NickyTDie Vergangenheit

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Sandra saß am Küchentisch. Sie starrte auf das Handy, das vor ihr lag. Das Display war dunkel und sie konnte ihr Spiegelbild darin sehen. Langsam, fast wie in Zeitlupe, streckte sie ihren Zeigefinger aus und ließ ihn über dem Einschaltknopf des Handys schweben. Doch dann hielt sie inne, zog ihn zurück und verknotete die Hände wieder in ihrem Schoß. Sie hatte genug gesehen, das musste sie sich nicht noch einmal antun. „Denk nach“, sagte sie laut, obwohl niemand außer ihr im Raum war, „Es muss doch eine logische Erklärung dafür geben!“ Sie drückte ihre Hände weiter zusammen, sodass sie schmerzten. Abrupt stand sie auf. Sie würde die ganze Sache einfach ignorieren. Es war ja auch eigentlich gar nichts passiert. Wenn sie das Handy in die nächste öffentliche Mülltonne werfen würde, oder besser noch, in die Spree, dann könnte sie das alles vergessen und so tun, als wäre nichts passiert. Eine leise Stimme in ihr lachte über sie und sie wusste, dass sie recht hatte. Sie konnte nicht einfach ignorieren, was heute passiert war. Und doch machte sie jetzt einen zaghaften Schritt Richtung Tür. Doch sie erstarrte in dem Moment, in dem sie sich bewegte, denn das Telefon auf dem Küchentisch fing an zu klingeln. Es war ein fröhlicher Klingelton und er passte überhaupt nicht zur Situation. Sie erkannte das Lied nicht direkt, aber es war ein älteres Lied von irgendeinem Teenie-Popstar.

Sandra zögerte, ging dann aber zum Küchentisch, fuhr mit dem Daumen über das Display, um das Gespräch entgegenzunehmen und hielt sich das Telefon ans Ohr. Sie sagte nichts.
„Hallo Sandra“, sagte eine freundliche weibliche Stimme, „Wie schön, dass du gleich rangehst.“ Nach ein paar Sekunden Stille fuhr die Stimme fort: „Du sagst ja gar nichts. War das heute nicht eine schöne Überraschung?“ Sandra schluckte trocken. „Wer bist du?“, brachte sie mit viel Anstrengung über die Lippen. Die Stimme am anderen Ende der Leitung lachte laut auf. Es war kein aufgesetztes Lachen. Doch dann änderte sie sich schlagartig und war nur noch ein kaum hörbares Flüstern: „Das wirst du sehr bald erfahren, meine Liebe. Pass besser gut auf dich auf. Wie du siehst, beobachte ich dich und ich bin ganz nah bei dir.“ Damit war das Gespräch beendet. Sandra sah ihr Spiegelbild erneut auf dem dunklen Display. Der schwarze Spiegel offenbarte, dass sie eine Spur blasser geworden war. Vorsichtig, als könne es zerbrechen, legte sie das Handy wieder auf den Küchentisch. Diesmal verließ sie mit drei großen Schritten die Küche.

Als sie vor ihrer Haustür stand, atmete sie einmal tief ein und ging eilig los. Sie hatte kein Ziel, Hauptsache weg von zu Hause, weg vom Küchentisch, weg vom Handy.

Als Sandra an einem abgelegenen Spielplatz endlich ihren Schritt verlangsamte, setzte sie sich auf eine Bank mit Blick auf das große Klettergerüst, aber nicht ohne sich vorher zu vergewissern, dass sie nicht beobachtet wurde. Doch sie war allein. Vorsichtig zog sie ihr eigenes Handy aus der Hosentasche, doch sie schob es schnell wieder zurück. Sie sah sich noch einmal um, sie war noch immer allein. Es war kein sonnenreicher Tag, die dicken Wolken türmten sich am Himmel und es sah schon den ganzen Tag nach Regen aus. Es war kein Tag, an dem sich Mütter mit ihren Kindern mit anderen Müttern und deren Kindern auf dem Spielplatz treffen. Also saß sie hier mutterseelenallein und dachte darüber nach, wieso sie jetzt hier war.

