Rudolf GeorgDoppelpass (von Rudolf Georg)

Doppelpass

 

von Rudolf Georg

 

Nach einem anstrengenden Tag freute er sich auf den Feierabend. Vormittags hatte er vier Operationen durchgeführt, der Nachmittag war mit Papierkram und einer aus seiner Sicht völlig überflüssigen Besprechung mit dem kaufmännischen Direktor der Klinik ausgefüllt. Aber das gehört nun einmal zu seinem Leben als Chefarzt der Orthopädie im Kreiskrankenhaus. Jahrelang hatte er darauf hingearbeitet, jetzt musste er auch die Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen. Früher hätte er, bevor er sich auf den Heimweg machte, den Ärger mit einem Cognac heruntergespült, jetzt nicht mehr, das war vorbei. Im Vorübergehen rief er seiner Sekretärin einen Abschiedsgruß zu, winkte den Leuten an der Pforte und ging zu seinem Cabrio. Dort angekommen, war er kurz versucht, über die geschlossene Tür zu flanken, überlegte es sich jedoch anders. Als er noch jünger war, hätte er keinen Moment gezögert, aber damals konnte er sich so ein Auto noch nicht leisten.

Er öffnete die Tür, stieg ein und startete den Motor. Er widerstand dem Verlangen, die Maschine aufheulen zu lassen und mit hohem Tempo vom Parkplatz herunterzufahren. Gerade als er sich in den fließenden Verkehr auf der Straße einfädeln wollte, hörte er ein Handy klingeln. Er war irritiert, denn es war nicht sein Klingelton und doch ganz nah, als befände sich dieses Handy in seinem Auto. Er sah sich um, entdeckte aber weder auf dem Beifahrersitz noch auf der Rückbank etwas. Das Klingeln hörte nicht auf. Er öffnete das Handschuhfach, und ein fremdes Handy rutschte ihm entgegen. Er fing es auf, es klingelte weiter. Er sah sich um, doch niemand befand sich in seiner Nähe. Er ließ sich Zeit, das Gespräch anzunehmen. Auf dem Sperrbildschirm sah er ein Foto, das ihn und seine Ehefrau beim Verlassen des Stadttheaters zeigte; das Bild war aktuell, denn sie trug das neue Designerkleid, das sie erst vor zwei Wochen erstanden hatte. Ungläubig starrte er das Telefon an, das – so schien es ihm – immer drängender klingelte.

Er zögerte noch einen Augenblick, dann drückte er das grüne Symbol und meldete sich: „Schlechter.“

„Der Herr Doktor Schlechter!“, vernahm er den spöttischen Tonfall einer ihm unbekannten Stimme. „Das hat aber lange gedauert! Ich bin überrascht, du bist doch sonst einer von den ganz Schnellen, lässt nichts anbrennen.“

 „Was soll das?“, unterbrach er den Anrufer. „Wenn das ein Scherz sein soll, dann ist es ein verdammt schlechter!“

„Ich mache keine Scherze“, erwiderte der andere nun schneidend. „Halt den Mund, und tu was ich dir sage!“

„Ich lasse mich von Ihnen nicht herumkommandieren!“

„Ich habe gesagt, du sollst den Mund halten. Das ist besser für dich.“ Etwas in der Stimme des anderen ließ Schlechter frösteln. „Schau dir die Fotos auf diesem Smartphone an, und du wirst merken, dass es gescheiter ist, wenn du tust, was ich dir sage.“

„Was …“

„Hör auf zu quatschen“, fiel ihm der andere ins Wort. „Warte bis ich mich wieder melde! Ruf nicht die Polizei an. Das wäre fatal für dich, deine Frau und deine Freundin.“

