LisaDDie Zentrale

Die Zentrale

 

Die Panikattacke kam schnell, heftig und ohne Gnade. Sie rollte über Nadja hinweg und brachte den Flashback mit sich. Plötzlich war sie wieder zehn Jahre alt. Ein kleines Mädchen, das Angst hatte. Ein kleines Mädchen dem kalt war und das zu seiner Mama wollte. Mit rauer Stimme rief sie nach ihrer Familie. Obwohl jeder Laut in ihrer trockenen Kehle schmerzte, rief sie immer wieder verzweifelt die vertrauten Namen, die für ein Kind für Sicherheit und Geborgenheit standen.

Der Mann den sie nur den Doktor nannte kam in ihr kleines Zimmer und starrte sie durch seine Brille so lange an bis sie zu ihm an die Tür trat. Der untere Teil seines Gesichtes war von einem Mundschutz bedeckt. Er trug immer einen weißen Arztkittel und sprach niemals.

Nadja, die damals noch Fanni war, folgte ihm stolpernd durch den langen Gang. Alles war steril weiß. Die Wände, die die kalten Bodenfließen, ja selbst das Licht aus den alten Lichtröhren an der Decke. Manchmal flackerten sie schwach, was die endlosen Flure für das kleine Mädchen nur noch bedrohlicher wirken ließ. Sie kannte den Ablauf bis ins kleinste Detail und dennoch sah sie sich verzweifelt um. Sie hoffte jeden Tag auf einen Ausweg, auf Rettung oder eine Erklärung für das was hier geschah. Doch ihre Hoffnungen erfüllten sich nicht und ihre Gebete wurden nicht erhört. Ihre Hilferufe verliefen und ebbten irgendwo in tiefes Schweigen ab. Irgendwo in diesen endlosen, weißen, sterilen Gängen. Niemand kam um sie zu retten. Niemals. Der Doktor führte sie zu einer der vier Türen, am Ende des Flurs. Die Räume sahen alle gleich aus. Eine Metallliege mit Lederriemen für Fuß- und Handgelenke stand in der Mitte des Zimmers. Jede Menge elektrischer Messgeräte und Computer von denen Sonden und Elektroden wegführten befanden sich an den Wänden und neben der Liege stand ein kleiner Tisch auf dem sich Spritzen und Injektionsbeutel mit verschieden Seren befanden. Die Räume waren von durchdringenden Piepstönen erfüllt und die Schärfe von Desinfektionsmittel, die in der Luft lag vermischte sich mit einem metallischen Geruch. Die Berührungen vom Doktor waren routiniert, grob und kalt. Ohne das kleinste Anzeichen von menschlicher Wärme oder Anteilnahme fesselte er sie an die Liege. Die eisige Kälte durchdrang ihren dünnen Kittel und kroch ihr bis tief in die Knochen. Der Mann suchte ihre von Blutergüssen und Einstichen übersäten Arme nach einer geeigneten Stelle ab und setzte ihr einen Venenweg, durch den er ihr eine seltsame, blau schimmernde Flüssigkeit injizierte. Dann befestigte er die Elektroden, deren lange Kabel in der Wand hinter dem Computer verschwanden, an ihrem kahlgeschorenen Kopf und ging ohne ein Wort aus dem Raum, verließ sie. Obwohl der Doktor ihr Angst einjagte und sie nicht gut behandelte, wollte sie nicht dass er wegging. Was erwartete sie?

Sie alle hatten sie verlassen. Sie war vollkommen alleine.

Ein schriller Ton kündigte die Tortur an. Das Mittel floss in ihren Körper und eine monotone Computerstimme stellte unaufhörlich Fragen. Das Kind antwortete. Dann kam der Schmerz. Das kleine Mädchen wand sich in ihren Fesseln, bis diese sich tief in ihr Fleisch gruben und ihr die kaum verheilte Haut erneut aufrissen. Die Narbengeschwulste zeugten davon, dass sie schon viel zu lange hier war, wo immer hier auch sein mochte. Der Schmerz in ihrem Kopf schwoll an und sie schmeckte Blut. Schließlich wurde es dunkel um sie.