Sie war heute Morgen eigentlich ziemlich gut gelaunt aufgewacht, war voller Zuversicht, dass es ein schöner Tag werden könnte. Es war Samstag, sie musste nicht zur Arbeit und sie hatte sich vorgenommen, ein bisschen shoppen zu gehen. Normalerweise hasste sie es, sich neue Kleidung zu kaufen und sie machte dies ausschließlich über das Internet. Doch dann hatte sie sich überlegt, es noch einmal zu versuchen, so wie früher. Sie wollte in die Stadt gehen, in verschiedenen Läden ganz in Ruhe gucken, die Sachen berühren, anprobieren und dann kaufen, ohne sie wieder zurückschicken zu müssen, wenn sie nicht passten. Sie wollte in eine Buchhandlung gehen, durch die Abteilungen schlendern und sich ein neues Buch aussuchen, das sie dann abends lesen wollte, statt immer nur irgendwelche Serien anzugucken, bei denen sie schon längst die Handlung vergessen hatte, wenn die neue Staffel herauskam. Sie wollte sich wieder lebendig fühlen, raus aus dem Hamsterrad der immer gleich verlaufenden Wochen und Monate. Arbeiten, fernsehen, schlafen. Außerdem hatte sie sich auf einen richtig guten Kaffee in ihrem Lieblingscafé von früher gefreut. Und wenn sie Lust darauf hatte, würde sie sich auch ein Stück Kuchen gönnen. Das hatte sie lang nicht mehr getan. Das letzte Mal hatte sie es mit ihm getan.

Sie war nach dem Frühstück losgegangen. Die Innenstadt war zwar zu Fuß in einer halben Stunde zu erreichen, aber sie entschied sich für den Bus. An der Bushaltestelle war niemand und die Anzeigetafel zeigte an, dass der nächste Bus in 12 Minuten kommen würde. Sandra stand noch einen kurzen Moment an der Straße, bevor sie sich dafür entschied, sich hinzusetzen. Und auf der Sitzbank der Haltestelle lag es. Ein schwarzes iPhone. Sandra sah sich um, doch es war niemand zu sehen. Wahrscheinlich war der Besitzer im vorherigen Bus. Sie steckte das Handy in ihre Handtasche, um es im Fundbüro oder bei der Polizei abzugeben. Ehrlich gesagt wusste sie gar nicht, was man in einem solchen Fall tatsächlich machen sollte. Gab es überhaupt noch Fundbüros? Sie würde später einfach googeln, was zu tun war. Jetzt freute sie sich erst mal auf ihre Shoppingtour.

Mittags saß sie im Café, trank einen Cappuccino und aß ein Stück Käsekuchen dazu. Neben ihr standen drei volle Tüten aus verschiedenen Geschäften, in denen mehr als nur ein paar Blusen waren. Sie spürte seit Langem wieder so etwas wie Glück. Die letzten Monate waren nicht einfach gewesen und so gut sie die Dinge, die passiert waren, ignorieren konnte, so hart und erbarmungslos kamen sie doch von Zeit zu Zeit wie ein Bumerang wieder zu ihr zurück. Dann half nur, sich wieder in die Arbeit zu stürzen und sich abends, wenn sie spät wieder zu Hause war, zu betäuben. Meistens war es eine Mischung aus Fernsehen und Alkohol, die ihr dabei half. Sie garantierte ihr zwar nicht immer, dass sie friedlich einschlafen konnte, aber für den Notfall hatte sie Schlaftabletten in ihrem Nachttisch. Alles war besser, als auf den Bumerang zu warten.

