Mario LenzDie Zwillingsschwester

Ihr Zittern ging in ein Beben über. Kleine Klingen des Frostes schnitten in ihre schweißfeuchte Haut. Wo war sie? Und warum stand sie durchgeschwitzt und in viel zu dünnen Klamotten in der kalten Nacht? Die Scheinwerfer eines Fahrzeuges teilten die Dunkelheit in zwei Hälften. Schlotternd drückte sie sich hinter einen Mauervorsprung, wollte sie doch nicht gesehen werden, nur im Unterhemd und ohne BH. Schließlich sollte man keine schlafenden Hunde wecken. In jedem Auto konnte Hilfe stecken, aber auch ein Verrückter, dessen Gehirn beim Anblick ihrer kaum verhüllten Brüste auf Autopilot schaltete.

Der alte Opel röhrte an ihr vorbei, vermutlich hing der Auspuff in seinen letzten Zügen. Die Dunkelheit hatte sie wieder. Genauso wie ihre Hilflosigkeit. Und die Angst. Am liebsten würde sie sich verkriechen. Unter der Bettdecke vielleicht, wie sie es als kleines Mädchen immer getan hatte, wenn sie Geräusche gehört oder Schatten gesehen hatte. Doch Luisa war kein Mädchen mehr. Sie war eine junge Frau! Aber der Furcht war das egal. Sie hatte Luisa fest im Griff und das Beben ihres Körpers kam nicht ausschließlich von der Kälte.

Wie konnte es sein, dass sie plötzlich an diesem Ort war? Einfach so? Luisa hatte keine Ahnung, wo sie gewesen war, bevor sie halbnackt in die kalte Nacht gesprungen war. Auch wenn sie im Moment nicht ganz so heftig fror. Es schien mehr der Wind als die Temperatur zu sein, und hinter ihrem Mauervorsprung stand sie etwas geschützt. Dieser März hatte schöne Tage hervorgebracht, wollte anscheinend kurz vor Ostern jedoch noch einmal einen Abstecher in den Winter machen. Gestern hatte es sogar geschneit. Gestern? Und was war heute gewesen? Ihr konnte doch nicht ein ganzer Tag fehlen! Plötzlich schälte sich ein heißer Verdacht aus ihrer Fantasie. War sie etwa vergewaltigt worden?

Hastig schossen Ihre Hände zu ihrem Unterkörper, der normalerweise von einer Jeans bedeckt wurde, den nun aber nur ein mintgrüner Panty-Slip schmückte, der viel von dem zeigte, was er bedecken sollte. Ihre Finger tasteten den Bereich zwischen ihren Beinen ab. War dort irgendetwas zu fühlen? Druckstellen, Schmerz, Feuchtigkeit? Sie spürte nichts. War sie missbraucht worden? Eher nicht. Sie war überzeugt, eine sensible Seele wie sie würde wissen, wenn es so wäre. Erleichtert atmete sie auf. Doch wenn es nicht das war, was war es dann? Warum stand sie hier und konnte sich nicht erinnern? Und wo war sie vorher gewesen?

Ihr Zittern wurde wieder stärker. Sie musste ins Warme! Aber wohin? Sie hatte keinen Plan, wo sie hier war. Weit von ihrem Zuhause? Nichts, was ihr einen Anhaltspunkt gab. Plötzlich ein Geräusch, eines, das ihr sehr bekannt vorkam. Es war ein Handyklingeln, und zwar der gleiche Standard-Klingelton, wie ihn auch ihr Samsung von sich gab, wenn jemand anrief. War es gar ihr eigenes Smartphone? Bestimmt war es Tom, der sich Sorgen um sie machte. Warme Hoffnung vertrieb die Kälte ein wenig. Sie lauschte in die Richtung des Klingelns, konnte jedoch nichts erkennen. Wie konnte das sein?! Das Display musste doch leuchten! Doch nirgendwo ein LED-basierter Schein. Nur das schwache Funzeln der Dinger, die so etwas wie Straßenlaternen sein sollten. Doch plötzlich ein ganz schmaler Streifen Licht mit hohem Blau-Anteil. Sie erkannte den Grund dafür. Ihr Smartphone lag mit der Displayseite nach unten. So konnte sich nur ein ganz schmaler Schein unter dem Plastik herausquetschen. Wie festgeklebt stand sie an ihrem Mauervorsprung und sah dem Telefon beim Läuten zu, statt einen Usain-Bolt-mäßigen Sprint dorthin einzulegen. Abrupt riss sie sich aus ihrer Erstarrung und spurtete mit wackeligen Beinen zum Telefon, das immer noch vor sich hin läutete. Schmerzhaft landete sie auf einem Knie, der brüchige Asphalt riss kleine Wunden in die dünne Haut. Doch sie hatte das Handy – ihr Handy. Aber fühlte es sich zu klein an – doch nicht ihres. Auf dem Display stand Anonym. Wie in Zeitlupe schob sie den grünen Hörer nach rechts und genauso langsam hob sie ihre Hand zum Ohr. »Hallo?« Es war nur ein angstvolles Flüstern, das ihrem Mund entwich. Und genauso antwortete die Stimme, die ihr aus dem Hörer entgegenkam: auch nur ein Flüstern. Doch kein defensives, angstvolles Flüstern. Auch keines, das angenehm, zurückhaltend oder zärtlich klang. Es war eines, das ihr eine Gänsehaut auf die Arme trieb. Und als Erstes flüsterte die Gegenstelle ihren Namen. »Oh Luisa«, drang es in ihr Ohr. Wie ein leiser Eiszapfen, der in ihren Gehörgang geschoben wurde. Nun zitterte sie mehr vor Angst als vor Kälte. »Oh Luisa, böses Mädchen!«

Fast wäre ihr das Telefon aus der Hand gefallen. Doch ihr Gegenüber flüsterte weiter. »Ich weiß, was du bist. Und bald werden es alle wissen!«