 

Nadja keuchte auf. Langsam wurden ihre Atemzüge tiefer und ihr Zittern ließ nach. Sie wusste nicht wie lange sie auf dem Boden gesessen hatte, bevor sie ihren wackeligen Knien so weit vertraute, dass sie sich an der Wand abstützte und sich daran hochzog. Als sie die Nässe in ihrem Schritt und der Innenseite ihrer Oberschenkel bemerkte, schluchzte sie gedemütigt auf. Langsam hantelte sie sich bis zu ihrem Badezimmer vor und setzte sich auf den Rand ihrer Badewanne. Während sie von sich selbst angeekelt die Jeans von ihren Beinen streifte, das nassgeschwitzte Oberteil von sich schleuderte und in die Wanne stieg, flossen ihr fortwährend stumme Tränen über die Wangen. Sie stellte den Strahl des Duschkopfes härter und ließ das heiße Wasser auf sich nieder prasseln. Wieder und wieder seifte sie sich ein, schrubbte ihre Haut bis sie rot wurde. Die ganze Zeit über weinte sie. Erst als sie die Kälte aus ihrem Körper vertrieben hatte, die Liege nicht mehr an ihrem Rücken spüren konnte und die Erinnerung an die Gerüche und Geräusche wieder verblasst war, drehte sie den Hahn zu und kuschelte sich in eines ihrer weichen Badetücher. Mit zitternder Hand wischte sie über den verschlagenen Spiegel, bis sie sich darin erkennen konnte. Er zeigte ihr das Grauen der Vergangenheit. Es schrie aus ihrem Blick, den großen Augen in dem nun viel zu blassen Gesicht. Ihre Lippen waren geschwollen. Vermutlich hatte sie sie während des Flashbacks blutig gebissen. Wütend wandte sie sich ab und stopfte ihre Kleidung in die Waschmaschine. Der Hass half ihr, die Angst abzuschütteln. Auch wenn ihr wahrscheinlich jeder Therapeut sagen würde, dass Selbsthass nicht besonders gesund war, so war das Gefühl doch besser als Erniedrigung und Scham. Bevor sie ins Bett ging nahm Nadja eine Schlaftablette. Sowohl ihre Gedanken als auch ihre Träume mussten heute schweigen. Sie brauchte Ruhe und ohne die Tabletten gewährte ihr außergewöhnliches Gehirn ihr diese nicht. Innerhalb von zehn Minuten glitt sie in einen ruhigen, tiefen, traumlosen Schlaf. Nur am Rande nahm ihr Bewusstsein die erholende Schwärze und Stille wahr.

 

Als sie am Tatort ankam, wusste sie bereits, dass dieser Tag kein guter werden würde. Eine Leiche auf einem Spielplatz, die Spurensicherung war bereits da und störte die Ruhe, die sie zum arbeiten brauchte und ihr Vorgesetzter hatte ihr heute Morgen am Telefon bereits die Hölle heiß gemacht weil er schon wieder eine Beschwerde bekommen hatte.

Keiner seiner Profiler machte ihm so viel Ärger wie sie.

Keiner seiner Profiler hatte eine so hohe Erfolgsrate wie sie.

Der Polizeichef mochte sich bei ihrem Vorgesetzten beschweren soviel er wollte, bisher hatte er noch keinen Laut über eine Kündigung oder eine Versetzung verlauten lassen. Nadja trat an die Tote heran. Der kühle Wind riss an ihrem Parker und ließ die bereits trockenen Blätter der Bäume rascheln. Tiefrot gefärbtes Laubwerk lag schon auf den Straßen.

»Hey Sherlock.« Ein junger Ermittler des Morddezernats versuchte diesen Spitznamen zu etablieren seit Nadja den ersten Fall hier gelöst hatte. Er war nicht sehr einfallsreich und blieb wahrscheinlich deshalb bei den anderen nicht hängen. Da der Tag für sie jedoch schlecht begonnen hatte, versuchte sie wenigstens seinen etwas aufzuheitern und lächelte Paul schwach an. »Morgen Kleiner.« Der Kleine konnte sein stolzes, aufgeregtes Grinsen kaum verbergen und schob sich seine Brille höher auf die Nase. Die Gerichtsmedizinerin trat an Nadja heran und gab ihr einen groben Überblick. Das junge weibliche Mordopfer war wahrscheinlich an den unzähligen Einstichen an ihrem Körper langsam verblutet. Augenlider und Zunge waren chirurgisch entfernt worden und lagen in ihrer linken Handfläche. Der Mörder hatte sie erst im ausgebluteten Zustand hier platziert und in Szene gesetzt. Das lange dunkelbraune Haar hatte er zu zwei Zöpfen geflochten.

