, wie er einen Raum verlässt. Er erkennt sich selbst am Emblem auf der Jacke, die er übergeworfen hat: World Cup 2002. Aber auch so hätte er sich mit Sicherheit sofort an die Situation erinnert.

Und an ihren Namen: „Helen“.

Er erinnerte sich sofort an sie und an ihr Aussehen. Blond, langes Haar, Lederjacke und ein Shirt von einer Metal-Band. Hatte es doch so viel Zeit und Kraft gekostet sich gedanklich von ihr zu trennen, kam die Erinnerung umso schneller und lebhafter wieder.

Das Bild ist in der Nacht entstanden, als er sie das erste und letzte Mal gesehen hat.

Als sie sich das erste und letzte Mal geliebt haben.

„Guten Morgen mein Schatz“ sagte Piper, die auf einmal im Türrahmen steht und sich die Augen reibt. Kalter Schweiß breitet sich auf Nikolas gesamten Körper aus. Er darf sich jetzt nichts anmerken lassen, denn Piper kennt nicht wirklich viele Details aus seiner Vergangenheit.

„Guten Morgen mein Schatz“ entgegnet er ihr und drückt ihr einen Kuss auf die Stirn. In dem Moment vibriert das neue Smartphone, dass er eben noch schnell hinter sich auf den Tisch gelegt hat, ehe er sich zu Piper umgedreht hat. Die Vibration hinter ihm klingt so laut, als würde gleich der ganze Schreibtisch zusammenbrechen. Nikolas erschreckt sich und Piper merkt es ihm natürlich an. „Ist alles ok bei dir?“ fragt sie. Nikolas dreht sich kurz zum Schreibtisch um und sieht, dass eine Nachricht auf seinem neuen, individualisierten und mit seinem Namen personalisierten Smartphone eingegangen ist.

„Ja, alles gut, ich musste eben noch einmal kurz ins Büro.“ In dem Moment meldet sich Lewis aus seinem Kinderzimmer zu Wort. Schreiend, wie man es als Zweijähriger eben macht.

„Okay, ich sehe jetzt erstmal nach Lewis“ sagt sie und geht aus dem Büro. Nikolas greift nach dem Smartphone. Fiebrig fühlend schaut er auf das Display und auf die Nachricht, die dort für ihn in pulsierenden Lettern steht:

„Gestehe öffentlich was du getan hast – und zwar noch vor Anbeginn der neuen Woche. Ich werde stufenweise damit anfangen dich dazu zu ermutigen, dich zu bekennen. Was Stufe 1 ist, wirst du erfahren, wenn du nicht in spätestens 3 Stunden den Social Media Account „H€l€n_02“ auf deinem Social Media Account hinzufügst.“

„Da war sie. Die erneute Bestätigung. Es geht also tatsächlich um Helen.“

Weiter steht da:

„Und das meine ich sehr ernst. So ernst, wie du es in deinem Beruf als Kriminaltechniker und der damit verbundenen Aufklärung von Morddelikten meinst.“

„Er weiß also, wer ich bin.“

„Hast du an die Brötchen gedacht?“ fragt Piper aus Lewis Zimmer heraus. Mist, die verdammten Brötchen.

„Oh, die habe ich total vergessen! Weißt du was, ich fahre gleich noch einmal los und hole eben welche.“ sagte Nikolas, der gleichzeitig schon einen Plan schmiedete.

Das mit meinem Job hast du schon richtig erkannt. Daher solltest du eigentlich auch wissen, dass an jedem Gegenstand Restspuren von Fingerabdrücken oder DNA geben kann, die dich überführen können.“

Ein erster Hoffnungsschimmer, doch noch glimpflich aus der Sache rauszukommen macht sich in ihm breit.

Dennoch steht aber eines fest:

Der Kampf gegen die Vergangenheit hat begonnen.

 

3.

An diesem Tag schon zum zweiten Mal im Büro angekommen,

hält er auch schon die Teststreifen in der Hand, mit denen er nun Proben vom unterschiedlichen Stellen des Smartphones entnimmt.