»Was bin ich denn?« Die Worte verließen ihren Mund nicht. Sie wollte eigentlich gar nicht wissen, was sie sein sollte. Doch die Stimme flüsterte es auch so: »Du bist ein Monster!«

»Nein!« Und doch traf die Stimme einen Nerv. Wo kamen diese komischen Bilder her, die sich anfühlten wie Träume und gleichzeitig wie Erinnerungen? Bilder, die an Schrecklichkeit kaum zu überbieten waren. Bilder, die in ihrem Kopf entstanden waren, denn sie war der Mittelpunkt der Perspektive. Sie war die Kamera, die die Bilder einfing. Wo kamen die her? Und warum fehlte ihr wieder und wieder ein Stück Zeit? Hier mal zwei Stunden, da mal ein halber Tag. Und diesmal sogar fast ein ganzer Tag. »Nein!«, wiederholte sie. Ihre Stimme war kaum zu hören. Doch der Andere hatte sie gehört. »Oh doch, Luisa, oh doch! Und ich kann es auch beweisen. Sieh dir die Galerie auf deinem Telefon an. Dort sind die Beweise.«

»Mein Telefon? Ich habe es nicht. Es muss zuhause liegen.«

»Oh Luisa. Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Wir telefonieren doch gerade. Ich habe deine Nummer angewählt.« Die Stimme verließ zu keiner Zeit den Flüstermodus. Als telefonierte sie mit der deutschen Synchronstimme von Robert de Niro. »Schau dir die Bilder an, Luisa! Dann wirst du verstehen. Ich melde mich.«

Die Leitung war tot. Nur noch die statischen Geräusche der Verbindung mit irgendwas verblieben. Das helle Display glotzte sie doof an. Natürlich prangte die eine App, um die es hier ging, als Einziges und zentral auf diesem Teil des Bildschirms – die Galerie. Ihr Daumen wanderte zu der Stelle und verharrte, kurz bevor er das Icon berühren konnte. Wollte sie wirklich sehen, was da zu finden war? Wieder entstanden fast transparente Erinnerungen vor ihrem geistigen Auge. Erinnerungen, die sich anders anfühlten als Träume. Und es war die eine Farbe, die sie zur Verzweiflung trieb. Die eine Farbe, die aus allen Bildern hervorstach. Und doch – sie musste sich die Fotos ansehen. Sie musste wissen, was es mit dieser Sache auf sich hatte. Sie konnte doch nicht …, sie war doch ein guter Mensch!

Die widerstreitenden Gefühle kämpften um sie.

»Drück nicht!«

»Drück!«

Innerlich Kraft sammelnd und sich gegen den Schrecken wappnend, zwang Luisa ihren Daumen nach unten. Und sofort wünschte sie, sie hätte es nicht getan. Ihre Kraft wich aus den Beinen, sie sank zusammen. Die Kälte des Asphalts spürte sie kaum. Kurz vergaß sie sogar zu atmen, bis sie die ganzen ausgelassenen Atemzüge in einem hektischen Schnaufer nachholte. Gehetzt stieß ihr Daumen die Bilder nach links, um den nächsten Schrecken auf das Display zu holen. Jedes Bild war schrecklicher als das vorhergehende. Und überall die vorherrschende Farbe – das schreckliche Rot. Ein Rot in verschiedenen Nuancen. Ein Rot, das schrecklich entstellte Leiber bedeckte. Menschen, alle mit Sicherheit tot, reichlich in Lebenssaft gebadet. Mal einer, mal zwei, ab und zu auch mal eine ganze Gruppe. Fast immer in unnatürlicher Körperhaltung, die Gesichter zu Masken des Schreckens erstarrt. Die Toten sahen schlimm aus. Aber sie waren nicht das Schlimmste. Auch das Blut nicht oder die angstverzerrten Gesichter. Es war die eine Frau, die auf jedem einzelnen Bild das einzige Lebendige war. Eine Frau, die völlige Gleichgültigkeit ausstrahlte. Gelassenheit und Ruhe inmitten der schrecklich zugerichteten Toten. Eine Frau, die nicht ganz so aussah wie Luisa, die aber doch eindeutig Luisa war. Und auf dem neuesten Bild trug diese Frau nur ein Hemd und eine mintgrüne Panty. Das Bild von heute. Schlieren von Blut zogen sich über ihre Arme und Beine. Luisa schaute an sich hinab. Die Schlieren waren da. Und die Frau in der Galerie sah zwar etwas anders aus, aber es war eindeutig sie.

 

Der Schrecken des Anrufs und der Situation hatte sie die Kälte vergessen lassen. Doch nun brach sie wie eine Ozeanwelle über sie herein. Ihr Körper begann wieder zu beben, und sie merkte, dass es mittlerweile medizinisch bedenklich wurde. Wie lange dauerte es noch, bis sie plötzlich müde wurde und das Bedürfnis sie übermannte, sich auf die kalten Gehwegsteine zu legen und zu schlafen? Sie musste sich wärmen, wollte sie nicht erfrieren. Sie hatte ein Telefon und könnte die Polizei um Hilfe bitten. Theoretisch. Das war angesichts der Bilder vermutlich keine gute Idee. Wieder erbebte ihr Körper unter der Kälte. Hektisch sah sie sich um. Da sah sie im schwachen Licht der Reklame eines heruntergekommenen Supermarktes ein quaderförmiges taxigelbes Gebilde. War das etwa ein …? Luisa veränderte leicht ihre Perspektive und sie konnte ein rotes Kreuz entdecken. Da stand tatsächlich ein Altkleidercontainer. Vielleicht hatte sie Glück! Mit kaum noch fühlbaren Beinen stakste sie dorthin. Und tatsächlich küsste sie Fortuna kurz. Der Kasten war bis obenhin vollgestopft. So voll, dass sie kaum die Klappe herunterbekam. Sie zerrte alle Säcke, die sie greifen konnte, heraus und breitete die übelriechenden Plünnen auf dem Parkplatz aus. Viel Passendes fand sich nicht. Eine lange Männerunterhose und eine fürchterlich stinkende Jogginghose für unten, ein Oma-Mantel für oben. Ihre Haut juckte und die Sachen rochen unangenehm, auch hatte sie das Gefühl, dass sich in dem Mantel permanent etwas bewegte. Aber vorerst würde sie dem Kältetod entgehen.