Aber heute war es anders. Sie musste nicht weglaufen, sich nicht mit Arbeit oder Alkohol oder sonst etwas betäuben, um zu vergessen. Es war ein richtig schöner Tag, den sie genießen konnte, so wie früher, bevor die Sache passiert war. Vielleicht war jetzt dieser Punkt gekommen, an dem es weitergehen konnte. Die Zeit hatte die Wunde langsam heilen lassen und nun konnte sie wieder anfangen, ein normales Leben zu leben. Zumindest halbwegs. Denn die Sache konnte nicht ungeschehen gemacht werden und die Erinnerung konnte sie nicht einfach löschen. Es war aber ein sehr großer Fortschritt, dass sie hier im Café saß und einfach etwas genießen konnte. Nachdem sie bezahlt hatte, machte sie noch schnell einen Abstecher in die Buchhandlung an der Ecke. So langsam wollte sie nach Hause, deswegen suchte sie sich ein Buch aus, dessen Cover sie ansprechend fand, ohne den Klappentext zu lesen. Sie bezahlte es schnell und ging zur Bushaltestelle.

Und als sie zu Hause ankam, ging die ganze schreckliche Geschichte los. Sie legte ihre Tüten auf die Stühle vom Küchentisch und ihre Handtasche auf den Tisch. Seufzend setzte Sandra sich auf einen der Stühle und zog das Buch aus der Tasche. Das Cover zierte eine große rote Blüte und der Hintergrund war blau. Es waren die Farben, die sie so angesprochen hatten, aber sie versprach sich nicht viel davon. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um eine schnulzige Liebesgeschichte, die sie nicht ertragen konnte. Sie fühlte sich plötzlich einsam und legte das Buch schnell beiseite. Dann kramte sie weiter in der Tasche, um ihr Handy herauszuholen und ihr fiel das iPhone ein. Es war ganz unten in der Tasche. Sie könnte ja versuchen, es anzuschalten. Vielleicht fand sie ja einen Hinweis auf den Besitzer.

Sie drückte auf den großen runden Knopf und das Display wurde hell. Sandra erstarrte. Sie hätte alles erwartet, nur nicht das, was sie jetzt sah. Sie sah ein Bild von sich selbst, wie sie die Straße entlanglief, in der sie wohnte. Die Straße, in der sie jetzt gerade in ihrer Wohnung saß. Das Foto war morgens aufgenommen worden, sie war auf dem Weg zur Arbeit und ging gerade zu ihrem Auto. Den Autoschlüssel hielt sie schon in der Hand, obwohl der Wagen noch ein gutes Stück entfernt war. Sandra starrte noch ein paar Sekunden auf das Bild, dann wurde das Display schwarz.

Und jetzt saß sie hier auf dem Spielplatz und wusste nicht, wie es ihr gehen sollte und was sie denken sollte. Wer war die Frau, die sie angerufen hatte? Sie konnte sich nicht daran erinnern, die Stimme schon einmal gehört zu haben. Vor allem fragte sie sich, was das Ganze sollte. Wer beobachtete sie? Wer fotografierte sie heimlich? Was wollte sie? Oder was wollten sie?

Ihr wurde in diesem Moment bewusst, dass sie keine wirklichen Freunde hatte. Und zu ihrer Familie hatte sie auch keinen Kontakt mehr. Ihr fiel niemand ein, bei dem sie sich jetzt melden konnte. Keine beste Freundin, nicht mal eine gute, kein Partner. Ein plötzlicher Schmerz übermannte sie. Er fehlte ihr.