„Aber …“, setzte er erneut an, doch der Anrufer hatte bereits aufgelegt. Er glaubte zu wissen, worauf das hinauslaufen würde. Bei diesem Gedanken verkrampfte sich sein Magen. Zwar hatte er das Risiko, das sein Verhältnis entdeckt würde, in Kauf genommen; nachdem jedoch viele Jahre nichts passiert war, hatte er gedacht, es ginge immer so weiter. Nun starrte er das Handy in seiner schweißnassen Hand an. Er rief die Bildergalerie auf und entdeckte gut zwei Dutzend Fotos, die ihn in seinem Sportwagen, in der Klinik, vor seiner Villa in Halbhöhenlage oder in deren Garten zeigten, mal mit seiner Ehefrau, mal mit seiner Freundin vor deren Appartement. Mit einer Ausnahme waren alle Fotos jüngeren Datums; auf dem letzten einen war er neben seinem VW Golf zu sehen. Das Bild musste zehn oder zwölf Jahre alt sein. Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Wie passte alles zusammen? Was wollte der Anrufer? Wie lange hatte er ihn schon beobachtet? Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter und verstärkte das diffuse Unbehagen, das sich seiner bemächtigt hatte. Ein lautes Hupen riss ihn aus seinen Überlegungen. Er blickte in den Rückspiegel und sah, dass hinter ihm ein weiteres Auto stand, das den Parkplatz verlassen wollte.

 

Ungefähr um dieselbe Zeit beendete Polizeiobermeister Wendt gerade seine Schicht. Sie war frustrierend wie so oft. Vor einer Stunde hatte er die Mitteilung seines Dienstherrn bekommen, dass er bei dieser Beförderungsrunde wieder nicht berücksichtigt worden war. Seit zwölf Jahren wartete er auf den Aufstieg, immer wieder waren ihm Kollegen vorgezogen worden. Er hatte sich zurückgezogen und einen kräftigen Schluck aus seinem Flachmann genommen und dann noch einen. Wie sollte er seiner Frau erklären, dass auch diese Beförderung an ihm vorbeigegangen war? Lustlos packte er jetzt seine Sachen zusammen, um sich in den Feierabend zu verabschieden. Er nahm seine Aktentasche, die er eigentlich nur benötigte, um jeden Tag zwei Butterbrote und eine Thermosflasche Kaffee darin zu verstauen, blickte sich noch einmal um und schloss die Tür. Dem wachhabenden Kollegen winkte er kurz zu, murmelte etwas Unverständliches und verließ das Revier. Er wusste nicht, ob sein Gruß erwidert worden war, aber es war ihm auch egal. Trübsinnig starrte er vor sich auf den Boden, schlug den Weg zum Parkplatz ein und machte auf halber Strecke kehrt, als ihm einfiel, dass sein alter Kombi in der Werkstatt stand. Während er zur U-Bahn Haltestelle trottete, vibrierte plötzlich seine Aktentasche. Ein Klingelton war, wenn auch gedämpft, vernehmbar. Er blieb stehen und sah sich um, doch keiner der Passanten reagierte. Erneut vibrierte die Tasche in seiner Hand, begleitet von einer ihm unbekannten Melodie. Er zögerte, blickte sich erneut um und öffnete die Aktenmappe. Ein fremdes Handy lag darin. Der Sperrbildschirm, der bei jedem Klingeln dunkel zu erahnen war, zeigte ihn, wie er am Morgen sein Fahrzeug in der Werkstatt abgegeben hatte.

Ungläubig griff er nach dem Gerät, und meldete sich gewohnheitsmäßig knapp: „Wendt.“

„Guten Tag, Herr Polizeihauptmeister – ach nein, das bist du ja nun doch nicht geworden! Immer noch Polizeiobermeister, wieder einmal übergangen worden. Wie oft sind deine Kollegen jetzt schon an dir vorbei gezogen?“

„Was soll das? Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“

„Zu viele Fragen auf einmal, Wendt! Immer schön langsam.“

„Zum letzten Mal: Was wollen Sie von mir?“

„Sei doch nicht so ungeduldig! Du wirst noch früh genug verstehen, worum es geht. Vor einer Stunde hast du dich noch darüber geärgert, dass du auch dieses Mal nicht befördert wirst. Dabei könntest du die Gehaltserhöhung jetzt wirklich gut brauchen.“

Wendt war stehen geblieben und suchte mit den Augen die Umgebung ab. „Das geht Sie alles gar nichts an!“

„Da bin ich anderer Meinung. Du brauchst nicht stehenzubleiben, du siehst mich sowieso nicht, aber ich sehe dich. Natürlich brauchst du Geld. Ich meine nicht wegen der teuren Autoreparatur. Ich denke an die Arztkosten für deine Frau.“

„Lassen Sie gefälligst meine Frau aus dem Spiel!“

„Schrei mich nicht an! Ich will dir helfen. Was glaubst du wohl, was passiert, wenn deine Vorgesetzten erfahren, dass du im Dienst trinkst?“