 

Nun, wo das eine Problem gelöst war, fragte sich, wie sie nach Hause kommen sollte, da fiel ihr das Handy ein. Das Handy, das der Andere als ihres bezeichnet hatte. War darauf Google Maps zu finden? Auf der zweiten Ebene fand sie es. Nach dem Aktivieren staunte sie: Unter Zuhause war ihre eigene Adresse eingespeichert. War das möglich? Konnte das ihr Handy sein? Eines, das sie nicht kannte? Das Telefon ihres ominösen zweiten Ich, das sich inmitten eines Gemetzels fotografieren ließ? Noch etwas fiel ihr auf. Noch einmal öffnete sie, so schlimm es sich auch anfühlte, die Galerie. Kein Foto sah aus, als wäre es heimlich entstanden. Vielmehr wirkte es, also posierte Luisas zweites Ich dafür. Bei aller Kopflosigkeit, die sie zurzeit fühlte – das wunderte sie doch. Ihre geistige Zwillingsschwester schien damit kein Problem zu haben und auch keine Angst zu fühlen, wegen der grausamen Taten erwischt zu werden.

Langsam, aber stetig stieg Magenflüssigkeit ihre Speiseröhre hoch. Sie würde bald kotzen müssen.

Nachdem sie ihr Zuhause als Navigationsziel eingegeben hatte, vermeldete Google Maps einen Fußweg von 56 Minuten. Es war jetzt schon nach 23 Uhr, vor Mitternacht würde sie nicht zuhause sein. Sie hoffte, dass ihr Freund Tom nicht gerade in einem seiner häufigen Livestreams für seinen Youtube-Channel steckte, mit denen er teilweise sein Geld verdiente, dann konnte er mit seinen dicken Kopfhörern ihr Klingeln nicht hören. Und leider hatte ihre geistige Zwillingsschwester es versäumt, sich vor dem Metzeln ihrer Mitmenschen einen Schlüssel in die Panty zu stecken.

Verzweifelt machte sie sich auf den Weg. Ihre Gedanken liefen Amok. Teilte sie tatsächlich ihren Körper mit einer Irren, die auf grauenhafte Weise Menschen ermordete und danach friedlich und gelassen für ein Erlegerfoto posierte? Schon kamen sie wieder, die vertrauten Wellen eines depressiven Schubes. Diesen Wellen, die sie seit Jahren erfolgreich niederkämpfte. So erfolgreich, dass nicht mal Tom von ihnen wusste.

Ihr Brustkorb zog sich zusammen. Der Gedanke, sich die geborgten Klamotten wieder vom Leib zu reißen und sich auf den kalten Boden zu legen, um schnell müde zu werden, gewann an Attraktivität. In ihrer Lage wäre ein Suizid das Normalste der Welt! Mit ihr würde das Vieh sterben, das sich ab und zu ihren Körper lieh wie ein Stadtbewohner ein Carsharing-Auto. An ein normales Leben war jetzt gar nicht mehr zu denken – mit dem Wissen um die Taten ihrer grausamen geistigen Mitbewohnerin! Und dann wusste irgendwer auch noch darüber Bescheid und konfrontierte sie mit seinem Wissen! Irgendeiner, von dem sie noch nicht einmal wusste, was er mit seinen Erkenntnissen anfangen wollte. Er hätte ja auch einfach die Polizei rufen können.

Und was sollte sie Tom erzählen, wenn sie nach Hause kam? Sollte sie so tun, als wäre nichts? Oder ihm reinen Wein einschenken? Beides undenkbar. Aber Selbstmord? Sie prüfte, ob das Telefon weitere Hinweise lieferte. Immerhin war schon ihre Adresse als Heimatort eingetragen. Und noch einen weiteren Hinweis hatte Google Maps für sie. Das Konto lautete auf den Namen Lara Majeweski. L.M. Ihre Initialen. Und ebenfalls ein slawischer Nachname. Nun prüfte sie auch Facebook und Instagram. Beide Accounts waren auf Lara Majewski ausgestellt. Und auf beiden fand sie Bilder, die eindeutig sie selbst darstellten, an deren Zustandekommen sie sich aber nicht erinnern konnte. Auch sah die Frau dort aus wie sie – und doch ein wenig anders. Dieser Ausdruck, der solche Ruhe ausstrahlte, passte nicht zu ihr.

Viel mehr gaben die Seiten nicht her. Ihre ungewollte Stiefschwester schien ein wenig schreibfaul zu sein, dafür aber recht posierfreudig.

Vielleicht war es das Beste, sie spazierte einfach in die nächste Polizeidienststelle und legte die Karten auf den Tisch. Tag, lieber Herr Wachtmeister, ich bin eine Schizo-Braut und wenn ich mich in Mrs. Hyde verwandele, werde ich zur Metzgerin. Hier das Handy von Mrs. Hyde, da finden sie alle Beweise. Doch ihre Sperre dagegen war zu groß. Es war schon komisch, ein Selbstmord kam ihr wesentlich realistischer vor.

 

Sie hatte den Weg nachhause schon nach fünfzig Minuten geschafft. Doch viele weitere Minuten verbrachte sie damit, den Klingelknopf anzuvisieren. Ihr Daumen wanderte unzählige Male hoch und wieder zurück. Es war unvorstellbar, einfach hineinzugehen und so zu tun, als wäre nichts. Gelingen würde ihr das sowieso nicht. Doch noch viel unvorstellbarer war es, hineinzugehen und die Wahrheit zu gestehen. Hallo Schätzchen, ich bin´s. Ach so, im Übrigen bin ich eine grausame Mörderin und metzle bei Gelegenheit so vor mich hin. Möchtest du morgen Früh Spiegel- oder Rührei zum Frühstück?

