gjoppDie Wiederkehr

 

Die Tage sind kurz im November. Schon um 16 Uhr fängt es an zu dämmern. Rieke beeilte sich deshalb, packte schnell die Hundeleine ein und fuhr gleich nach dem Mittagessen mit Bobby, ihrem flauschigen Neufundländer, los. Ihr Ziel war der Strand. Menschenleer war es jetzt dort, wo sich im Sommer die vielen Urlauber tummeln. Die dort ihre Ruhe haben wollen, während ihre Kinder Sandburgen bauen. Hunde stören diese Familien-Ferien-Idylle. „Halten Sie gefälligst den Köter fest!“ – war Rieke schon oft schroff angefahren worden von besorgten Müttern und Vätern, deren Sprößlingen Bobby zu nahe gekommen war. Nun aber waren keine Touristen mehr da und Bobby durfte nach Herzenslust rennen, toben und die Gegend erschnüffeln. Jeden Tag spülte die Flut neues Strandgut an, das er immer neugierig inspizierte.

Rieke zupfte den Schal zurecht, den sie um die Mütze ihres Parkas gewickelt hatte. Hier direkt am Strand fühlte sich der frische Ostwind noch viel kälter an, als er ohnehin schon war. Der Frost kroch auch in ihre Gummistiefel, obwohl sie schon zwei paar dicke Strümpfe übereinander angezogen hatte. Weil ihr kalt war, trat sie von einem Bein aufs andere, während sie hinaus aufs gegenüberliegende Ufer schaute. Die Elbe erreichte an dieser Stelle in einem breiten Trichter die Nordsee und die Grenze zwischen Fluss und Meer war so verschwommen wie das Brackwasser, das hier entlang schwappte.

Gegenüber, auf der weit entfernten anderen Seite der Elbmündung, nahm Rieke einen bedrohlich dunklen Wolkenberg wahr, doch nicht lange konzentrierte sie sich auf diese Wetterkapriolen. Denn wo war Bobby geblieben? Eben noch hatte er eine Schar Austernfischer vor sich her getrieben und war übermütig weiter ins Watt gerast, nachdem die Vögel mit einem steilen Abflug Reißaus genommen hatten.

Rieke schaute sich um, fand ihren Hund aber nirgends. „Bobby!“ rief sie ihn streng, doch nichts rührte sich. „Ich kann mir denken, wo er ist“, sagte sie laut und ging vom Ufersaum landeinwärts zu den Buschreihen, die den Sand- vom Grünstrand trennen. „Bobby!“ rief sie wieder und diesmal hörte die schwarze Fellnase auf sie. Bobby kam angehechelt, drehte sich aber wieder um, noch bevor Rieke ihn am Halsband festhalten konnte, und verschwand im Dickicht der Büsche. „Was hast Du da?“, fragte Rieke ihren Hund, als sie ihn in einer kleinen Lichtung zwischen Dünenrosen hockend wiedergefunden hatte.

Rieke hob das Ding auf, das Bobby vor seine Pfoten gelegt hatte: Es war ein Handy. Sie schaltete mit ihren klammen Fingern das Gerät ein. „Es funktioniert“, sagte sie laut, obwohl niemand sie hören konnte. Also konnte es noch nicht lange dort gelegen haben. Der Treibselsaum der Sturmflut der letzten Nacht lag jedenfalls mehr als fünf Meter weiter Richtung landeinwärts. Ein kalte Dusche durch das Elbwasser hätte das Smartphone wohl nicht überlebt, überlegte sie.

Rieke nahm Bobby an die Leine und stopfte das Handy in die Tasche ihres Parkas. Der dunkle Wolkenberg hatte sich inzwischen rasend schnell über die Elbe bis zu dem kleinen Sandstrand vorgearbeitet. Und mit ihm kam urplötzlich Seenebel auf. Vielen Wattwanderern war eine solche dicke Brühe schon zum Verhängnis geworden: Sie konnten wegen der dunstigen Schwaden die Hand kaum vor den Augen erkennen und wussten am Ende nicht mehr, in welcher Richtung sich das rettende Ufer befand.