Wendt rührte sich nicht vom Fleck, spannte unwillkürlich seine Muskeln an und erwiderte mit Nachdruck: „Unverschämtheit! Wollen Sie mich etwa erpressen? Von mir bekommen Sie nichts, gar nichts. Wenn Sie so viel über mich wissen, dann wissen Sie auch, dass ich nichts habe!“

„Das weiß ich, aber wann lernst du endlich einmal, anderen zuzuhören? Ich habe gesagt, ich will dir helfen. Bei dir gibt’s nichts zu holen, bei deinem erbärmlichen Gehalt, deinen hohen Schulden und deiner kranken Ehefrau … Halt! Leg nicht auf! Wenn du es doch tust, wirst du es bitter bereuen! Denk an deine Frau!“

„Was wollen Sie von mir?“ Der Hinweis auf seine Frau hatte Wendts Stimme brüchig werden lassen.

„Du sollst mir einen Gefallen tun und wirst dafür reichlich belohnt. Schau dir die Bildergalerie an! Ich melde mich wieder. Trag dieses Handy immer bei dir. Es hat einen GPS-Tracker, ich weiß immer, wo du bist.“

Wendt blickte sich verunsichert um, suchte schließlich Schutz in einen Hauseingang und betrachtete die Fotos. Sie zeigten ihn im Dienst, auf Streifenfahrt, mit Kollegen, privat und Zuhause, immer wieder mit seiner Ehefrau, die er im Rollstuhl schob. Am meisten berührte ihn ein Bild, das ihn an ihrem Bett während ihres letzten Krankenhausaufenthaltes zeigte, es ließ ihn schaudern. Seine soeben noch zur Schau gestellte Selbstsicherheit zerbröselte; der Anrufer hatte zielsicher seinen wunden Punkt getroffen. Dass er das wusste, machte Wendt erst recht zu schaffen. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihm breit; er glaubte nicht an die gute Fee. Langsam ließ er das das Handy in die Jackentasche gleiten und setzte seinen Heimweg fort.

 

Schlechter war inzwischen bei seiner Villa angekommen und wollte gerade aussteigen, als er einen Blick auf das Handy auf dem Beifahrersitz warf. Per WhatsApp war ein weiteres Bild angekommen, es zeigte seine Ernennungsurkunde zum Oberarzt im Jahr 2012; der Text dazu stammte aus der unmittelbaren Gegenwart: „Steck das Handy ein, verlier es nicht, und denk daran, ich weiß immer, wo du bist!“

Er bekam eine Gänsehaut. Wie kam der Unbekannte an diese Urkunde? Er nahm das Handy, stieg aus und versenkte es in seiner Hosentasche. Ängstlich sah er sich um, ohne etwas entdecken zu können. Er ging ins Haus und rief nach seiner Frau. Aus dem Bad hörte er ihre Stimme: „Ich mache mich gerade fertig, wir müssen doch bald weg.“

Den Empfang am heutigen Abend hatte er völlig vergessen; seine Frau freute sich darauf, aber ihm war die Lust längst vergangen. Rasch ging er in sein Arbeitszimmer, holte seinen Schlüssel heraus, doch der Aktenschrank war gegen seine Gewohnheit nicht abgeschlossen; das Schloss drehte leer. Erneut brach ihm Schweiß aus. Zitternd griff er nach dem Ordner mit seinen Urkunden und blätterte ihn hastig durch. Er fand das gesuchte Dokument, doch nicht an der Stelle, an der es chronologisch hätte sein müssen. Er ließ die Arme sinken und lehnte sich gegen die Schreibtischkante.

„Was machst du denn hier? Du musst dich doch auch umziehen. Sitz hier nicht herum, mach dich schnell frisch!“ Seine Frau stand im Türrahmen. „Was ist mit dir? Geht’s dir nicht gut? Du bist ganz bleich, und du schwitzt!“

„Nein, nein“, wiegelte er unbeholfen ab. „Es ist alles in Ordnung. Ich beeile mich.“ Er unterdrückte das Zittern, schob den Ordner zurück in den Schrank, tat so, als schlösse er ihn ab und drückte sich an seiner Frau vorbei ins Bad. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, setzte er sich noch immer schlotternd auf den Badewannenrand. Schon meldete sich wieder das Handy. Ein Anruf. Rasch nahm er ihn an und meldete sich im Flüsterton, damit seine Frau nicht mithören konnte.