Abrupt stand sie auf. Ihr war gerade etwas klar geworden. Sie hatte schon einiges durchgemacht und was jetzt kommen würde, würde sie auch meistern können. Sie konnte nicht einfach weglaufen, sondern musste sich der Sache stellen. Sie hatte ein mulmiges Gefühl, als sie die Haustür ihrer Wohnung aufschloss. Das Telefon lag genauso auf dem Küchentisch, wie sie es hatte liegenlassen. Sie drückte auf den Einschaltknopf, um zu sehen, ob sich die Frau noch einmal gemeldet hatte. Doch es war nur das Hintergrundbild zu sehen. Ihr Bild. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass das Telefon nicht mit einer PIN gesperrt war. Langsam, als handele es sich um etwas Hochexplosives, durchsuchte sie das Handy nach weiteren Hinweisen. Im Telefonbuch war kein einziger Kontakt gespeichert und es gab nur noch einen einzigen Ordner mit Inhalt: den Foto-Ordner. Sie tippte vorsichtig darauf. Irgendwie war sie darauf vorbereitet gewesen und irgendwie auch nicht. Der Ordner beinhaltete ausschließlich Bilder von ihr. Wie sie morgens aus dem Haus zum Auto ging, wie sie abends nach Hause kam, wie sie im Supermarkt einkaufte, wie sie joggte. Sandra schluckte. Sie wurde beobachtet, seit Wochen oder sogar bereits Monaten, denn es waren unzählige Fotos von ihr zu sehen. Sie sah auf. Wahrscheinlich wurde sie in ihrer Wohnung genau jetzt in diesem Moment beobachtet. Sofort stand sie auf und zog alle Gardinen zu, auch die der Zimmer, die zum Hinterhof zeigten. In der Küche schenkte sie sich erst mal ein Glas Rotwein ein und trank einen großen Schluck. Was sollte sie jetzt tun? Zur Polizei gehen? Kurz musste sie sogar auflachen, weil sie jetzt zumindest das Problem nicht mehr hatte, jemandem sein verlorenes Handy zurückbringen zu müssen.

Was, wenn … dachte sie. In diesem Moment klingelte das Telefon erneut. Diesmal ging Sandra sofort ran, sagte jedoch wieder nichts. „Hallo Sandra, ich bins“, sagte die Stimme freundlich. „Hast du ein bisschen nachgedacht?“
„Ich …“, fing Sandra mit fester Stimme an, „werde die Polizei rufen.“
Die Stimme lachte kurz, wurde aber sofort wieder ernst.
 „Tu das lieber nicht. Du wirst es sonst ganz sicher bereuen. Und was willst du denen überhaupt sagen? Dass du ein Handy gefunden hast?“ Die Stimme wurde drohend. „Ich beobachte dich.“
„Was willst du?“, Sandra wurde jetzt ein klein wenig lauter, „was hast du vor? “
„Das wirst du schon sehr bald sehen. Sehr bald.“ Die Frau legte auf und ließ Sandra wieder mit sich allein zurück.

Nur wenige Minuten klingelte es an der Wohnungstür. Ganz langsam, das Handy noch in der Hand, ging Sandra zur Tür. Sie öffnete sie nur einen Spalt. Draußen stand Lisa. Sandra atmete hörbar ein. „Hallo Sandra“, begrüßte sie die andere Frau, „darf ich reinkommen?“
„Was willst du hier?“, fragte Sandra, sie öffnete die Tür keinen Spalt mehr.
„Also nicht. Das ist schade. Dabei haben wir doch so viel zu besprechen. Haben dir die Fotos gefallen?“
„Verschwinde einfach“, fauchte Sandra, „ich habe dir nichts zu sagen.
„Gut. Aber ich komme wieder. Wir müssen uns wirklich dringend unterhalten.“ Lisa zwinkerte ihr zu und drehte sich um.
Mit klopfendem Herzen schloss Sandra die Tür. Die Vergangenheit hatte gerade vor ihrer Tür gestanden.

Irgendwann gegen 3 Uhr morgens ging Sandra schlafen. Als sie am nächsten Morgen wach wurde, ließ sie sich viel Zeit in der Dusche. In der Küche trank sie zwei Tassen Kaffee im Stehen. Sie war tief in Gedanken versunken. Sie blickte zu den Vorhängen. Sie öffnete sie und sah auf die Straße. In der Nacht hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie schnappte sich ihre Handtasche und verließ die Wohnung.