„Also für den wahrscheinlichen Fall, dass Du mit großer Sicherheit schon einmal etwas angestellt hast, finde ich in den nächsten 24 Stunden heraus, wer du genau bist und kann dich ausfindig machen…“

Um aber keinen Verdacht bei seinem noch unbekannten Cyber-Erpresser aufkommen zu lassen und um seinen Regeln Folge zu leisten, muss Nikolas sich wohl oder Übel vorerst auf das Spiel einlassen.

ERINNERUNG –  Kriminaltechnik-Blog Live-Schaltung

Q&A:Berufsvoraussetzungen – Heute, 18:00 Uhr

auch das noch“. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, online über sein Berufsbild aufzuklären und bietet deswegen wöchentlich eine Live-Schaltung über seinen Social Media Account an. Das Format zu einem eher nicht so gängigen Thema im Gegensatz zu Fitness-Tipps und Bio-Produkte sämtlicher Art, findet erstaunlicherweise Anklang und so hat Nikolas mehrere Tausend Zuschauer in seinen Live-Schaltungen über seinen Social Media Account.

Nikolas kommt der ersten Bedingung nach und tippt „H€l€n_02“ in das Suchfeld, und klickt auf „folgen“.

Prompt wird die Anfrage von dem Account ohne Profilbild bestätigt und mit einer Nachricht quittiert:

„Willkommen am Anfang vom Ende“ steht in der Nachricht. Nikolas erhält eine zweite Nachricht und wird auf einem Bild markiert:

Ort: „Palmenhotel“ – mit dem Zusatz: Nikolas S. war hier: 2002.

Was an und für sich genommen erst einmal nicht schlimm wäre, hätte es sich hierbei damals um einen ganz normalen Hotelbesuch gehandelt. Die Verlinkung erscheint sofort öffentlich in seinem Profil und so wird auch Piper diese Verlinkung relativ schnell sehen.

Piper, die Fragen haben wird. Fragen, auf die er ihr aktuell keine Antworten geben kann. Sein Gesicht brennt, so als hätte er eben nicht nur eine rein digitale Ohrfeige abbekommen. „Er hat mich reingelegt. Was will dieser Gestörte genau von mir?“

 

4.

In Gedanken ist er wieder im Hotelzimmer. Zurück in 2002. Zurück bei ihr. Helen. In seinen Augen so schön, aber auch so mysteriös. Nikolas hat sie nach einer durchzechten Partynacht in einem Fast Food Restaurant kennengelernt.

Er war gerade 18, sie 19. Beide waren mit Freunden unterwegs. Nikolas wollte gerade die Toilette aufsuchen und Helen kam ihm entgegen. Er starrte sie mit staunenden Augen und offenem Mund an und irgendwie mussten beide darüber lachen. Die Verbindung war schnell hergestellt. Er hat sich sofort in sie verguckt. Für beide ging die ganz private Party dann noch weiter, denn beide entschieden sich von der Gruppe abzusetzen und sich im nahe gelegenen Hotel, dem Palmenhotel, ein Zimmer zu nehmen. Einem Hotel nahe am Hauptbahnhof in einer sehr wilden Gegend, in dem beide eine gemeinsame, wilde Nacht hatten.

Am nächsten Morgen hatte sie dann noch das Foto von ihm gemacht, ehe er aus dem Hotzelzimmer verschwunden ist.

„World Cup 2002“

„Damit ich mich an dich erinnern kann“ sagte sie. Sie war sehr stolz darauf, eines der neuesten Handies mit Kamerafunktion zu haben. Sie hatte es damals von ihrem Ex-Freund geschenkt bekommen. Was, so hatte es Nikolas damals verstanden, eine seiner wenigen netten Gesten gewesen ist. Er war nämlich alles andere als nett, denn er hat sie sitzen lassen, nachdem er sie vorher geschwängert hat. Mit genau diesem Handy schießt sie damals das Foto, mit dem sein Erpresser ihn nun 18 Jahre später konfrontiert.

„Gestehe öffentlich was du getan hast.“

Er hatte nie wirklich erfahren, wie es an dem sehr frühen Morgen nach ihrer Nacht für Helen weiter gegangen ist. Er hat nach dieser Nacht nie wieder etwas von ihr gehört. Von ihr, der schönen, mysteriösen Helen. Nikolas musste sich damals rasch und abrupt auf den Heimweg machen, da seine Eltern sich schon bei ihm gemeldet hatten und er schon langsam in arge Erklärungsnot kam. Er machte sich also sehr früh morgens auf den Weg.