Als einer der Ermittler die Leiche etwas zur Seite rollte erkannte man einen langen, tiefen Schnitt am seitlichen unteren Rücken. Als der Körper angehoben wurde, glitt ein kleines Handy heraus, wie aus einer Hauttasche. Neben Nadja ertönte ein leises Würgegeräusch. Paul, der Grünschnabel, war noch nicht lange im Einsatz und man konnte es ihm nicht verübeln, dass sein Gesicht blass wurde, doch er hatte sich schnell wieder gefasst. Nadja speicherte alles in ihrem Gedächtnis ab. Jede Kleinigkeit konnte von Bedeutung sein und sie schlussendlich zum Mörder führen.

Auf dem Handy waren zwei Fotos gespeichert. Ansonsten fand man nichts Brauchbares darauf. Es handelte sich um abfotografierte, ältere Schnappschüsse von zwei Mädchen. Verblichen und unscharf.

Als Nadja sie zu Gesicht bekam, blieb ihr Herz für den Bruchteil einer Sekunde stehen. Sie waren auf den Tag genau vor sechszehn Jahren geschossen worden und sie waren eine Botschaft an sie. Ungläubig starrte sie auf das kleine Gerät und versuchte ihre aufsteigende Panik zu verbergen. Nadja kämpfte gegen ihr wild schlagendes Herz und das Zittern ihre Hände an. Niemand sollte sehen, dass sie das Handy derart aus der Fassung brachte. Mit geschlossenen Augen konzentrierte sie sich darauf die Kontrolle zurück zu erhalten. Die Kontrolle über ihren Körper und ihren Verstand.

Es war unmöglich, dass jemand diese Fotografien auf dem Handy festhalten hatte können. Dessen war sie sich felsenfest sicher, denn Nadja wusste genau wo sich die Originale befanden und dass niemand Zugang zu ihnen hatte.

Doch wer kannte ihr Geheimnis? Und vor allem – Wie hatte er es heraus gefunden?

Während sie sich diese Fragen stellte, arbeitete ihr Gehirn bereits auf Hochtouren. Der Tag, das Mädchen, der Ort. Vor ihrem geistigen Auge setzten sich die Puzzleteile zusammen und ein Muster entstand. Sie musste ihre Theorie gar nicht mit den Bildern abgleichen, denn ihrem eidetischen Gedächtnis entging nicht einmal das kleinste Detail. »Paul?« »Hm?« Der junge Ermittler neben ihr starrte gebannt auf die Leiche, schien ihr aber zumindest einen kleinen Teil seiner Aufmerksamkeit zu schenken. Ein kleiner Teil war zu wenig und so schnippte sie einmal ungeduldig vor seiner Nase mit den Fingern. »Hör mal zu, Kleiner, entweder du bist anwesend und hilfst mir den Fall aufzuklären, oder ich lasse dich Berichte tippen und Fallakten sortieren.« Sie machte sich nicht einmal die Mühe ihn anzusehen, doch Nadja spürte, dass sich seine Körperhaltung anspannte und er sich ihr zuwandte. Als sie sich seiner vollen Aufmerksamkeit sicher war fuhr sie sich mit den Händen durch die praktische Kurzhaarfrisur.