„Ich wollte dir nur einen schönen Abend wünschen.“

„Was soll das? Was wollen Sie?“

„Genieß den Abend, aber übertreib es nicht wieder!“

„Was soll das nun schon wieder heißen?“

„Ich weiß, was du am 15. August 2012 getan hast. Erinnerst du dich?“

„Natürlich erinnere ich mich. Sie haben mir ein Bild meiner Urkunde geschickt.“

„Die Beförderung war tagsüber; mir geht’s um den Abend!“

„Was … Was soll denn da gewesen sein?“

„Susanne Lehmann!“

„Susanne Lehmann? Wer soll das sein?“

„Hast du es wirklich vergessen? Ich nicht! Du hattest Bereitschaftsdienst. Trotzdem hattest du deine Ernennung gefeiert und getrunken, zu viel getrunken, viel zu viel. Du hast die Operation verpfuscht. Es war eine Notoperation. Susanne war das Opfer eines Autounfalls, und sie ist auf deinem Tisch gestorben, weil du betrunken warst.“

Schlechter schwieg. Ihm wurde heiß und kalt. Er versuchte verzweifelt, sich an dieses Ereignis zu erinnern, doch er hatte einen Filmriss. Er wusste noch, wie sehr er sich geärgert hatte, dass er am Tag seines Karrieresprungs Bereitschaftsdienst gehabt hatte, und dass er dennoch gefeiert hatte. Das war ihm wichtig, weil viele bedeutende Leute dort waren. Beziehungen waren der Schlüssel für seine Karriere. Von dort wurde er ins Krankenhaus gerufen, er hätte eigentlich gar nicht mehr Auto fahren dürfen. Er wusste noch, wie in der Klinik angekommen war, aber alles danach war unscharf, als nehme er es durch Milchglas war. Am nächsten Tag sprach ihm sein damaliger Chefarzt sein Bedauern aus, weil die Notoperation in der Nacht erfolglos war. Eine junge Frau war bei einem Autounfall verletzt worden, und er hatte sie mit der Operation nicht retten können. Übelkeit stieg in ihm auf. Er war schweißgebadet und zitterte wie Espenlaub. Er ließ sich auf die kalten Fliesen des Fußbodens sinken. Woher wusste der Anrufer …

„Bist du immer noch da drin?“, hörte er die Stimme seiner Frau von draußen. „Jetzt musst du dich aber wirklich beeilen!“

„Ja, einen … einen Augenblick noch“, stammelte er.

„Nun, weißt du es wieder?“, ließ sich der Anrufer in einem Ton vernehmen, der Schlechters Frösteln noch verstärkte. „Hattest du ernsthaft gedacht, du kommst damit davon? Dann hast du dich getäuscht, du wirst dafür bezahlen!“

„Woher wissen Sie? Wer sind Sie?“ Er musste würgen.

„Wer ich bin? Ich habe den Unfall damals aufgenommen und den Transport der Verletzten ins Krankenhaus veranlasst. Und ich habe gesehen, dass du betrunken warst, als du mit deinem Sportwagen angerauscht kamst.“

Schlechter nahm seine ganze Kraft zusammen und flüsterte ins Mikrofon: „Was wollen Sie?“, während er laut in Richtung Tür sagte: „Ich komme gleich; ich spreche gerade noch mit der Klinik!“

„Fünfhunderttausend.“

„WAS???“

„Nicht so laut, sonst musst du deiner Frau erklären, worum es geht.“

„Das geht nicht, das ist zu viel.“

„Es geht, ich weiß es. Du kannst so viel Geld beschaffen. Das muss es dir wert sein. Sonst …“

„Was sonst?“

„Sonst: ade Chefarztposten, ade Villa, ade Sportcabrio. Und wie ich deine verwöhnte Frau kenne, wirst du sie danach auch verlieren. Von deiner teuren Freundin ganz zu schweigen. Dann ist alles weg, wenn der Landrat und die Presse von deinem Alkoholproblem und der verpfuschten OP erfahren.“