Was ja per Fotoprotokoll belegt wurde und ihm heute, 18 Jahre später, erneut vorliegt. Er hat mit der Zeit die Gedanken an sie verdrängt. Was ihn damals nicht wenig Kraft kostete. Heute muss er sich wieder erinnern, weil da draußen ein Irrer ist, der ihn unter Druck setzt.

Mit seinen Gedanken wieder zurück in der Realität, öffnet er die Internetsuche. Er hätte nicht gedacht, dass er noch einmal seine Vergangenheit aufwühlt und tippt mit berstendem Herzen folgende Suchbegriffe ein:

„Palmenhotel“, „Hauptbahnhof“, „2002“

Nach kurzer Suche findet er folgenden Eintrag:

19 jähriges Mädchen nähe Palmenhotel tot aufgefunden

„Am frühen Sonntag morgen ist gegen 5 Uhr ein Notruf eingegangen. Eine Frau ist beraubt worden und hat den Raub nicht überlebt. Passanten berichteten, dass er in der Nacht schon gegen 4 Uhr morgens zu lauten schreien kam, man aber nicht Eingriff, da dieser Geräuschpegel „für diese Ecke“ normal sei…“

Er vergleicht den Veröffentlichungstermin des Artikels mit dem Datum des Fotos auf seinem neuen, ihm zugesteckten Smartphone und ihm wird übel. Das, was er anscheinend schon so lange verdrängt hat und nicht wahr haben wollte, steht nun schwarz auf weiß da auf seinem Monitor.

Und mein Erpresser gibt mir die Schuld dafür.“

Sein Flashback endet abrupt als er bemerkt, dass sein normales Handy vibriert. Piper ruft ihn an.

Nun braucht er eine rasche Erklärung für die Dinge, die gerade über ihm zusammenfallen.

 

5.

„Schatz, kannst du mir bitte erklären wer H€l€n_02 ist und was um alles in der Welt dieser Post zu bedeuten hat? Gibt es da etwas, dass ich noch nicht weiß?“

„Ich weiß es selbst noch nicht genau.“

„Wir haben gesagt, dass wir keine Geheimnisse haben wollen in unserer Beziehung.“

„Ja Schatz“ mehr konnte er gar nicht sagen, da gab es schon die nächste Fragensalve von Piper. “Wo bist du denn jetzt?“ Schuss und Treffer. „Nochmal im Büro, ich…“ „Du wolltest doch nur Brötchen holen!“ Piper schrie ihn so durch das Telefon an, dass er dachte, sie stünde direkt neben ihm, oder sei noch direkter bei ihm, eine Stimme direkt aus seinem Kopf. Etwas ruhiger stellt sie die Frage erneut “Warum verdammt schreibt hier jemand, dass du vor 18 Jahren dort gewesen sein sollst?“

„Piper, bitte beruhige dich etwas. Du weißt, dass ich mit meinem Krimialtechnik-Blog in der Öffentlichkeit stehe. Da kann ich schlecht steuern, was andere über mich posten!“

Nikolas hofft, dass dies die Situation etwas beruhigt.

Denn die ganze Wahrheit, oder eine Wahrheit, die sich als solche entpuppt, kann ihn Kopf und Kragen kosten.

„Kläre das bitte auf und wenn wir uns heute Abend sehen, will ich mit dir noch einmal darüber sprechen!

Ich gehe jetzt erstmal mit Lewis spazieren.“ Sie legt auf ohne sich zu verabschieden.

Zumindest habe ich mir damit erst einmal weitere Stunden erkauft“ denkt sich Nikolas. „Stunden, in denen ich mir den Inhalt des Smartphones genauer anschauen werde.“

 

6. 

Bald wird er es verstehen. Wenn er denkt, dass diese lapidaren Posts auf seinem Social Media Kanal alles sind womit er zu rechnen hat, täuscht er sich gewaltig.

Das Messer in der Hand ist so fest umfasst, dass die Finger knacken und die Knochen drohen eins mit dem Knauf zu werden.