Auch wenn Nadja es nicht gerne zugab, sie genoss die Zurschaustellung ihres überlegenen Scharfsinnes. »Wir müssen die Zwillingschwester finden.« Paul sog überrascht die Luft ein. »Zwillingsschw…?« Er hob beide Augenbrauen. »Wieso Zwillinge? Wir wissen nicht wer das Opfer ist, wie kommst du darauf sie wäre ein Zwilling?« Nadja sah ihn einfach nur stumm und abwartend an, bis Paul nervös wurde. »Ein Zwilling also…«, lenkte Paul ein. Sie nickte. »Natürlich. Wahrscheinlich wird sogar noch ein weiteres Zwillingspaar vermisst. Überprüf das!« Sie machte sich bereits auf den Weg zu ihrem Wagen, hielt dann aber doch inne. »Ruf mich an, sobald du was herausgefunden hast.« Mit dem Kopf nickte Nadja kurz zu der Spurensicherung. »Auch wenn sie etwas über die Tote in Erfahrung bringen.« Als sich die Profilerin sicher war, dass sie sich weit genug entfernt hatte, konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. Der schlaksige Paul war hochrot angelaufen, selbst seine Ohren hatten vor Stolz geglüht. Er war noch ein Grünschnabel aber sie erkannte sein Potential und würde es fördern. Er himmelte sie seit ihrem ersten Fall hier an und benahm sie wie ein kleiner Fanboy. Umso mehr freute es ihn nun, dass er mit Nadja arbeiten durfte.

 

Eine Stunde später atmete sie langezogen aus. Ob vor Erleichterung oder Frust konnte Nadja selbst nicht sagen. Die alten Fotos lagen vor ihr. Vergilbt und an den Rändern zum Teil verknittert und genau jene Originale die auf dem Handy zu sehen gewesen waren. Die einzigen Exemplare befanden sich hier. Gut weggesperrt und nur für sie zugänglich. Nadja hasste es, wenn sich ein Puzzleteil nicht sofort an seinen Platz bringen ließ. Außer ihr gab es nur eine Person, die von diesen Fotos noch wissen konnte. Eine Person die keine Ahnung davon hatte, dass sie wieder hier lebte, die nicht wusste wie sie nun hieß oder dass es die verfluchten Bilder noch gab. Eine Person, die nicht einmal wenn sie von alldem Bescheid wüsste, hierher kommen könnte. Zurück in ihrem Auto, schrie Nadja leise aber umso frustrierter auf und schlug mit der flachen Hand gegen das Lenkrad. Die junge Frau wusste genau was sie als nächstes tun sollte, doch bar jeder Logik würde sie es nicht machen. Nein. Die Vergangenheit war für sie tot und begraben und genau so sollte es bleiben. Irgendjemand da draußen rührte an ihrer Vergangenheit und zerrte sie tatsächlich in ihre Gegenwart. Doch sie würde den Teufel tun und diesem jemanden dabei auch noch helfen. Im Gegenteil. Sie würde diesen Abschaum finden und zum Schweigen bringen. Sie würde in ihrem neuen Leben – nein einfach nur in ihrem Leben, weiter machen und dem Monster, sowie ihrer Vergangenheit einen verdammten Arschtritt verpassen. Nadja atmete zehnmal tief durch, bisher hatte sie noch nicht erkannt, dass das tatsächlich half aber sie hatte es sich in Stresssituationen zur Gewohnheit gemacht. Als erstes galt es herauszufinden wer das erste Opfer war und ob es tatsächlich ein Zwilling war. Dann mussten sie die Schwester und die anderen beiden finden. Nadja grinste sich selbst finster durch den Rückspiegel zu. Oh er wusste nicht mit wem er sich angelegt hatte. Doch wenn er spielen wollte… Nur zu, denn sie gewann immer.

 

Gar nicht all zu weit entfernt, in genau diesem Moment, genau der gleichen Sekunde, hatte eine Person aus Nadjas Vergangenheit ein ganz ähnliches Grinsen auf den Lippen. Kälter und grausamer, ja, aber auf eine bizarre und erschreckend verzerrte Art doch irgendwie gleich.

 

Kaum bog die Profilerin auf den Parkplatz der Polizeistation, klingelte ihr Handy. Paul. Der Junge war schnell. »Ich bin schon da«, bellte sie knapp in den kleinen Apparat, bevor sie auflegte und die Autotür hinter sich zuknallte. Es war ihr zuwider über ein Telefon zu kommunizieren, wenn es in wenigen Minuten auch von Angesicht zu Angesicht ging.