Rieke hatte mit Bobby das Weite gesucht, war so schnell wie möglich zum Parkplatz gelaufen, wo ihr Auto stand. Als Bobby in seiner Transportbox verstaut war, setzte Rieke sich ans Steuer und stellte als erstes die Sitzheizung ein. Noch bevor sie losfuhr zückte sie das fremde Handy aus der Tasche und stöberte darin herum. Schon oft hatte sie mitbekommen, wie Besitzer gefundener Handys über die Fotos ausfindig gemacht wurden, die auf dem Gerät gespeichert waren, nachdem man sie im Internet gezeigt hatte. Deshalb durchsuchte sie die Bildergalerie. Aufnahmen vom Strand fand sie, von Austernfischern, Möwen und anderen Wattenmeervögeln. Doch plötzlich erschrak Rieke: Ein Selfie, aufgenommen erst gestern, zeigte sie selbst! Verstört startete sie ihren SUV und fuhr an. Reflexartig steuerte sie ihr Auto die Straßen entlang, die sie täglich auf dem Weg nach Hause befuhr. Dabei verlor sich die Welt um sie herum in einem unwirklichen Schleier. Rieke versuchte krampfhaft, einen klaren Gedanken zu fassen. „Wie konnte das sein?“, fragte sie. „Nein, das darf nicht sein!“, korrigierte sie sich.

Zuhause angekommen setzte Rieke sich an den Küchentisch und atmete tief durch. Vielleicht hätte sie das Handy unterwegs einfach irgendwo in einen Mülleimer schmeißen sollen. Doch hätte sie damit auch die Probleme entsorgt, die jetzt auf sie zurollen würden?

Rieke versuchte sich zusammenzureißen und schaute sich die Bilder noch einmal genau an. Das Selfie zeigte ihr hübsches Gesicht und ihre blonden Locken. Was fehlte, das waren die goldenen Strähnchen, die sie sich letzte Woche hat machen lassen. Ihre geliebten Ohrringe waren ebenso wenig zu sehen, wie der große Eiterpickel, mit dem sie sich seit mehreren Tagen schon herumgeschlagen hat. Rieke sammelte immer mehr Beweise dafür, dass das Foto in Wirklichkeit nicht sie selbst zeigte, obwohl es so aussehen sollte. Stattdessen war es Meike, ihre Zwillingsschwester. „Was will sie von mir?“, entfuhr es Rieke ebenso empört wie verängstigt. „Spioniert sie mir etwa nach oder stalkt sie mich?“.

Verzweifelt tippte Rieke die Nummer von Leo in ihr eigenes Handy. „Hallo Rieke, wie schön von dir zu hören“, sagte er. „Leo, bitte komm´ zu mir“, flehte Rieke in an. Leo regierte augenblicklich: „Ich fahre sofort los!“

Noch bevor es an der Tür klingelte, kündigte Bobby mit seinem lauten Bellen den Besuch an. Rieke ließ Leo herein, der sich wie immer am Kopfende des massiven Küchentischs hinsetzte. Wortlos zeigte Rieke ihm das Bild auf dem fremden Handy. „Das bist ja du“, sagte Leo verwirrt.

„Nein, aber die Frau auf dem Selfie sieht genauso aus wie ich“, versuchte Rieke das Unerklärliche zu erläutern.

„Willst Du mir nicht endlich erzählen, was mit Dir los ist“, forderte Leo. Rieke zuckte mit den Schultern. „Was soll schon los sein?“ Doch jetzt blieb Leo hartnäckig. Seit Jahren schon ahnte er, dass irgendetwas Rieke bedrückte. „Rede mit mir!“, ließ er nicht mehr locker.

Rieke blieb keine Wahl mehr, sie musste ihr Versteckspiel aufgeben. Sie wurde bleich im Gesicht, hatte einen Knoten im Hals und ihr war schwindelig.

„Leo, ich habe eine Zwillingsschwester“, entfuhr es ihr endlich. Dabei schaute sie selbst viel erschrockener aus als Leo. „Das ist doch aber wunderbar“, fiel ihm darauf im ersten Moment ein. „Ja, eigentlich schon“, sagte Rieke und versuchte ein Lächeln. „Sie heißt übrigens Meike“.

Rieke hielt sich an ihrer Teetasse fest und blickte verloren auf den Küchentisch, den sie so liebte. Er war ein Erbstück ihrer Großmutter.

„Meike und ich waren früher ein tolles Team, wir sahen uns zum Verwechseln ähnlich und haben immer alles gemeinsam gemacht, fast alles“, fing sie nach einer langen Pause an zu erzählen. „Doch dann passierte der Unfall“, schluchzte sie.