„Aber wie soll ich …“

„Lass dir etwas einfallen! Frag deinen Banker oder wen auch immer. Ich melde mich wieder und erkläre dir, wie du mir das Geld bringst.“

Schlechter ließ das Telefon sinken, würgte, beugte sich hastig über die Toilette und übergab sich. Dann lehnte er sich an die Badewanne und warf den Kopf in den Nacken und starrte die Deckenleuchte an, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Auch den säuerlichen Geschmack und den durchdringenden Geruch nach Erbrochenem bemerkte er nicht. In seinem Inneren tobte ein Sturm unterschiedlichster Gefühle. Er wusste nicht, wie lange er dort gesessen hatte. Wie durch eine dicke Schicht Schaumstoff erklang ein dumpfes Pochen, dass im klarer und lauter wurde. Schließlich realisierte er, dass seine Frau mit der Faust gegen die Tür hämmerte.

„Was ist mit dir? Mach doch die Tür auf! Was ist los?“

Er schleppte sich mühsam hin und öffnete. Seine Frau erschrak bei seinem Anblick: „O Gott, was ist denn mit dir los? Du bist ganz bleich, und geschwitzt bist du auch. Und du riechst … Du machst dich jetzt sauber und gehst ins Bett, während ich die Einladung absage und uns entschuldige.“

Wortlos schloss er wieder die Tür, schälte sich aus seinen Kleidern und stellte sich unter die Dusche. Sehr lange ließ er sich das heiße Wasser über den Körper laufen, ließ den Kopf hängen und stützte sich mit beiden Händen an den Wandfliesen ab. Er trank nicht mehr, jetzt nicht mehr, aber damals … Erinnerungsfetzen, Sorgen um seine Arbeit und Gedanken an seine Frau jagten einander wie in einem Karussell; es drehte sich immer schneller, ohne dass er einen Ausweg fand.

 

Inzwischen war auch Wendt Zuhause angekommen und hatte mit seiner Frau zu Abend gegessen. Heute belastete ihn noch mehr als sonst, sie in ihrem Rollstuhl zu sehen, ihren sorgenvollen Blick zu ertragen, und doch so tun zu müssen, als sei alles in Ordnung. Nachdem sie zusammen einen Spielfilm angesehen hatten, half er ihr, sich fertig zu machen, und brachte sie ins Bett. Er sei noch nicht müde, sagte er ihr, und wolle sich deshalb noch eine Dokumentation anschauen, die ihn interessiere. Er ging zurück ins Wohnzimmer, stellte den Fernseher wieder an und untersuchte innerlich angespannt das fremde Handy. Was wollte der Unbekannte? Er fragte alle Speicherplätze ab, doch außer den Fotos, die er bereits kannte, fand er nichts. Der Anruf, den er vorhin erhalten hatte, war mit unterdrückter Rufnummer erfolgt. Er überlegte, was er tun konnte. Möglicherweise gab es beim Landeskriminalamt Spezialisten, die trotzdem herausfinden konnten, was es mit diesem geheimnisvollen Anrufer auf sich hatte, doch dann hätte er den ganzen Vorfall melden müssen. Dass seine Frau schwer krank war, war allen bekannt, dass er aber hohe Schulden hatte und außerdem ein Alkoholproblem, hatte er – so hoffte er zumindest – bislang erfolgreich verbergen können. Während er noch grübelte, wie er in diese Situation hineingeschlittert war, und vor allem, wie er sich aus ihr wieder befreien konnte, vibriert er erneut das Telefon in seiner Hand. Er nahm das Gespräch schnell an, damit seine Frau wegen des unbekannten Klingeltons keine Fragen stellte.

„Hast du deiner Frau gebeichtet, dass du wieder nicht befördert wurdest? Nein? Natürlich nicht, du hast dich wieder nicht getraut.“

„Lassen Sie mich in Ruhe!“

„Hör doch zu! Ich will dir helfen. Fünfhunderttausend Euro wirst du bekommen, wenn du genau das tust, was ich sage.“

„Was? Fünfhunderttausend?“

„Ja, genau das ist doch ein hübsches Sümmchen, mit dem du bestimmt etwas Sinnvolles anfangen kannst. Das, was du von der Beihilfe bekommst, reicht hinten und vorne nicht. Und deine Krankenversicherung bezahlt nichts mehr; du hast doch bestimmt ihr Schreiben gelesen.“

Wendt schwieg, er wusste von nichts. Ihm wurde ganz flau; er ließ sich gegen die Rückenlehne des Sofas fallen. Seine Frau hatte es offenbar vor ihm verheimlicht.