»Du hattest Recht, Sherlock.«, begrüßte Paul sie, kaum dass sie an ihren Schreibtisch trat. »Olivia und Regina Dahl, beide neunzehn Jahre alt, wurden vor drei Tagen von den Eltern als vermisst gemeldet. Außerdem hat die Datenbankabgleichung auch ergeben, dass die Zwillinge Cora und Dani Paulsen vermisst werden. Gleiches Alter und Aussehen. Alle jungen Frauen ähneln mit den dunklen Haaren den kleinen Mädchen auf den Fotos. Allerdings sind diese erst ungefähr zehn Jahre alt.« Neun verbesserte sie in Gedanken. Sie wusste es. Der Tag, die Fotos, die Zwillinge… Wieder wehrte sie sich gegen den Gedanken, der in ihr aufkam. »Das erste Foto zeigt die Mädchen auf einem Spielplatz. Das erste Opfer wurde auf einem gefunden.«

Paul kniff die Augen zusammen. »Meinst du das zweite Opfer werden wir dann auf einem Vergnügungspark finden, das Motiv von dem zweiten Bild?«

Nadja zog ihre Unterlippe zwischen die Zähne und legte den Kopf auf die Seite. »Es gibt mehrere Möglichkeiten. Vielleicht finden wir die nächste Leiche auf einem Vergnügungspark und weitere Hinweise auf die nächsten Opfer. Oder das zweite Bild ist ein Hinweis auf den Aufenthaltsort der anderen Vermissten. Wir müssen uns die Fotografien noch mal genauer ansehen… und die Berichte von dem Fundort.« Paul eilte schon los, bevor sie den Satz beendet hatte. Nadja war froh darüber und nutzte das Alleinsein um ihre Gedanken zu sammeln und sich auf alles zu konzentrieren, was von Bedeutung sein könnte. Sie musste die anderen, hoffentlich noch lebenden Mädchen finden.

 

Viel später saß Nadja an ihrem Küchentisch und kaute konzentriert auf einem Fingernagel. Sie hatte die letzten Stunden über dem Fall gebrütet, doch egal wie sie es drehte und wendete, egal wie sehr sie sich sträubte, es lief immer auf dasselbe hinaus. Alles deutete auf die eine Parabel, die Nadja am liebsten aus der Gleichung genommen hätte. Es blieb ihr allerdings nichts übrig. Sie musste die Antworten bei der einen Person suchen, von der sich Nadja geschworen hatte sie nie wieder zu sehen. Morgen würde sie ihr erster Weg zu ihr führen. Mit dieser Entscheidung legte sich Nadja ins Bett und losch das Licht.

Mittlerweile ergab sie sich ihren Albträumen. Sie kamen jede Nacht und ließen sie wieder und wieder alles durchleben. Die Kälte, die Nadeln, die Schmerzen. Bis sie in die Ohnmacht glitt und alles um sie herum schwarz wurde. Am Rande ihres Bewusstseins schien etwas aufzuleuchten. Ein heller Streifen der ihr etwas zeigen wollte, doch sie ließ sich in die befreiende, schmerzfreie Dunkelheit gleiten.

 

Am nächsten Morgen folgte Nadja einer Frau durch eine Vielzahl von schmalen Fluren. Gänge die sie viel zu sehr an andere Gänge, an eine andere Klinik erinnerten. Doch sie schob die Angst und Verzweiflung die sie packen wollten zur Seite und konzentrierte sich auf die Fragen die sie wieder und wieder durchgegangen war, auf den Fall den sie lösen musste und die Leben die sie retten wollte. Als die junge Pflegerin vor einer Tür stehen blieb, nickte Nadja ihr nur dankend zu. »Sie hat in einer Stunde eine Therapiesitzung.« Ohne auf eine Erwiderung zu warten, ging die Frau davon. Nadja setzte an um zu klopfen, hielt aber inne und schloss die Augen. All die Emotionen schnürten ihr die Kehle zu und die Angst vor dem was sie auf der anderen Seite der Tür erwartete breitete sich in ihr aus und nahm ihr den Atem. Erst nach einigen Minuten hatte sich Nadja so weit unter Kontrolle, dass sie anklopfte und leise in den Raum trat.

Mit dem Rücken zu ihr saß sie an einem Tisch, drehte sich nicht um, rührte sich nicht. Sie wartete, wurde Nadja bewusst und trat langsam an die andere Seite des Tisches wo sich ein zweiter Kunststoffsessel befand auf dem sie Platz nahm.