Leo hatte Mühe zu verstehen, was er da hörte. Vor 25 Jahren schon hatte er Rieke kennengelernt. Niemals zuvor war von einer Schwester die Rede gewesen und schon gar nicht von einer Zwillingsschwester, die genauso aussah, wie Rieke.

„Wir waren Wattlaufen“, sagte Rieke trocken. Sie selbst habe wie immer Schaufel und Eimer mitgenommen, um den Wattboden zu untersuchen. „Du olle Fossiliensammlerin“ habe Meike gefeixt, habe sie alleine buddeln lassen und sei zur Wasserkante gelaufen, um die Kitesufer zu beobachten, die waghalsig über das Wasser glitten.

„Wir sind zusammen zurück zum Strand gelaufen“, erzählte Rieke weiter von damals. Meike habe unterwegs Pirouetten im Watt gedreht und andere Ballett-Posen geübt. „Die Leute haben richtig neugierig geguckt, wie Meike so auf einem Bein stand und das andere perfekt mit gestrecktem Knie nach hinten hob“. „Und Du?“, fragte Leo. „Ich habe meinen Eimer voll mit Muscheln und anderen Fundstücken getragen“.

„Und dann?“, wollte Leo endlich wissen, wie es weitergegangen war. „Meike hat Zuhause ihren Koffer gepackt. Sie war eingeladen zum Vortanzen beim Bundesjugendballett. Alle hofften, dass sie die Aufnahme schaffen würde. Ich habe währenddessen meinen Eimer inspiziert und inmitten des matschigen Inhalts zwischen den Muscheln einen Bernstein entdeckt“.

„Hast Du denn selbst nicht Ballett getanzt?“, fragte Leo. „Doch, doch, anfangs schon. Aber Meike wurde immer ehrgeiziger, hat geübt und geübt und wurde immer besser. Ich konnte da einfach nicht mithalten“, seufzte Rieke. „Alle haben immer nur nach Meike gefragt und gestaunt, wie sie sich so grazil bewegen konnte und so“.

„Du hast also richtig in ihrem Schatten gestanden“, befand Leo. „Warst Du traurig darüber?“

„Heute weiß ich, dass es mich damals mehr gequält hat, als ich zugegeben habe. Meine Begeisterung für Edelsteine und Fossilien hat jedenfalls niemanden interessiert.“

„Was war denn nun mit dem Bernstein?“, wollte Leo wissen.

„Ach ja, der Bernstein“. Rieke wickelte eine ihrer blonden Strähnen um den Zeigefinger, so wie sie es immer tat, wenn sie ratlos war. „Den Bernstein habe ich aus dem Eimer genommen, getrocknet und Meike als Glücksbringer heimlich in die linke Hosentasche gestopft“.

„Danach haben wir uns verabschiedet, ich habe ihr alles Gute gewünscht und sie ist in das Taxi gestiegen, mit dem sie zum Bahnhof fahren wollte“.

Leo hörte geduldig zu, konnte aber bis hierhin beim besten Willen kein Problem erkennen. „War doch alles ganz normal, oder?“, meinte er.

„Aber beim Bahnhof ist Meike nie angekommen. Während der Fahrt hatte es plötzlich im Taxi angefangen zu brennen und Meike wurde dabei schwer am Bein verletzt, sie wurde mit Verbrennungen dritten Grades in eine Spezialklinik geflogen, wo sie monatelang behandelt wurde.“

„Wie kann denn so was passieren?“, fragte Leo. „Erst hieß es, der Taxifahrer hätte wohl Benzin oder brennbare Flüssigkeiten leichtfertig transportiert, später aber wurden Spuren von Phosphor gefunden“.

„Es war der Bernstein“. Rieke liefen die Tränen über die Wangen und schaute wie erstarrt auf die Wand. „Der Bernstein war in Wirklichkeit gar kein Bernstein, sondern sah nur so aus. Der goldbraune Klumpen war eine gefährliche und hochgiftige Chemikalie und stammte aus Munitionsresten, die im zweiten Weltkrieg über der Nordsee abgeworfen wurden“.

„Und die hat das Taxi in Brand gesetzt?“ Leo war jetzt ganz erschüttert. „Aber das konntest Du doch nicht wissen. Das war ein Versehen!“ bildete er sich ein.

„Ich bin danach weggezogen. Ich konnte es nicht ertragen. Ich habe Meike seitdem nicht mehr gesehen“, sagte Rieke.