Das Messer, mit dem gestern Abend noch ein Name in eine Smartphonerückseite geritzt wurde, ist bald schon für ganz andere Einsatzgebiete bereit…

 

7.  

Immer noch im Büro nimmt Nikolas das Smartphone unter die Lupe und wird relativ schnell fündig. Die Nachricht die er findet ist nicht einmal 160 Zeichen lang:

„Nach dieser Nacht gehörst du ganz eindeutig zu mir!Ich will ohne dich nicht sein.Du sollst nicht ohne mich sein.Treffen? Dann schreib mir!“ 

Er hat darauf nie eine Antwort erhalten. Diese SMS hatte Nikolas ihr vor 18 Jahren geschrieben, nach der Nacht mit ihr, in der sie sich liebten. In der sie ihm sagte, das es keine einmalige Sache bleiben muss. Anscheinend hatte der Erpresser also Zugriff auf den gesamten Handyinhalt von Helen.

***ERINNERUNG – in 59 Minuten – Kriminaltechnik-Blog Live Schaltung***

Mit einem mehr als mulmigen Gefühl packt er seine Sachen.

Die Testergebnisse der Proben, die er vom Smartphone genommen hat, wird er erst morgen früh überprüfen können.

Er schwingt sich ins Auto. Eigentlich ist heute ein lauer Sommerabend, aber ihm ist unfassbar kalt. Ihm bleiben keine 24 Stunden. Das Ultimatum rückt immer näher.

 

8.

Aus dem Augenwinkel nimmt er das Aufhellen des Smartphone-Displays wahr und hätte dabei fast übersehen, dass er an der Ampel bremsen muss. Noch nie in seinem Leben hat er sich so ausgespielt gefühlt. „Ich freue mich schon auf Deine Live-Schaltung. Ich werde heute die ein oder andere spannende Frage an Dich haben, Nikolas!“

Zu Hause angekommen begibt er sich sofort in sein kleines Heimstudio, welches er für seine Live Schaltungen nutzt. Es ist jetzt 17:42 Uhr und in 18 Minuten beginnt der Blog. Noch ist er alleine zu Hause. Mit jeder Minute wächst es, das Gefühl, an dessen Stelle normalerweise Vorfreude herrscht. Er versucht sich einigermaßen ins Gedächtnis zu rufen, wie der rote Faden für die heutige Live-Schaltung aussehen soll. Im Handumdrehen ist es dann auch schon 17:59:59, 18:00:00, Zeit, um Live zu gehen.

„Hallo und herzlich willkommen“ sagt er in die Kamera. Neben ein paar andern netten Eröffnungsworten die an seine Zuschauer gerichtet sind, leitet er das heutige Thema ein.

„Ihr habt abgestimmt, was unser heutiges Thema sein soll und wir sprechen heute über die Grundvoraussetzungen, die man für den Job als Kriminaltechniker mitbringen sollte.“ Soweit verläuft im Live Stream alles nach Plan. Das unruhige Gefühl ist dennoch da. Und dann ist er da, der Grund für das Gefühl. „H€l€n_02“ nimmt teil.

Man stelle sich ein Kartenhaus vor, das fragil an einem sehr windigen Platz aufgebaut wurde. Nikolas sitzt da drin und das Kartenhaus fällt nicht nur einfach zusammen – nein, ein Hurricane bricht los. Das, was ab jetzt passiert, fühlt sich tatsächlich wie der Anfang vom Ende an. Oder Stufe 2, wie „H€l€n_02“ es nannte und folgenden Text mehrfach in den Chat der Live Schalte einfügt:

NIKOLAS DU MÖRDER MEINER MUTTER, DIE DU BEHANDELT HAST WIE EIN BILLIGES FLITTCHEN, DIE DU IN EIN HOTEL GELOCKT HAST, DIE DU MIR GENOMMEN HAST! Ich habe nur eine einzige Frage an Dich: WANN GESTEHST DU ENDLICH?!