„Hallo Sandra“, sagte eine Stimme hinter ihr. Sandra, die gerade die Tür hinter sich schloss, hielt in der Bewegung inne.
 „Lisa“, sagte Sandra leise.
„Ganz genau. So schnell sieht man sich wieder. Wie geht es dir? Ich dachte, wenn du mich nicht reinlässt, komme ich trotzdem mal vorbei.“ Lisa grinste breit.
 „Was willst du hier?“, fragte Sandra. Lisa lächelte sie mit finsteren Augen an.
„Das mit Frederick …. Das …ich verstehe, dass du deswegen noch sauer bist, aber“, Sandra hielt mitten im Satz inne. Erst jetzt sah sie das Messer in Lisas Hand. Lisa lächelte, als sie Sandras entsetzten Blick sah. „Ich habe lange überlegt, ob das nötig ist.“ Sie hob die Hand mit der Waffe. Unwillkürlich wich Sandra einen Schritt zurück. Sie spürte die Klinke der Haustür im Rücken. „Aber dann dachte ich, es kann sicherlich nicht schaden.“
„Lisa, hör zu, wir können über alles reden. Sollen wir uns setzen?“
Lisa lachte. „Und vielleicht noch einen Kaffee trinken? Nein, danke, Sandra, ich verzichte darauf. Du bist der allerletzte Mensch, mit dem ich mich zusammensetzen und nett plaudern will.“
„Was …“
„Was ich dann will? Ich will Antworten von dir.“
Sandra schwieg. Lisa schien zufrieden zu sein. Sie hob das Messer noch ein Stück höher.
„Na dann kann es ja losgehen. Wo ist Frederick?“
„Lisa“, begann Sandra, „Ich verstehe, dass du sauer auf mich bist. Immerhin habe ich dir deinen Mann weggenommen damals.“
Lisa lachte freudlos auf. „Nicht nur meinen Mann. Mein ganzes Leben. Und jetzt erzähl mir, was du getan hast.“
Sandra holte langsam Luft. „Ich verstehe deinen Groll auf mich. Das war echt blöd von mir. Aber vergiss nicht, dass ich nicht alleine dafür verantwortlich war. Frederick hat sich auch dafür entschieden. Für mich.“ fügte sie kaum hörbar hinzu.
Lisa zuckte kurz zusammen. „Du hast ihn mir weggenommen“, sagte sie leise und warnend.
„Ja, nein. Er wollte es doch auch. Er hat mir so oft gesagt, dass er dir gegenüber ein schlechtes Gewissen hat und dass er dich nicht verletzen wollte. Aber wir haben uns kennengelernt und er hat gemerkt, dass es da noch jemanden gibt, den er lieben kann. Ich denke, er hat sehr mit sich gekämpft und sich am Ende gegen dich und für mich entschieden. Das hätte aber auch andersherum laufen können!“
In Lisas Augen sammelten sich Tränen und sie merkte nicht, dass Sandra einen winzigen Schritt auf sie zuging. Im Moment standen sie noch gut vier Meter voneinander entfernt.
„Du blöde Kuh“, schrie Lisa plötzlich, „das alles will ich gar nicht wissen. Ich will wissen, wo er jetzt ist.“
„Ich verstehe nicht, was du meinst. Er hat mich auch verlassen und dann habe ich nie wieder von ihm gehört. Das weißt du doch. Du hast doch auch mit der Polizei gesprochen. Er ist sehr wahrscheinlich einfach untergetaucht.“
 „Das glaube ich dir aber nicht! Du weißt ganz genau, was mit ihm passiert ist. Und ich wette, du hast irgendwas damit zu tun.“ Lisas Stimme zitterte und auch ihre Hand war nicht mehr ruhig.
„Lisa“, begann Sandra, „ich habe wirklich keine Ahnung, was du meinst. Ich verstehe, dass du sauer bist, wirklich. Und vielleicht verstehst du auch nicht, warum Frederick nicht wieder zu dir zurückgekehrt ist. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er jetzt irgendwo mit einer anderen Frau in einem schönen Haus sitzt und seine Kinder im Garten spielen. Mir gefällt der Gedanke auch nicht, aber ich muss es akzeptieren. Und du auch.“ Während Sandra sprach, ging sie Millimeter um Millimeter auf Lisa zu. „Du lügst“, fauchte Lisa. Sie hob die Hand mit dem Messer ein Stück weiter an, „sag mir jetzt, was du weißt. Ich habe dich wochenlang beobachtet, um herauszufinden, was passiert ist. Ich wollte etwas herausfinden, aber du lebst dein Leben, als wäre nie etwas passiert. Aber  ich weiß einfach, dass du irgendetwas mit seinem Verschwinden zu tun hast, ich weiß es einfach!“  Sie schluchzte laut auf.