»Fanni.«

Nadja blickte auf und sah in das Gesicht. In ihr eigenes Gesicht. Die Haut war aufgeschwemmt. Das dunkelbraune Haar lang und stumpf. Die Augen kalt und leer. Seelenlos. Und doch war es ihr Gesicht. Das Gesicht ihrer anderen Hälfte. Das Gesicht ihrer Zwillingsschwester. »Hallo Julia.« Nadja hatte Julia vor zwölf Jahren zum letzten Mal gesehen. Damals hatte sie die Klinik verlassen und Julia war in eines der Zimmer für dauerhafte Aufenthalte umgezogen. »Ich hätte dich früher erwartet. Liegt es daran, dass du nachlässt oder daran, dass du mich nicht sehen willst.« Nadja überspielte ihre Überraschung. Sie wusste, dass sie Julia niemals zeigen durfte, was in ihr vorging, dass sie ihr niemals die Überhand lassen durfte. Sie hatte gedacht Julia wäre ein Puzzleteil, eine der Spielfiguren. Doch sie war der Spielmacher, wurde ihr nun klar. Der Mund ihrer Zwillingsschwester verzog sich zu einem bösen Grinsen. »Dein Schweigen deutet auf Letzteres.« Nadja tat das einzige was ihr richtig erschien. Kalte Berechnung, kein Gefühl, Frontalangriff. »Wo sind die anderen drei und wen hast du dazu gebracht deinen perfiden Plan auszuführen?« Julia zog eine Augenbraue hoch. »Du schaffst es mich im Positiven zu überraschen, mich aber gleichzeitig zu fragen ob wir tatsächlich den gleich hohen IQ besitzen.« Ihre Stimme klang kalt und monoton. Obwohl Nadja wusste, was aus ihrer Schwester geworden war und dass es besser war, sie aus ihrem Leben zu streichen, schmerzten die Worte und die Kälte in der Stimme. Wortlos starrte sie ihr Ebenbild an und wartete. Sie durfte diesmal nicht nachgeben. Nach einer Minute ertönte etwas, das beinahe wie ein Kichern klang. Beinahe. »Du erinnerst dich nicht? Du weißt tatsächlich nicht was wir beide teilen.« Es war keine Frage. Obwohl man Nadja nichts ansah, war sie verunsichert. Spielte ihre Schwester mit ihr oder lag hinter diesen Worten tatsächlich eine tiefere Bedeutung? Nadjas Herz begann wild zu schlagen. Die Angst rang um die Oberhand und versuchte ihren Körper zu übernehmen. Doch Nadja ließ sich weiterhin nichts anmerken. In Julias Augen blitzte Überheblichkeit auf. »Ich mache dir einen Vorschlag: Ermittle weiter, erinnere dich und komm wieder wenn du bereit bist anzuerkennen wer du bist… Was wir sind.« Nadja schluckte. »Was meinst du mit erinnern? Woran soll ich mich erinnern?« Sie fragte nicht nach der Bedeutung, nach der Bezeichnung die ihr eine Gänsehaut bescherte. Was wir sind… Was… nicht wer. Julia begann zu lachen. Ein grausiger, schriller Ton. Doch sie hörte nicht auf, sie lachte so lange zynisch aber gleichzeitig auch hysterisch, bis eine Pflegerin kam und Nadja aus dem Zimmer führte. Nadja war so verstört von Julias Verhalten, dass sie sich widerstandslos bis vor die Klinik manövrieren ließ.

Sie saß beinahe eine Stunde am Klinikparkplatz in ihrem Wagen und ließ sich das Gespräch wieder und wieder durch ihren Kopf gehen. Ohne Ergebnis. Die Unterhaltung war der Profilerin ein Rätsel. Schließlich startete sie den Wagen und lenkte ihn langsam zur Ausfahrt. Je weiter sie sich von der Klinik entfernte, desto mehr konnte sie sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren.

Sie musste den Fall lösen. Es gab immer Indizien, Beweise, Ansätze. Man musste sie nur entdecken, finden und richtig in das Puzzle einfügen. Sie würde den, der das Mädchen getötet hatte finden, die anderen jungen Frauen befreien und den Mörder zur Rechenschaft ziehen.