Die Nachricht lässt ihm das Blut in seinen Adern gefrieren. Ebenso wie das Bild, das sein Erpresser veröffentlicht – Nikolas im Türrahmen eines Hotelzimmers und einen SMS Text, der ihm heute schon einmal begegnet ist:

„Nach dieser Nacht gehörst du ganz eindeutig zu mir!Ich will ohne dich nicht sein.Du sollst nicht ohne mich sein.Treffen? Dann schreib mir!“ 

Die Situation ist für Nikolas kaum auszuhalten. Empörung, Beschimpfungen, die sich im Chat der Live-Schaltung breit machen, die Fragen der Kollegen, die ihn konfrontieren.

Und sein Handy das klingelt. „Piper steht da in für ihn große leuchtenden Lettern auf dem Display. Alles bricht auf einmal auf ihn herunter. Er bricht die Live-Schaltung mit den folgenden Worten ab:

„Das ist alles ein großes Missverständnis…“ Er drückt auf beenden und weiß innerlich, dass er gerade auf „Start“ gedrückt hat. Und soeben erhält er auch die akustische Bestätigung für den Start in die nächste Runde. Piper hat soeben die Haustür geöffnet und sie ruft nach ihm.

 

9. 

Es handelt sich um ein Missverständnis, das ihn alles kosten kann. „Warum holt es mich ein. Warum jetzt. Warum nicht schon Jahre zuvor?“

„Was um alles in der Welt steht da bitte im Netz über dich?“ Piper steht mit dem Kinderwagen im Türrahmen und macht den Eindruck, als wolle sie nicht wirklich lange bleiben.

„Schatz, ich kann es mir auch nicht ganz erklären. Es geht um meine Vergangenheit und irgendwie scheine ich da jemanden verärgert zu haben!“.

„Verärgert? Verärgert!? Wie kannst du das lapidar darstellen und mich damit abfertigen wollen. Was will „H€l€n_02“ von dir?“ „Mich zu etwas zwingen, dem ich nur schwer nachkommen kann. Ich soll etwas gestehen, dass ich nicht getan habe!“ „Nikolas, das reicht mir aber nicht als Antwort. Du bist anscheinend doch nicht ehrlich zu mir gewesen was deine Vergangenheit betrifft. Und du weißt, dass ich mit Lügen nicht umgehen kann! Ich werde mit Lewis für heute Nacht zu meinen Eltern fahren.“ „Nein, mach das Bitte nicht Piper, ich brauche dich hier an meiner Seite. Da ist ein Irrer da draußen und der will, dass ich etwas öffentlich gestehe, das ich einfach nicht getan habe!“ „Das ist mir egal!“ schreit sie. „Da passieren komische Dinge um dich herum und nur du kannst das lösen. Und eines sage ich dir – du hast hinterher besser eine sehr gute Erklärung für die Details, die du mir anscheinend doch aus der Vergangenheit verschwiegen hast!“„Piper, ich…“ Er kommt gar nicht mehr dazu auch nur einen weitern Satz zu sagen. Piper schlägt die Tür hinter sich zu. Und ist weg.

Die Frage die sich ihm stellt ist, ob dieser Status tatsächlich nur für eine Nacht anhalten wird. Verdient hätte er es, so fühlt es sich zumindest an.

Fix und fertig legt er sich im Wohnzimmer auf die Couch und versucht einen klaren Gedanken zu fassen. Was nicht einfach ist, da das Gedankenkarussell nicht aufhören will sich zu drehen.

 

10. 

Als er wieder die Augen öffnet und auf sein Handydisplay schaut, sieht er neben den unzähligen Nachrichten die aus seiner Social Media Community eingegangen sind auch die Uhrzeit – 7:28h – am nächsten Tag.

„Dieser Tag wird Klarheit bringen“ denkt er sich. „Der Tag wird aber auch in jedem Fall Leid bringen, die Frage ist nur, für wen.“ Die letzten Stunden haben eine dunkle Vorahnung in ihm aufkeimen lassen. „Kann es wirklich sein, dass…?“ Die Ergebnisse der Tests im Labor werden diese Frage hoffentlich klären. 

Ungeduscht und ohne Frühstück eilt er zum Auto, um sich auf den Weg ins Büro zu machen. Dort angekommen spurtet er an den PC im Labor, um die Ergebnisse zu prüfen.