Irgendwann, es war schon Einiges nach Mitternacht, drückte sie auf den Knopf und, oh Wunder, Tom öffnete sofort. Den Versuch, so zu tun, als wäre nichts, konnte sie sich gleich sparen. Anscheinend stand es ihr ins Gesicht geschrieben. »Hase!«, rief er mit mitfühlender Stimme, »Was ist denn passiert?« Sicher dachte er, sie sei überfallen oder vergewaltigt worden.

Vorher hatte sie gedacht, sie würde kaum erzählen können, doch nun sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. So schnell, dass Tom gar nicht hinterherkam. Als sie fertig war, sah man ihm an, dass er kein Wort glaubte. Er schien sich zu fragen, ob Luisa ihn hochnehmen wollte oder vielleicht verwirrt war. Bis sie ihm die Fotos zeigte. Plötzlich war er ganz ruhig. Blässe überzog sein sonst so frohes Gesicht. Seine Hände zitterten leicht, als er das Telefon wieder sperrte, als könne er so das Gesehene so ungesehen machen. Er hauchte ihren Namen, dann rutschten seine Hände zwischen die Knie und sein Kopf nach unten. So blieb er erst einmal eine ganze Weile sitzen.

Als er wieder aufsah, schwammen seine Augen und Tränen. »Oh Luisa«, flüsterte er und hatte damit zufällig die gleiche Redewendung verwendet, wie ihr Peiniger am Telefon. »Was sollen wir bloß machen?«

»Ich muss mich stellen. So kann es doch nicht weitergehen.«

Tom zog sie energisch an sich. »Auf keinen Fall! Ich will dich nicht verlieren. Ich passe in Zukunft auf dich auf, dann kann das nicht mehr passieren.«

Ihre hitzige Diskussion darüber dauerte bis in die Morgenstunden. Luisa konnte seine Sichtweise nicht nachvollziehen. Wollte er tatsächlich mit einer Mörderin zusammenleben. Einer Frau mit gespaltener Persönlichkeit? Und dachte er gar nicht an die Opfer? Sie war doch eine Gefahr für ihre Mitmenschen!

Für Luisa wurde es immer klarer. Sie würde reinen Tisch machen. Egal, was Tom dachte oder sagte. Auch wenn das bedeutete, dass sie bis zum Ende ihres Lebens in einer Anstalt verbringen müsste. Merkwürdigerweise gab ihr der Gedanke, der ihr vorhin noch so eine Angst gemacht hatte, Ruhe und sie konnte eine Stunde schlafen.

 

Die Skepsis des Polizisten war fast fühlbar. Weder wollte er eine Mordanzeige aufnehmen, noch die Beiden zur Kripo vorlassen. »Wenn es stimmt, was Sie sagen«, führte er aus, »müssten wir dann nicht einige Vermisstenfälle vorliegen haben? Oder lässt Ihr ominöses zweites Ich die Opfer einfliegen?«

Luise wusste darauf nichts zu erwidern und starrte auf die Platte des Empfangstresens. Die Übermüdung verhinderte, dass sie klar denken konnte. Tom wirkte sogar noch übermüdeter als sie selbst. Vermutlich hatte er gar nicht geschlafen.

Die Diskussion mit ihm war am Morgen gleich weitergegangen. Er hatte unbedingt verhindern wollen, dass sie zur Polizei ging. Lieber lebte er mit einer Mörderin zusammen, als sie zu verlieren. Doch sie hatte sich nicht erweichen lassen. Nach zwei Stunden gab er auf. Er hatte sich seine neumodische dickgestellige Fensterglasbrille aufgesetzt und sich angezogen. Mit einem »Egal, was ist, ich steh zu Dir«, flüsterte er mit erstickter Stimme und reichte ihr ihre Jacke. Auf der Fahrt zur nächsten Polizeiwache sprachen beide kein Wort.

Seit ihrer Ankunft dort versuchten sie erfolglos, den Beamten von ihrer Schuld zu überzeugen. Doch ihre Glaubwürdigkeit hatte gelitten. Als sie nämlich die Galerie des gefundenen Telefons zeigen wollten, war diese fast leer. Ein einziges Foto war zu sehen, nämlich das Profilbild des Facebook-Accounts ihrer neuen Freundin Lara. Keine blutrünstigen Ablichtungen, keine Leichen, keine Ruhe ausstrahlende Täterin als lebendiger Bildmittelpunkt. Tom bezeugte, wenn auch widerwillig, die gestrige Existenz der Bilder. Der Beamte verdrehte seine Augen, holte eine Kollegin, schilderte ihr die Konstellation, sodass sie beide noch einmal gemeinsam die Augen verdrehen konnten. Hinzu kam, dass Luisa nichts zu berichten wusste. Nicht, wie ihre Opfer hießen. Nicht, woher sie kamen. Sie kannte die Tatorte nicht, nicht einmal die Tatwaffe wusste sie zu benennen. Nichts, rein gar nichts. Da hatte Tom die rettende Idee. »Du hast doch gesagt, du hast dich gestern von dem neuen Handy nach Hause navigieren lassen. Dann muss doch der Ausgangspunkt deines Weges in Google Maps verzeichnet sein.«

Anerkennend nickte die neu hinzugekommene Beamtin. Ihr Kollege griff sich das Samsung und mit wenigen Bewegungen hatte er die Strecke im Protokoll des Dienstes gefunden. »Na, fahren wir mal hin!«

 

Wenige Minuten später näherten sie sich dem Ziel. Aufmerksam schaute Luisa sich um. Doch was waren das für Gebäude hier? Stuckgeschmückte, tadellose Altstadtgebäude. Florierende kleine Läden, volle Straßencafés, Gehwege voller Flanierender. Keine Spur von den trostlosen, grauen Fassaden, von den übervollen Mülltonnen und von dem heruntergekommenen Supermarkt. Glatte, saubere Gehwege statt unkrautüberwucherter Buckelpisten. Das konnte doch unmöglich die Gegend sein, in der sie gestern Abend gewesen war! Luisa drehte ungläubig den Kopf hin und her. Die Beamten bemerkten ihre Unruhe. »Was ist los?«, erkundigte sich die Polizeiobermeisterin, »Erkennen sie nichts wieder?«