Plötzlich fing Bobby an zu bellen, kurz danach klingelte es an der Tür.

Rieke wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht und öffnete. Vor ihr stand zu ihrem Entsetzen Meike. „Ich habe Dich gefunden“, sagte sie garstig. „Du hast es gewusst!“, richtete sie über Meike. „Schau dir an, was du angestellt hast!“, befahl sie und humpelte an Rieke vorbei ins Haus.

Rieke stand noch eine gefühlte Ewigkeit einfach so da, hielt sich am Türgriff fest und rang nach Fassung. Es schnürte ihr den Hals zu und sie glaubte, dass ihr Nervenkostüm nicht gemacht war für Situationen wie diese. Die Gedanken rasten durch ihren Kopf, aber fanden nirgends Halt.

Auf einmal stand Leo neben ihr. Zusammen gingen sie in die Küche, wo Meike bereits auf sie wartete. „Was willst Du von mir?“, fauchte Rieke ihre Schwester an.

Leo versuchte die ganze Zeit, ruhig zu bleiben. Fast ein Vierteljahrhundert waren er und Rieke ein Paar gewesen. Beide hatten zwar ihre eigenen Wohnungen behalten und lebten ganz bewusst ihre Freiräume aus. Doch die Beziehung war immer innig und sehr vertraut gewesen. In diesem Moment aber glaubte er, Rieke nie wirklich gekannt zu haben.

„Hast Du Dir mein Handy angesehen?“, fragte Meike schnippisch. „Schau doch noch einmal genau nach!“ „Wozu denn, ich habe genug gesehen“, antwortete Rieke bestimmt. „Das hast Du nicht! Ich könnte Dir noch so viel zeigen, mein verbranntes linkes Bein zum Beispiel…“

„Hör auf, ich will das nicht hören“, schrie Rieke. „Verschwinde aus meinem Haus und aus meinem Leben“, jammerte sie.

„Ich war immer da und ich werde dich auch in Zukunft nicht loslassen“, sagte Meike cool. Rieke wurde jetzt richtig wütend. „Ach ja?“, ätzte sie. „Was willst du denn mit meinem Leben zu tun haben? Das ist meine Welt und mein Zuhause. Du kannst hier nicht einbrechen und alles kaputt machen“.

„Rieke, Riekelein, was bist du bloß naiv“, triumphierte Meike. Sie nahm ihr Handy in die Hand, wischte darauf ein paar Mal hin und her und hielt es Meike vor das Gesicht. „Schau mal das Video“. Meike sah nur zwei junge Mädchen in dem Film, den Meike gestartet hatte. Zwei Mädels, die fröhlich kichernd in die Kamera schauten. „Ja und? Was soll das?“

„Das sind Jule und Marie, die Töchter, die du nie haben wolltest“.

Rieke verstand nicht, was Meike damit sagen wollte. Klar, sie wollte niemals Nachwuchs, ebenso wenig wie Leo. Aber was hatte Meike damit zu tun?

„Ich wollte immer schon Kinder haben, das weißt Du“, sagte Meike auf einmal ganz gelassen. „So entstellt, wie ich aber war, hat mich bloß kein Mann mehr angesehen. Das war anfangs richtig schlimm für mich. Kannst du dir das vorstellen?“

„Ja, schon.“

„Ja, schon“, äffte Meike ihre Schwester nach. „Ich will dir mal was sagen, liebe Rieke. Die Lösung war ganz einfach“.

„Ach so?“

„Ich war schon einmal hier vor 20 Jahren. Damals habt ihr am Strand gefeiert und ich habe Euch beobachtet. Als du wattwandern warst, habe ich mich zu Leo ins Zelt gelegt. Der war so betrunken, der hat den Unterschied gar nicht bemerkt“, erzählte Meike und musste dabei lachen. „Ich bin dann schnell verschwunden, bevor du wieder zurück gekommen bist“.

Rieke stand fassungslos vor ihrer Schwester und sagte gar nichts mehr.

„Das war ein Volltreffer!“ Meike sprühte jetzt geradezu vor Stolz. “Dabei herausgekommen sind sogar Zwillinge, nämlich Jule und Marie, die Kinder, die ihr nie haben wolltet. Wir drei sind übrigens die glücklichste Familie auf der ganzen Welt“.

„Ich bin nur hergekommen, um dir das zu sagen“, tönte Meike und hob zufrieden den Zeigefinger. Dann stand sie auf und ging.

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