„Keine Antwort? Also kennst du es noch gar nicht. Dann lies es; ich melde mich wieder.“

Das Gespräch war beendet. Wendt sah sich um, entdeckte aber nur die Fernsehzeitung auf dem Wohnzimmertisch. Mühsam, als wäre er um Jahre gealtert, erhob er sich und schlurfte zunächst in den Flur und von dort in die Küche. Neben dem Kühlschrank lag der Umschlag; es war, wie der Anrufer gesagt hatte: Die Krankenversicherung lehnte weitere Zahlungen ab. Wendt fühlte sich, als sei ihm der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Er hielt sich an der Kante der Arbeitsplatte fest, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf fallen. Lange saß er unbeweglich dort, während seine Gedanken in seinem Kopf kreisten. Erst weit nach Mitternacht schleppte er sich ins Bett, ohne einer Lösung näher gekommen zu sein.

 

Am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit meldete sich der Unbekannte erneut bei Wendt: „Du hast die Absage deiner Versicherung inzwischen gelesen. Wie ich dir sagte, sie hilft dir nicht. Aber ich helfe dir; du musst mir nur einen Gefallen tun!“

„Was erwarten Sie?“

„Du sollst jemanden für mich beseitigen!“

„Sie sind verrückt geworden! Ich bin Polizist. Das kommt überhaupt nicht in Frage; das Gespräch ist beendet!“ Wendt nahm das Telefon vom Ohr.

„Nicht so voreilig! Das hat dich doch früher auch nicht gestört. Du hattest keine Gewissensbisse, Leute um die Ecke zu bringen.“

Wendt zögerte. Dunkel stieg in ihm auf, was er lange verdrängt hatte. Bilder formten sich in seinem Kopf und ließen ihn schaudern. Mit brüchiger Stimme fragte er: „Was soll das heißen? Was wollen Sie?“

„Erinnerst du dich an 15. August 2012?“

„Was?“ Wendt zögerte, die Erinnerung nahm konkrete Formen an.

„Susanne Lehmann.“

Wendts Knie wurden weich, er musste sich an eine Hauswand anlehnen.

„Muss ich noch mehr sagen? Du hattest deine Frau im Krankenhaus besucht. Ihr hattet gerade ihre Diagnose erfahren. Auf dem Heimweg bist du noch in den ‚Goldenen Bären‘ gegangen und hast deinen Kummer ertränkt. Ach was, betrunken hast du dich. Besoffen wie du warst, hast du dich in dein Auto gesetzt und bist heimgefahren. Auf dem Weg hast du die junge Frau angefahren, Susanne Lehmann. Du hast kurz angehalten, bist ausgestiegen und hast nach ihr gesehen. Dann aber bist du wieder eingestiegen und davon gefahren.“

„Ich habe den Rettungsdienst angerufen.“

„Genau, du hast mit unterdrückter Nummer den Rettungsdienst angerufen, aber erst nachdem du dein Auto in der alten Feldscheune deines Vaters versteckt hattest und in den nächsten Ort gelaufen warst. Da war es zu spät. Alles nur, weil du Angst hattest, dass man erfährt, dass du Alkoholiker bist.“

„Wer sind Sie?“

„Das spielt keine Rolle. Bevor die junge Frau starb, hat sie mir dich noch beschrieben und deine Autonummer genannt.“

Wendt schluckte schwer. „Was wollen Sie?“

„Das habe ich gerade gesagt; hör mir gefälligst zu. Warte auf meinen nächsten Anruf!“

Der Anrufer legte auf.