Es war zum Heulen. Was sollte sie denn jetzt sagen? Sagte sie, dass sie nichts erkannte, würde sie noch unglaubwürdiger wirken. Berichtete sie jedoch das Gegenteil, musste sie auch zeigen, wo die Morde stattgefunden haben. »Sie erkennen nichts, oder?« Nun war sich auch der andere Polizist sicher. »Sie führen uns hier lediglich an der Nase herum.«

»Das kann nicht die Strecke von gestern sein. Sie haben sich geirrt. Sie haben einen falschen Startpunkt ausgewählt.« Luisa flog vor Empörung der Speichel aus dem Mund, da half auch Toms beruhigende Hand nicht.

»Geben Sie das Ding her!« Hektisch riss sie der Beamtin das Telefon aus der Hand und wischte wild darauf herum. Doch ein Aktivitätenprotokoll hatte sie bisher nicht benötigt und fand es dementsprechend nicht. Vorsichtig nahm Tom ihr das Handy aus der Hand. Er scrollte mit zunehmend verhärteten Gesichtszügen darauf herum. Er hob entschuldigend die Schultern, das Gesicht gesenkt, und sagte etwas. So leise, dass weder die Beamten noch Luisa verstanden. Er musste es wiederholen. Etwas lauter sagte er: »Die Strecke von hier nach Hause war laut Handy deine einzige Aktivität.«

Luisa war wütend. Wollte denn, verdammt noch mal, keiner begreifen, dass sie eine Mörderin war? Die übrigen Fahrzeuginsassen schauten sie an, als wäre sie frisch vom Planeten Plemplem herabgesunken. Vermutlich konnten sie nicht verstehen, warum in Gottes Namen sie nicht erleichtert war. Immerhin hatte sich nicht bestätigt, dass sie eine Mörderin ist!

 

Der Polizeibesuch lag nun schon 45 Minuten zurück und Luisa hatte seitdem noch immer kein Wort gesagt. Schweigend saßen sie in dem Straßencafé und starrten die karierte Tischdecke an. Von ihrem Latte macchiato hatte Luisa nicht mehr als nur genippt. »Und wenn du dir das alles nur einbildest?«, fragte Tom nicht zum ersten Mal. Und bekam die gleiche wortlose Antwort wie immer. Ein Kopfschütteln. »Trink doch wenigstens deinen Latte!«. Auch diese Aufforderung kam nicht zum ersten Mal und Luisa war inzwischen eindeutig genervt. Sie hatte genug damit zu tun, ihre Gedanken zu ordnen, und Tom fiel ihr mit seinem verdammten Kaffee auf den Wecker. Sollte er ihn doch trinken! Wieder schwiegen sie eine Weile. Nun sagte auch Tom nichts mehr. Er würde schon wissen, dass das nichts brachte. Nur einmal noch schob er ihr schweigend das Kaffee-Glas entgegen, was das Fass zum Überlaufen brachte. Wütend und in einem Zug leerte sie das Glas, ungeachtet des unangenehmen Gefühls, das das warme Getränk in ihrem Mund und Hals hinterließ. Der Schaum zeichnete Spuren in ihrem Gesicht. »Bist du zufrieden jetzt?«, schrie sie ihn an, haute mit der flachen Hand auf den Tisch und ergriff die Flucht.

Toms verdattertes Gesicht sah sie nicht mehr.

 

Plötzlich trat sie ins Jetzt. Und Jetzt war dieser Raum, der aussah wie eine alte bäuerliche Waschküche, nur größer. Die gemauerten Wände waren weiß gekalkt. Die Decke eine Mischung aus Rundbögen aus Ziegelsteinen und rostigen Trägern. In der äußersten Ecke stand ein emaillierter Waschkessel mit Brennkammer. Zwischen den Wänden waren Wäscheleinen gespannt, an denen Maiskolben trockneten. Es war kalt hier drin. Hatte sie eben nicht noch in der Wärme mit Tom im Straßencafé gesessen?

Ihre Aufmerksamkeit richtete sich auf den Boden. Auf kaltem Beton standen große Pfützen. Pfützen einer Flüssigkeit, die nicht transparent und fluide war wie Wasser, sondern etwas dicker und rötlich braun. Und welche Flüssigkeit wurde nach einer Weile rotbraun, weil sein Eisenanteil beim Trocknen rostete? Es war Blut – sie saß in einer Pfütze aus Blut! Entsetzt schaute Luisa an sich herab. Diesmal schien sie förmlich in den Leichen gebadet zu haben. Von oben bis unten war sie mit dieser Flüssigkeit bedeckt, die an ihrem Körper eine rötlichere Farbe aufwies als die auf dem Boden. Sie hatte es wieder getan!

Doch wo waren die Leichen? Hatte sie sie entsorgt? Oder hatte sie sogar einen Helfer? Vielleicht der geheime Anrufer? Kraftlos verließ Luisa den unheimlichen Raum. Die Sonne stand schon etwas tiefer, es musste später Nachmittag sein. Sie hatte mal wieder Stunden verloren. Stunden, die sie anscheinend effektiv genutzt hatte: ein kleines Blutbad angerichtet und die Blutspender gleich noch entsorgt.