Die Fingerabdrücke haben tatsächlich einen eindeutigen Treffer ergeben. Die Ungewissheit, die er seit dem Fund des Smartphones in seinem Magen spürte, löst sich so säuerlich in seinem Magen auf, dass er sich fast übergeben muss. Sein Erpresser ist kein „Er“, sondern eine „Sie“.

Philippe E., so steht es da auf dem Bildschirm und es ist tatsächlich kein Zufall, wer diese Person ist.

Wessen Tochter diese Person ist, denn laut Polizeibericht heißt die Mutter Helen E. Und ist im Jahr 2002 in Folge von Gewalteinwirkung bei einem Überfall verstorben.

Helen muss mir in der Nacht noch aus dem Hotel gefolgt sein, anders macht es gar keinen Sinn…“ Nikolas schafft es noch eine Antwort an seine Erpresserin zu schreiben, bevor er sich quer über den Tisch übergibt und zu spät den Mülleimer in die Hände bekommt:

Philippe, lass es bitte gut sein, ich kann dir alles in Ruhe erklären. Das mit deiner Mutter, das war nicht meine Schuld – ich konnte nichts dafür!“ Er drückt auf „senden“ und löst damit die nächste Stufe der Kettenreaktion aus.

 

11.

„Genau das wollte ich. Dass du es selbst erkennst. Die Spuren am Smartphone sollten dich zu mir führen! Zu mir und zu dieser Situation in der du erkennst, was du angerichtet hast! Erkennst, wem du es verdammt nochmal angetan hast! Nun wird es Zeit für die nächste, finale Stufe…“ lautet die Antwort.

Das Smartphone-Display leuchtet erneut auf und zeigt

Standort wurde geteilt an – und Nikolas glaubt seinen Augen kaum, denn im Display steht seine Adresse.

Philippe ist also bei uns zu Hause…“

„Wegen dir ist meine Mutter gestorben und nun werde ich dafür sorgen, dass auch du nichts mehr zu verlieren hast.“ lautet die letzte Nachricht. Nikolas, der kaum noch einen klaren Gedanken fassen kann, stürzt aus dem Büro in sein Auto und fährt so schnell wie nur irgend möglich nach Hause.

„Geh ran, Piper!“ doch sie geht nicht an ihr Handy. Die fieberhafte Angst darüber, dass ihm eine Irre alles nimmt – und das alles wegen eines Missverständnisses – lässt vor lauter Pochen fast seinen Kopf explodieren. Er denkt nur noch in einzelnen Aktionen. Von der Autobahn abfahren, direkt rechts abbiegen, nach 500m links halten, dann trifft er zu Hause ein. Das Zuhause, das bereits in Flammen steht.

Pipers Auto steht in der Einfahrt, was der Beweis dafür ist, dass sie wieder nach Hause gekommen ist. Ein schwacher Trost am Rande, denn der vorherrschende Gedanke lautet:

“Ich muss Lewis und sie unbedingt da raus holen!!!”

Er stürmt ins Haus mit nur noch diesem einen klaren Gedanken in seinem Kopf:

“Bitte lass mir dieses Missverständnis nicht alles nehmen!”

Durch die Haustür kommend und instinktiv die Treppen hoch in Lewis Schlafzimmer rennend und nur mit seinem Handy in der Hand, bereit um parallel Rettungskräfte zu kontaktieren, sieht er sie. Sie, Philippe. Nicht mit einem Handy in der Hand, sondern mit einem Messer an Pipers Kehle.

 

12.

„Leg‘ das Handy weg, sonst mache ich sofort kurzen Prozess!“  schreit Philippe. Piper, geknebelt und gefesselt sieht  Nikolas panisch in die Augen.

„Philippe, bitte beruhige dich und lass uns in Ruhe sprechen! Ich kann nichts dafür, dass…“

„Doch das kannst du und nur du!“ schreit Philippe ihn an.