„Lisa, bitte, ich kann es nur wiederholen: Frederick hat mich nach zwei Jahren verlassen. Er hat Schluss gemacht, seine Sachen gepackt und mich allein in unserer gemeinsamen Wohnung zurückgelassen. Ich habe es auch nicht glauben können, vor allem, weil er mir keine Erklärung gegeben hat. Aber dann habe ich angefangen, es zu akzeptieren.“ Auch Sandras Augen füllten sich mit Tränen. „Ich habe ihn doch geliebt“, flüsterte sie, „genau wie du. Und es hat mich zerrissen, dass er mich verlassen hat. Und er ist einfach gegangen und ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. Ich habe wochenlang geheult, ich wollte ihn anrufen, aber er hatte seine Nummer gewechselt. Und dann habe ich irgendwann angefangen zu akzeptieren, dass er keinen Kontakt mehr zu mir haben wollte. Ich hätte ihm so gerne noch so viele Dinge gesagt. Aber er wollte sie nicht hören. Und er hat das alles sehr clever gemacht, ich meine, nicht mal die Polizei konnte ihn finden. So sehr hasste er mich wohl, dass er so etwas getan hat. Er ist untergetaucht und hat mich mit tausend Fragen zurückgelassen!“ Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken von der Wange. „Ich vermisse ihn, genau wie du. Ich kann dich verstehen. Dass du einen Schuldigen suchst, weil du nicht glauben willst, dass er einfach weggegangen ist. Aber ich habe nichts damit zu tun, denn ich stecke in derselben Situation wie du. Du hast mich beobachtet, Lisa. Da war nichts, ganz einfach, weil es nichts zu entdecken gibt! Bitte, Lisa, glaub mir. Und bitte, tu das Messer weg.“
Lisa schwieg und sah ihr in die Augen. Wahrscheinlich wollte sie herauszufinden, ob sie ihr trauen konnte. Ganz langsam senkte sie das Messer.
 „Ich kann das nicht glauben. Er ist doch nicht so. Er geht nicht einfach weg und keiner weiß wohin. Nicht mal seine Eltern wissen, wo er steckt. Ich bin mir sicher, ihm ist etwas zugestoßen! Und eigentlich bin ich mir auch ziemlich sicher, dass du damit zu tun hast.“ Die Hand mit dem Messer wanderte wieder nach oben.
„Lisa, ich bitte dich.“ Sandra wich wieder ein Stück zurück. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Wenn sie sie jetzt nicht überzeugen konnte, würde Lisa sie möglicherweise angreifen. Sie war einfach zu aufgewühlt. Oder war Lisa gar nicht dazu imstande? Sandra kannte sie nicht gut, sie hatte sie nur einmal kurz gesehen, aber noch nie mit ihr gesprochen. Frederick hatte zwar ein bisschen von ihr erzählt, aber natürlich nicht allzu viel. Sandra wollte damals nicht viel über ihre Vorgängerin erfahren. Und jetzt fuchtelte diese mit einem Messer vor ihr herum. Sandra musste sie beruhigen. Vielleicht schaffte sie es sogar, die Waffe an sich zu nehmen. Sie musste nur abwägen, wie Lisa reagieren würde. Noch konnte sie es jedoch nicht genau einschätzen, aber sie wusste, dass sie bald eine Entscheidung treffen musste, denn ewig konnte sich dieses Szenario nicht mehr hinziehen.
 „Ich habe nichts mit seinem Verschwinden zu tun. Außer, dass ich vielleicht schuld bin, dass er weggegangen ist. Wahrscheinlich hat er mich einfach nicht mehr geliebt.“
Nach langem Zögern erwiderte Lisa: „Mich auch nicht. Aber das ist nicht unsere Schuld.“ Es klang fast schon versöhnlich. Sie ließ den Arm wieder sinken. Dann fuhr sie nachdenklich fort:
„Es sind nicht immer die Frauen, die die Bösen sind. Und selbst wenn der Mann einen nicht mehr liebt, ist man nicht automatisch schuld.“ Lisa wirkte aufrichtig traurig und sah auf den Boden.