Um sie herum standen die Gebäude eines bäuerlichen Vierseithofs. Das Gemäuer bestand aus gelbem Ziegelstein, der Boden war mit Katzenkopfsteinen gepflastert. Es roch güllig. Aus einem Stall drang ein Grunzen. Und genau zu diesem Stall führte eine Spur aus rotbraunen, schon angetrockneten Tropfen. Langsam, als wolle sie gar nicht, setzte Luisa einen Fuß vor den anderen, sie musste zu diesem Stall. Dort drinnen wartete die Erklärung, was mit den Opfern geschehen war. Angenehmes Halbdunkel empfing sie in dem stinkenden Gemäuer. Drei Schweine wühlten mit ihren Steckdosen-Schnauzen in der Brühe, die im Trog schwamm. Sie sah wie Gülle aus. In einem Extra-Abteil balgten vier Ferkel. Doch Luisa nahm das alles nur halb wahr. Ihr Blick wurde von etwas anderem angezogen. Eine Anlage, die Ähnlichkeit mit einem überdimensionierten Fleischwolf hatte. Ein Einlasstrichter, gut 60 Zentimeter im Durchmesser, danach ein Mahlwerk, zum Abschluss ein schmaler Auslass. Sie ahnte, was das war. Zumal in dem Auslass noch Reste einer körnigen Brühe schwammen. Ein Cutter. Ein Kleinmacher für Schweinefutter. Ein Gerät, das auch Fleisch und Knochen zermalmte. Und kam da nicht die blasse Erinnerung, dass sie an dem Ding gestanden hatte? Oder produzierte ihr überbeanspruchter Verstand diese Bilder? Doch dann sah sie etwas, das ihr den Rest gab. Inmitten der Brühe im Auslass schwamm ein Zahn. Ein menschlicher Zahn. Nun stürzten Bilder auf sie ein. Sie sah sich, wie sie ihre Opfer von der Waschküche in den Stall schleifte. Beobachtete sich, wie sie unter Aufbietung aller Kräfte die Leichen in den Cutter schob. Schaute zu, wie sie die leblosen Körper regelrecht ins Mahlwerk drückte, weil das Gerät mit dem Umfang der Körper überfordert war. Betrachtete sich, wie sie im Wechsel zwei Eimer mit der Brühe füllte und diese in den Trog in der Schweinebuchte kippte. Und sah sich lächeln, als sich die Schweine freudig erregt, grunzend und schmatzend über die Brühe hermachten.

Der Film riss ab und Luisa sank auf den schmutzigen Boden. Die Schweine schauten interessiert, vielleicht hofften sie noch auf einen Eimer Brühe. Luisa spürte ihre Kraft und ihren Willen schwinden. Es gab nun wirklich keinen Zweifel mehr. Sie war eine Mörderin, eine Verrückte. Keinesfalls wollte sie vor Gericht stehen. Erst recht nicht in eine Anstalt eingewiesen werden, in der man ihr sowieso nicht helfen konnte. Sie wollte sterben. Seltsamerweise gab ihr der Gedanke Stärke. Kraft zog in ihren Körper. Mit Leichtigkeit kam sie hoch, als wog ihr Körper nichts. Sie würde die Welt von ihrer grausamen Zwillingsschwester befreien. Ihre letzte Tat – eine gute Tat. Es begann die Suche nach einem geeigneten Suizidwerkzeug.

 

Gerade mal zehn Minuten dauerte es, bis sie einen Plan hatte. Bis dahin hatte sie sämtliche Ideen und Funde für ungeeignet befunden. Weder mit Stichwerkzeugen, einem Seil oder gar mit dem Cutter wollte sie sich umbringen. Auch in einer Güllegrube wollte sie sich nicht ersäufen. Jede Möglichkeit hatte einen Haken. Entweder zu unsicher, zu unangenehm oder zu anspruchsvoll.

Doch nun stand er da. In der Scheune hatte sie ihn gefunden. Ein grünes Ungetüm von einem Traktor, der auf dem schrägen Teil einer Rampe stand. Unter ihm befand sich ein Behältnis mit Altöl, vermutlich hatte der Bauer das moderne Landgerät schräg positioniert, dass alles an Öl aus dem Motor hinauslaufen konnte. War der Traktor ein geeignetes Werkzeug? Könnte sein. Sie musste nur einen Weg finden, die Handbremse zu lösen, während sie vor der Rampe lag. Da fiel ihr das Seil ein, das sie kurz für eine Strangulation in Erwägung gezogen hatte. Es war bestimmt zehn Meter lang. Wenn sie es an der Handbremse befestigte und um den Pfeiler zog, rollte der Traktor los. Eine gute Idee!

Sie brauchte ein Weilchen, die Handbremse zu finden. Erwartet hatte sie einen großen Hebel, gefunden hatte sie ein Hebelchen. Umso besser. So benötigte sie weniger Kraft.

Die Vorbereitungen waren schnell erledigt. Dann lag sie mit dem Gesicht direkt vor dem Ende einer der Fahrspuren der Rampe. Noch einmal dachte sie an Tom und ihre Familie, denen sie kurzfristig nun Kummer bereiten musste, um ihnen langfristig Kummer zu ersparen. Leise weinte sie vor sich hin. Tränen liefen von ihrem Gesicht in die Mischung aus Staub und Streu, die den Boden der Scheune bedeckte. Dann zog sie das Seil. Langsam setzte sich das schwerfällige Landgerät in Bewegung und wurde zügig schneller. Ein großer Schatten sauste auf sie zu. Sie hörte das Krachen ihres Schädels, dann trat sie in den Frieden ein.

 

Aus der Fallakte der Selbsttötung Luisa Michalski, Auszug Vernehmung Heinz Fiebranz:

Eine Gruppe junger Leute wollte meinen Bauernhof für einen semiprofessionellen Filmdreh mieten. Sie wollten da irgendwas für irgendeinen Quatsch im Internet drehen. Ich sollte den ganzen Tag außer Haus bleiben. Am Nachmittag aber dachte ich, ich fahr mal nach Hause und schaue aus sicherer Entfernung zu. Ich staunte nicht schlecht, als ich meinen Traktor mitten auf dem Hof stehen sah, das Scheunentor war ganz zerstört. Und als ich in die Scheune kam, sah ich das Mädchen liegen, sah ihren zerquetschten Kopf und erbrach mich.