 

Nach dem letzten Gespräch zermarterte Schlechter sich das Hirn. Hätte der Fremde nur damit gedroht, seiner Frau von seiner Freundin zu erzählen oder irgendetwas in dieser Richtung, er hätte damit leben können. Aber sein überwunden geglaubtes Alkoholproblem und die verpatzte Notoperation öffentlich zu machen, kostete ihn alles, worauf er lange Jahre hingearbeitet hatte. Die Chefarztposition wäre er im Handumdrehen los, und er würde gewiss auch keine neue vergleichbare Stelle bekommen, denn solche Meldungen machten blitzschnell die Runde. Seine „guten Bekannten“ mit politischem Einfluss, den er bislang für sich zu nutzen gewusst hatte, würden ihn fallen lassen. Seine Ehe ginge wahrscheinlich auch in die Brüche. Und seiner Freundin weiter auszuhalten, würde er sich nicht mehr leisten können. Aber woher sollte er fünfhunderttausend Euro nehmen?

Schweißgebadet wachte er am nächsten Morgen auf und fühlte sich wie gerädert. Er versuchte, seine Panik zu unterdrücken und sich nichts anmerken zu lassen, als er die beiden für den Folgetag angesetzten Operationen verschob; in seinem Zustand hätte er keinen noch so einfachen Eingriff bewältigt, weitere Fehler konnte und wollte er sich nicht leisten. Der Klinik gegenüber gab er an, krank zu sein, seiner Frau täuschte er vor, zur Arbeit zu fahren.

Tatsächlich riss er sich zusammen und suchte seine Hausbank auf. Zu seiner Überraschung war es viel einfacher als gedacht, das Geld zu beschaffen. Er hatte lange gegrübelt, welchen Verwendungszweck er angeben sollte. Schließlich erzählte er dem Filialleiter, er müsse seinen Bruder ausbezahlen, damit er allein das Eigentum an seinem Elternhaus erwerben könne; danach ging es ganz schnell, wenn auch zu unverschämten Konditionen. Der Banker wunderte sich zwar, dass der Geldtransfer in bar erfolgen sollte, gab sich aber damit zufrieden, dass sein Bruder dies ausdrücklich wünsche.

Kaum hielt er das Geld in seinen Händen, zweifelte er, ob sich der Erpresser damit zufrieden geben würde. Was, wenn er immer mehr wollte? Diese Erkenntnis ließ erneut Panik in ihm aufsteigen. Er war unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Was sollte er tun?

 

Wendt dachte während seiner Schicht ununterbrochen an die Nacht vor acht Jahren. Er reagierte gereizt, sobald er angesprochen wurde; seine Kollegen gingen ihm soweit wie möglich aus dem Weg. Er grübelte. Bei dem Gedanken an den damaligen Unfall und den Tod der jungen Frau wurde ihm übel. Damals hatte er versucht, mit dem Trinken aufzuhören. Vergeblich. Das Elend seiner Frau ließ ihn nicht von der Flasche loskommen. Zwar war alles verjährt, dennoch: wenn jetzt bekannt wurde, dass er im Suff für den Tod eines Menschen verursacht hatte und immer noch trank, war alles aus. Er würde bestimmt aus dem Polizeidienst entlassen werden. Wovon sollte er dann die Schulden und vor allem die Behandlung seiner Frau bezahlen? Aber einen Mord begehen? Für Fünfhunderttausend Euro? Stand das Blutgeld überhaupt noch zur Debatte? Konnte er zum Schein darauf eingehen? Einfach nur das Geld nehmen? Er wusste es nicht.

Abends erhielt er den nächsten Anruf: „Hast du es dir überlegt? Fünfhunderttausend! Niemand erfährt, was du getan hast.“

Wendt zögerte.

„Du brauchst nicht einmal ein schlechtes Gewissen zu haben. Denn du beseitigst das Schwein, dass Susanne Lehmann wirklich umgebracht hat, den Arzt, der die Notoperation versaut hat.“

Wendt schwieg. Noch immer kämpfte er mit sich.

„Du hast nur die eine Chance! Wenn du sie nicht ergreifst, bist du geliefert. Und deine Frau auch!“

 