„Ich habe dazu doch die Beweise in ihrem alten Handy gefunden. Das Bild, die SMS, deine Handynummer die du nicht geändert hast, einfach alles! Du weißt nicht, was ich durchmachen musste! Im Heim, in den Pflegefamilien! Nie zu wissen, wozu man gehört. Wer man ist. Welche Identität man inne hat! Du kannst dir nicht vorstellen was in mir passiert ist, als sich der Nachlassverwalter dann mit den alten Sachen von Mama an mich gewendet hat und ich ihr altes Handy wieder in Gang bekommen habe. Sie ist nur da gewesen, weil du sie dahin gelockt hast!“ Philippe weint bitterlich, lässt die Hand mit dem Messer an Pipers Hals aber keinen Millimeter sinken. „So ist es aber nicht gewesen! Wir waren damals freiwillig dort. Sie ist überfallen worden und hat den Raub leider nicht überlebt. Als passierte war ich aber schon nicht mehr bei ihr! Ich habe damit nichts zu tun und dennoch tut es mir auch heute nach 18 Jahren, endlich mit der Gewissheit darüber was mit Helen geschehen ist, unsagbar leid!“ Weinend richtet sich Nikolas auf. „Lass bitte Piper und meinen Sohn aus dem Spiel!“. „Bleib da stehen, Nikolas!“. Es wird immer heißer, Flammen lodern und werden immer größer. Der Rauch wird intensiver und steigt auf, so dass die Feuermelder anspringen. Philippe ist vom dem schrillen Geräusch einen kurzen Moment lang abgelenkt. Nikolas, blind vor Angst sucht die Flucht nach vorne und versucht Philippe genau in diesem Moment zu entwaffnen. Er packt sie und schafft es sie von Piper wegzudrehen. Beide fallen dabei unglücklich. Er hat es geschafft. Das Messer befindet sich nicht mehr in Philippes Hand. Und nicht mehr an Pipers Kehle.

Es steckt im Bauch von Nikolas und ihm wird schwarz vor Augen.

 

13. 

Es ist wieder 2002 und Nikolas befindet sich im Hotelzimmer Palmenhotel. Neben ihm liegt Helen. Er scheint wohl für einen kurzen Moment weggetreten zu sein. Wie sooft, wenn seine lebhafte Fantasie mit ihm durchgeht. „Man, war das heftig!“ denkt er sich. Er ist schweißgebadet und sein Herz rast und die Panik lässt nur langsam nach. Die Rauschwirkung der durchzechten Nacht lässt bei ihm langsam nach. “Das kann ich hier auf keinen Fall durchziehen”. Nikolas entschließt sich, nicht mit Helen zu schlafen. Das, was sich daraus für seine Zukunft ergeben könnte, birgt viel zu viele Risiken. Er gibt ihr zu verstehen, dass er diese Affäre mit ihr nicht eingehen will und verlässt das Hotel. Er dreht sich nicht mehr um. Blickt nicht mehr zurück. Deswegen sieht er sie auch auf nicht, wie sie kurz nachdem er das Hotel verlassen hat auf einige Distanz hinter ihm her eilt. Mitten in der Nacht, in einer Gegend, in der man nachts lieber nicht alleine herumlaufen sollte. Die zu Überfällen einlädt. Und so wird nun doch zu einer Nacht, in der eine Mutter stirbt. Warum hat er nur so große Schmerzen in seiner Bauchgegend?

-ENDE-

One thought on “DIE UNSCHULD

  1. Alles in Allem eine spannende Kurzgeschichte, die auch alle wesentlichen Parameter berücksichtigt und Spaß macht zu lesen. Hat auf jeden Fall ein Like verdient 🙂

    Trotzdem aber noch ein paar Hinweise. Du solltest den Text nochmal selber laut vorlesen, weil da doch noch einige Fehler drinnen sind, die aber schnell ausgemerzt werden können:

    Zum Beispiel: …gleich direkt Post direkt mit reinnehmen kann…

    Oder: …gleich der ganze Schreibtisch gleich zusammenbrechen…

    Solche Dopplungen fallen dir beim lauten Vorlesen auf.
    Außerdem springst du immer mal wieder von der Gegenwartsform in die Vergangenheitsform und zurück. Auch das lässt sich leicht korrigieren 😉

    Wenn du Lust hast, schau da auch mal in meine Story rein und lass mir ein Like da. Würde mich freuen 🙂
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/das-fremde-handy

Schreibe einen Kommentar