 

Video auf villegals, einer Videoplattform im Darknet:

Es lief ein konzentrierter Zusammenschnitt der Livebilder der letzten Tage. Noch einmal sahen die User des illegalen Videoportals, auf dem alle möglichen Videos angeboten wurden, die wegen ihrer Inhalte auf normalen Seiten keine Chance auf Veröffentlichung haben, wie es begann. Luisa, im Video Lara genannt, wie sie ein Getränk zu sich nahm, in das der Unsichtbare, an dem die kleine Kamera angebracht war, ein Mittel eingebracht hatte. Jeder User wusste, dass es etwas wie Flunitrazepam sein musste, oft als K.O.-Tropfen missbraucht, vielleicht auch in Kombination mit Opiaten oder anderen Wirkstoffen. Die nächste Klappe zeigte ein Rudel Laiendarsteller, die mittels Theaterutensilien ein grauenhaftes Aussehen verliehen bekommen hatten – Verletzungen, Amputationen und vor allem viel Blut. Lara, wie sie mit den Opfern posierte und dabei fotografiert wurde.

Als Nächstes verwackelte Bilder aus einer Handykamera und ein Tonmitschnitt. Laras Verzweiflung, als ihr telefonisch mitgeteilt wurde, dass sie eine Wahnsinnige ist. Laras Gesicht, aufgenommen von der Frontkamera, während sie sich die Fotos auf dem fremden Samsung ansah. Lara, die Tom die Morde beichtete, außerdem die nächtliche Diskussion darüber, ob sie die Taten der Polizei melden sollten. Aufgenommen aus allen möglichen Perspektiven mit den in der Wohnung verteilten Kameras des Youtubers.

Den Besuch bei der Polizei und die Verzweiflung darüber, dass die Beamten den Ausführungen Laras keinen Glauben schenken wollten. Verwackelte Bilder, von einer Geheimkamera aufgezeichnet, die von Unglück und Verzweiflung zeugten.

Lara, wie sie einen Latte macchiato trank, der Untertitel im Video wies darauf hin, dass auch dieses Getränk mit einer Kombination aus Flunitrazepam und Schlafmitteln versetzt war.

Lara wie sie in einem See aus Blut erwachte, den Cutter entdeckte und sich auf die Suche nach einem Hilfsmittel für ihren Suizid machte, was der User allerdings nur ahnen konnte.

Laras Kopf, der unter dem schweren Traktor zerplatzte wie ein Kürbis, den man auf den Boden hieb.

Zu guter Letzt die Glückwünsche an den User Blutritter, der als Einziger das konkrete Ende vorausgesagt und damit die 10.000 Euro gewonnen hatte.

 

Digitale Fallakte Selbsttötung Luisa Michalski, Video-Aufzeichnung der Vernehmung von Tom Heide:

Ermittler: Bitte geben Sie Auskunft zum technischen Hintergrund, warum waren Sie so ausgestattet, dass Sie das so durchführen konnten.

 

Tom Heide: Ich bin Youtuber, verdiene also mein Geld mit Videos, die ich auf Youtube veröffentliche. Zum einen einfach Szenen aus meinem Youtuber-Alltag, die mit den Kameras aufgenommen werden, die in meiner Wohnung verteilt sind, und kleinen mobilen Kameras, die ich immer mit mir führe. Zum anderen drehe ich mit Laiendarstellern Kurzfilme, die hohen Zuspruch bei den Usern finden. Weil Youtube manches Mal meine Videos wegen Gewalt- oder anstößiger Szenen sperrte, habe ich zusätzlich noch einen Channel im Darknet. Dort kann man alles zeigen und die User zahlen viel Geld dafür. Auch dürfen sie gegen Höchstgebot mitentscheiden, wie die Filme weitergehen. Sie zahlen viel dafür, Gewaltdarstellungen, Vergewaltigungen und so´n Zeug sehen zu dürfen. Zum Teil haben wir auch gedrehte Szenen als real verkauft.

 

Ermittler: Warum haben Sie Frau Michalski das angetan? Es war doch Ihre Freundin!

 

Tom Heide: (schlägt die Hände vors Gesicht, ist kaum zu verstehen) Ich wusste nicht, dass das so endet. Ich dachte, ich könne das immer rechtzeitig stoppen. Ich oder einer aus meinem Team war stets in ihrer Nähe und haben sie direkt oder über Kamera beobachtet. Doch ausgerechnet an diesem Tag ist die Übertragung abgerissen. Wir haben nur gesehen, dass sie den Cutter gefunden hatte. Wir hatten ihr wieder das Telefon hingelegt und sind davon ausgegangen, dass sie die Polizei rufen wird, um endlich beweisen zu können, dass sie eine Mörderin ist. Wir hatten sogar die Visitenkarte der Beamten hingelegt, die wir von denen bekommen hatten. Doch sie scheint weder das Eine noch das Andere bemerkt zu haben. Als die Bilder wieder da waren, lag sie schon vor der Rampe. Ich durfte noch live beobachten, wie der Traktor über ihren Kopf gerollt ist. (weint)

 

Ermittler: Das ist keine Antwort auf meine Frage. Ich will wissen, warum Sie überhaupt Ihrer Freundin vorspielen wollten, sie sei eine wahnsinnige Mörderin.

 

Tom Heide: (Nach einigen Sekunden der Beruhigung) Zum einen Rache, zum anderen Profit. Ich wusste, dass diese Show im Darknet viel Aufsehen erregen wird. Jeder Zuschauer musste 50 Euro bezahlen und wir hatten Zehntausende. Jeder Teilnehmer am Gewinnspiel hat 1.000 Euro bezahlt, um mitmachen zu können. Ich hatte einen Gewinn über 10.000 Euro ausgelobt. Mitgemacht haben fünfzig Leute, Sie können sich ja ausrechnen, was nach Abzug der Produktionskosten für mich übriggeblieben ist.