 

Am Abend saß Julia in ihrem kleinen Zimmer der Psychiatrischen Klinik für besonders schwere Fälle, wie sie in Gedanken immer gerne hinzufügte. Fanni, oder Nadja wie sie sich heutzutage zu nennen pflegte, war tatsächlich gekommen. Julia hatte es natürlich gewusst, immerhin hatte sie alles so geplant und eingefädelt, dass ihre Schwester gar nicht anders konnte. Alles hatte zu ihr geführt, hierher. Nach all den Jahren waren sie sich endlich wieder gegenüber gestanden. Ihre Schwester hatte nach den Qualen und der Therapie gehen dürfen und ihr Leben in Freiheit auskosten können. Schlimm genug, dass nur sie das durfte, nein, sie hatte Julia auch einfach aus ihrem Leben radiert. Keine Besuche, keine Anrufe, nicht einmal eine Weihnachtskarte war Julia ihrer Schwester wert gewesen. Sie hatte sie weg gesperrt, zusammen mit ihrer Vergangenheit und dem dunklen Geheimnis dieser furchtbaren Jahre. Das Experiment, das sie einander so nahe gebracht hatte, hatte sie auch gleichzeitig so sehr voneinander entfernt. Früher waren sie so verbunden gewesen. Schwestern, Freundinnen, Seelenverwandte.

Damals waren sie zwei Wunderkinder gewesen. Nichts was sie einmal gesehen, gehört oder gelesen hatten vergaßen sie jemals wieder, ihr IQ hatte schon damals zu den höchsten je gemessenen gezählt. So war ein skrupelloser Wissenschaftler, Dr. Maximilian Geriten, seines Zeichens eine Koryphäe der Neurobiologie, auf sie aufmerksam geworden. Sein Ziel war es gewesen, mithilfe seiner Kollegin, Dr. Valerie Poschan, menschliche Gehirne ähnlich wie Computersysteme miteinander zu verbinden. So könnte man jederzeit auf das Wissen und auf Erlebtes eines jeden einzelnen Menschen zurückgreifen. Wer wäre besser für solcherlei Versuche geeignet gewesen als zwei, durch ihre Genetik und das Zwillingsband so vernetzte, hochintelligente Kinder. Die Beschaffung der Versuchsobjekte war für seine wissenschaftliche Organisation ein Leichtes, denn viel zu oft verschwanden kleine Mädchen spurlos. Wer hätte damals wohl eine renommierte Verhaltensforscherin und Kinderpsychologin oder gar einen hochangesehenen Neurobiologen verdächtigt?

Die geheime und illegale Forschung, für die sie sich im Kellergewölbe einer alten Privatklinik eingerichtet hatten, ergab zwar bald Ergebnisse, allerdings nicht in die erwünschte Richtung. So war es den Zwillingen möglich ihre Gehirne und ihren Geist zu verbinden, doch anstatt einen Netzzugriff zu erzeugen, entstand eine Art Kontrollschaltung. Die Steuerung konnte allerdings nur von einer übernommen werden. Die andere wurde kontrolliert.

Die Rolle der Steuerzentrale war ohne äußeres Zutun an die gefühlskältere Julia gefallen, die dank der fehlenden sozialen Kontakte mittlerweile bar jeder Empathie war. Fanni hatte sich untergeordnet, da ihr Leid so groß war, dass sich ihr Bewusstsein irgendwann zurückgezogen und somit Julia den Weg bereitet hatte. Allerdings schützte sich Fanni vor der Erkenntnis selbst, indem sie ihren Geist in Dunkelheit hüllte. So bekam sie nichts davon mit, was geschah während Julia die volle Kontrolle besaß. Für die Organisation die sie entführt hatte und diese perfiden Experimente mit ihnen durchführte, war diese Entdeckung zunächst enttäuschend, wollten sie doch eine Art HumanoNet erschaffen.

Allerdings erkannten die beiden Wissenschaftler auch bald die Vorteile und Möglichkeiten der neuen Forschungsrichtung und experimentierten weiter.