Sandras Gelegenheit war gekommen. Blitzschnell griff sie unter ihren Pulli und holte die Waffe hervor. Lisa blickte erstaunt auf.
„Woher“, brachte sie hervor.
„Du bist nicht die einzige mit einer Waffe, Liebes“, grinste Sandra, „und jetzt leg dein Messer schön langsam auf den Boden.“ Lisa bewegte sich nicht.
„Mach schon“, rief Sandra ungeduldig. Lisa gehorchte und legte das Messer langsam auf den Boden.
„Na geht doch. Danke.“ Sandra nickte zufrieden.
„Aber … wieso …“, stammelte Lisa.
 „Woher ich wusste, dass ich eine brauche? Ach Liebes, du glaubst doch nicht wirklich, dass es Zufall ist, dass du hier stehst.“ Sandra lächelte. „Das war alles geplant. Seit ich die Fotos auf dem Handy gesehen habe, weiß ich, dass du mich suchst. Du hast schon damals, als Frederick verschwunden ist, deutlich gemacht, dass du glaubst, ich stecke hinter seinem Verschwinden. Ich erinnere mich noch genau an deine Nachrichten. Du hast geschrieben, dass du nie aufgeben wirst und du unbedingt herausfinden musst, was mit ihm passiert ist. Und dass du mir nicht traust. Ich wusste, irgendwann tauchst du bei mir auf.“ Sandra grinste. „Glaubst du wirklich, ich habe vergessen, meine Haustür abzuschließen? Ich wusste, du würdest die Chance nutzen. Ich muss sagen, ich habe die ganze Nacht überlegt, was ich mit dir anstellen soll, seit du gestern vor meiner Tür standest.  Mit dem Messer habe ich ehrlicherweise nicht gerechnet.“
Lisa starrte sie ungläubig an. „Ich verrate dir jetzt etwas: Frederick hat damals, wirklich schon nach kürzester Zeit, angefangen, anderen Frauen hinterherzugucken. Er dachte, ich merke es nicht, aber mir war klar, dass er mich früher oder später für eine andere verlassen wird. Du weißt ja, wie das läuft.“
Lisa räusperte sich. „Was hast du getan?“ Ihre Stimme war heiser.
„Du weißt, was ich getan habe. Lisa. Du bist die Einzige, die mir die Geschichte damals nicht geglaubt hat. Ich wusste, du kommst irgendwann wieder. Ja, Frederick ist tot. Ich habe ihn umgebracht. Er hatte es nicht anders verdient.“
„Ich wusste es“, schrie Lisa, „du verdammte Schlampe, du Mörderin!“ In blinder Wut stürmte sie in Sandras Richtung. Obwohl Sandra nicht damit gerechnet hatte, war sie geistesgegenwärtig genug, um ihr mit der Pistole hart auf den Kopf zu schlagen.

Am nächsten Morgen warf Sandra das Handy, das sie gefunden hatte und das Messer von Lisa in die Spree. Sie stand noch eine Weile auf der Brücke und sah auf das Wasser, bis sie nach Hause ging und heute ausnahmsweise nicht arbeiten, sondern ein Buch lesen würde. Die Vergangenheit war nun endlich komplett abgeschlossen. Irgendwie fühlte sie sich richtig gut.

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