 

Ermittler: Nochmal: Warum musste ausgerechnet Ihre Freundin herhalten? Sie hätten ja jeden X-Beliebigen nehmen können.

 

Tom Heide: (Sehr leise) Luisa war immer eifersüchtig darauf, dass ich im Internet Geld verdiente und nichts anderes machen musste. Sie hasste ihren Bürojob. Und je erfolgreicher ich war, desto neidischer wurde sie. Ich schlug ihr vor, ihren Job aufzugeben. Mit meinen Einnahmen hätte ich uns beide ganz gut versorgt. Doch sie hatte sich schon zu tief in ihre Eifersucht hineingesteigert, da wollte sie kein Almosen mehr. Irgendwann kündigte sie trotzdem ihre Arbeit. Sie erklärte mir, dass sie ihr Geld ab jetzt auch im Internet verdiente. Da sie im Büro mit den Themen Aktien und Investments zu tun hatte, hatte ich ihr schon immer dazu geraten, in diese Richtung etwas zu machen. Daher ging ich davon aus, dass es sich um so etwas handelte. Was es wirklich war, bemerkte ich irgendwann, als ich mich mit ihrem Account anmeldete, um für eines meiner Videos zu voten. Die Zugangsdaten hatte ich, weil ich ihr den Account selbst angelegt hatte. Ich habe feste Zeiten, wann ich zuhause in die Livestreams für Youtube gehe und wann ich die Außendrehs für villegals mache. Sie wusste ganz genau, wann sie zuhause allein war. Und in dieser Zeit nutzte sie meine Ausstattung und ließ sich für erotische Livechats bezahlen. (wird lauter) Also konkret: Sie zog sich für andere aus und machte vor der Kamera das, was Zahlende im Online-Chat wünschten. Da ist etwas in mir kaputt gegangen. Darum sollte sie es sein. (steht auf, stützt sich auf den Tisch, schreit) Ich hätte es ja eigentlich rechtzeitig gestoppt, verdammte Scheiße! Wenn nur die Fuck-Übertragung nicht abgerissen wäre. Dann hätte ich ihr gestanden, dass das alles nur eine Inszenierung war. Und dann hätte sie einfach mit ihren scheiß Pornos aufgehört und alles wäre gut geworden! (Fällt in den Stuhl zurück)

 

Angekündigte Liveübertragung parallel auf Youtube und auf villegals:

Der Bildschirm war viergeteilt. Er zeigte verschiedene Perspektiven. Eine Kamera filmte permanent Tom Heides Gesicht. Eine andere zeigte das, was auch er sah. Die nächste wiederum schien irgendwo über ihm angebracht zu sein. Sie zeigte ihn in großer Höhe in einem Ensemble aus Stahlträgern. Ganz tief unten sah man viel Grün und Wasser. Die vierte Perspektive stellte ein Ungetüm aus Stahl dar. Der Eine oder Andere würde erkennen, dass es das Schiffshebewerk Niederfinow war. Diese Kamera stand ebenerdig und war nach oben ausgerichtet. Auf dieser Perspektive war Tom noch nicht zu sehen, aber das würde noch kommen.

Tom, der bis zu seiner Verhandlung unter Auflagen in Freiheit bleiben durfte, hatte seinen Followern bei villegals seinen Abschied angekündigt. Seinen Abschied aus dem Leben. Seine Follower durften Vorschläge machen, wie er seinen Suzid durchführen solle und anschließend darüber abstimmen. Der Kommentar mit den meisten Votes würde, sofern durchführbar, gewinnen. Und der Kommentar mit den meisten Stimmen war der, der einen Sprung vom Schiffshebewerk vorgeschlagen hatte. Tom hatte den Leuten vom Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt Eberswalde seinen Presseausweis gezeigt und um Drehgenehmigung gebeten, die auch freudig gegeben wurde.

Die User, die auch verschiedene Dinge wie Flugzeit und Zustand nach Landung wetten konnten, hörten noch ein paar Worte, dann sprang Tom. Eine Kamera zeigte sein verwackeltes Gesicht. Eine, wie der Boden nahte. Eine zeigte, wie er sich entfernte, eine andere, wie er näherkam.

Und alle zeigten die zarte Abendsonne.

 

Der Beamte vom Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt, der die Drehgenehmigung erteilt hatte, schaute die Abendschau im Regionalfernsehen. Seine Frau, die sich gerade einen Tee in der Küche zubereitete, hörte noch die Wörter Schiffshebewerk und Suizid, dann hörte sie ein plumpsendes Geräusch. Ihr Mann war von der Couch gefallen.

9 thoughts on “Die Zwillingsschwester

  1. Das war ja mal eine völlig andere Auflösung, als ich erwartet hatte. Toll erzählt, ich konnte mich gut in die Protagonistin hineinversetzen, sehr detailliert beschrieben. Die Sequenz mit dem Handyfund fand ich teilweise etwas langatmig, aber das mag meiner Ungeduld geschuldet sein, weil ich wissen wollte, wie Louisa in diese Situation geraten ist – letztlich ist ja vermutlich genau das beabsichtigt. Dazu wirklich gute Ideen: Sowohl der Altkleidercontainer als auch der Filmdreh sind mir in der Form hier erstmals untergekommen. Alles richtig gemacht 😃👍

  2. Lieber Karl, da hast du dir aber ganz schön was einfallen lassen! Sehr schön abgedreht, deine Geschichte. Auf das Ende wäre ich nie und nimmer gekommen. Auch hast du gerade am Anfang und am Ende einige sehr starke Formulierungen eingebaut. Insgesamt könntest du die Geschichte aber noch kürzen, um mehr Tempo aufzubauen. Viele Dinge sind zwar schön zu lesen, aber für die Geschichte nicht wichtig, wodurch etwas Spannung verloren geht. Einige Satzbaufehler wären ebenfalls zu korrigieren. Es scheinen lediglich Flüchtigkeitsfehler zu sein. Das wäre also schnell gemacht. Ansonsten hat mich deine Geschichte gut unterhalten.

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