Während Julia immer gefühlskälter und gleichgültiger wurde, litt ihre Schwester mehr und mehr. Die Intelligenz blieb bei beiden bestehen. Nach vielen Jahren flog das geheime Kellerverließ auf. Anders als in den Hoffnungen zu Beginn ihrer Gefangenschaft hatte aber weder ihre Familie noch ein Held damit zu tun. Eines der Computersysteme war überlastet gewesen und durch den Kurzschluss hatte das alte Beleuchtungssystem einen Brand ausgelöst. Fanni und Julia hatten wie durch ein Wunder überlebt, während die beiden Ärzte, zwei Laborassistenten und fünf weitere Kinder ihr Leben verloren. Sämtliche Beweise waren verbrannt, bevor man das Feuer hatte löschen können. Man ging wohl davon aus, dass illegale Tests an Kindern durchgeführt worden waren, doch es gab keine Aufzeichnungen mehr, keine Zeugen, außer den Schwestern, die beharrlich schwiegen und so blieb es ein Mysterium was genau in der Klinik vor sich gegangen war.

 

Julia saß auf ihrem schmalen Bett und wippte ihren Oberkörper lächelnd vor und zurück. Das Dunkelste in ihr wartete vor einer noch verschlossenen Tür. Bald würde sie sich für sie öffnen.

Als der Mond bereits hoch am Himmel stand, wusste sie, dass ihre Schwester eingeschlafen war. Sie glitt durch die Tür und sah sich lächelnd um.

»Hallo Fanni. Wir müssen uns heute um das zweite Mädchen kümmern.«

6 thoughts on “Die Zentrale

  1. Düster, gemein und brutal…genau mein Geschmack 🙂
    Das ist wirklich eine Idee, auf die man erstmal kommen muss, großes Kompliment also für den Inhalt und auch deinen Stil. Ich hab wirklich bis zum letzten Satz gebraucht, um die Puzzleteile komplett zusammenzufügen.
    LG, Simone
    “Momentaufnahme”

    1. Liebe Simone! Vielen Dank für deinen netten Kommentar! Es freut mich sehr, dass sich für dich erst nach und nach alles erschlossen und mit dem letzten Satz zusammengefügt hat. Das war meine Absicht. Komplimente über den Schreibstil finde ich persönlich auch immer sehr schön und gleichzeitig motivierend. Ich bin gerade sehr aufgeregt, da du mein erstes Kommentar verfasst hast und es auch noch so positiv ausfällt. Danke auch dafür! Liebe Grüße Lisa

  2. Hi Lisa,
    ich finde deinen Schreibstil ebenfalls gut; ich mag es, wenn man die Sätze und Situationen ein bisschen ausschmückt. Die Idee zu deiner Geschichte, ist auf jeden Fall ausgefallen und bietet viel Stoff für noch viel mehr. Das einzige, was ich nicht so ganz verstanden habe, war der Zweck/das Ziel des Experiments an den Zwillingen. Um das genauer zu erklären, bräuchte man wahrscheinlich viel mehr Platz und Zeit. Und in welchem Zusammenhang stehen Julia und Fanni jetzt genau mit den getöteten Zwillingsschwestern.
    Eventuell wolltest du auch, dass diese Fragen offen bleiben.
    VG Emelie

    1. Liebe Emelie,
      Vielen lieben Dank für deinen netten Kommentar. Ich wollte gerne, dass sich die Zusammenhänge, Motive und so weiter sich erst nach und nach für den Leser auftun und sich für den ein oder anderen vielleicht sogar erst mit dem letzten Satz ganz entschlüsseln. Ein kleiner Aha-Moment. Vielleicht habe ich dadurch vieles zu sehr im Unklaren gelassen und mit den nebulösen Erklärungen übertrieben. Vielen Dank dafür, dass du dir Gedanken gemacht hast und mir einen Kommentar hinterlassen hast. Die Experimente hatten das Ziel Gehirne zu vernetzen um ein Humanonet (Menschliches Internet) zu schaffen, was nicht geklappt hat. Die Morde an den Zwillingen, sollten Fanni auf Julias Spur bringen um sie wieder in ihr Leben zu führen und natürlich lebt Julia dadurch auch ihre Rache aber auch ihr eindeutig bösartiges Wesen und ihre Kontrolle aus. Ich hoffe die Erklärung hilft dir die Geschichte zu verstehen. LG Lisa

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