Am Tag darauf war der Anrufer bereits informiert, dass es Schlechter gelungen war, das Geld zu beschaffen. Das sei doch schon mal ein guter Anfang, hatte er gesagt. In diesem Moment fühlte Schlechter seine Befürchtungen bestätigt, dass es nicht bei dieser einen Zahlung bleiben werde. Vielmehr würde der Erpresser sich wieder melden und immer mehr Geld fordern. Er musste ihm endgültig Einhalt gebieten. Was sollte er nur tun? Wie gelähmt saß er auf einem Parkplatz am Waldrand in seinem Auto und zermarterte sich das Hirn. Wie im Film lief sein Leben vor seinem inneren Auge ab, bis ein Gedanke Gestalt annahm, erst dunkel, dann immer klarer: Als Jugendlicher war er begeisterter Bogenschütze gewesen. Er hatte sich auch an der Armbrust versucht, war jedoch beim Bogenschießen geblieben. Später hatte er fast die ganze Ausrüstung verkauft, doch die Armbrust hatte er in einem Schrank im Keller eingeschlossen, verborgen hinter allerlei Gerümpel. In die Verzweiflung, die ihn quälte, mischte sich die trügerische Erleichterung, vermeintlich eine Lösung gefunden zu haben. Jetzt war er froh, diese Waffe damals nicht auch verkauft zu haben. Um 17:00 Uhr, hatte der Anrufer gesagt, solle die Geldübergabe in der verlassenen Fabrikhalle der alten Ziegelei erfolgen.

 

Auch Wendt hatte die Nachricht erhalten, er müsse um 17:00 Uhr an dem angegebenen Ort sein. Er hatte protestiert, doch der Anrufer war unnachgiebig, erinnerte ihn an seine Trunksucht und verwies auf die „Belohnung“. Das Geld sollte Wendt jedenfalls erhalten, und so hetzte er unmittelbar nach Schichtende zum Ziegeleigelände. Es dämmerte bereits, als er unter erheblichen Kraftaufwand die stählerne Schiebetür aufschob, um das Gebäude zu betreten. Das kreischende Geräusch machte die Hoffnung zunichte, unbemerkt in das Gebäude zu gelangen. Seine Augen mussten sich erst an das schwache Licht gewöhnen, das durch die zerbrochenen Fenster im Dach und in den Seitenwänden herein fiel. Während er sich noch umsah, öffnete sich am anderen Ende der Halle mit einem knarzenden Geräusch eine Tür. Ein Mann trat ein, der in der linken Hand eine bauchige Sporttasche trug. Wendt wunderte sich, dass der Neuankömmling trotz der warmen Temperaturen einen weiten, geöffneten Trenchcoat trug. Er schien etwas in der rechten Hand zu halten, doch Wendt konnte nicht erkennen, was es war.

„Sind Sie der Arzt?“

„Ja! Und Sie? Sind Sie der Polizist von damals?“

Als Wendt bejahte, warf Schlechter ihm die Tasche vor die Füße: „Hier ist das Geld! Das ist eine einmalige Zahlung! Mehr wird es nicht geben, jetzt nicht und auch später nicht!“

„Was soll das denn heißen?“, erwiderte Wendt und bückte sich nach dem Geld.

„Genau das, was ich sagte: Mehr wird es nicht geben!“

Wendt blickte auf und sah wie der andere mit einer Armbrust auf ihn zielte. Mit einem raschen Griff zog er seine Dienstwaffe, als er auch schon einen stechenden Schmerz in seiner Brust spürte. Zwei- oder dreimal schoss er auf Schlechter, traf ihn in den Bauch.

Schemenhaft, wie durch einen Nebel sahen beide wie sich mit schleppenden Schritten eine Gestalt näherte. Undeutlich nahmen sie die Worte wahr, die an sie gerichtet waren: „Nun habt ihr beide bekommen, was ihr verdient habt!“

„Was?“, brachte Schlechter mühsam hervor, während es Wendt nur gelang, den Kopf in die Richtung zu drehen, aus der die Stimme kam.

Der Fremde hustete, hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, auf dem sich rote Flecken bildeten. „Susanne Lehmann war meine Tochter, ihr Verbrecher. Ich hatte gehofft, dass aufgeklärt wird, was wirklich passiert ist, dass ihr erwischt werdet, aber nichts geschah.“

Der alte Lehmann stieg über die beiden am Boden liegenden Schwerverletzten, bückte sich schwerfällig und nahm die Sporttasche mit dem Geld. Im Weggehen drehte sich er noch einmal um und krächzte: „Und wenn es das Letzte war, was mir auf dieser Welt gelingen sollte, das war es wert.“ Ein erneuter Hustenanfall ließ ihn innehalten, bevor er fortfuhr: „Keine Sorge, ich rufe von unterwegs mit unterdrückter Nummer den Rettungsdienst an.“

Langsam schlurfte er zum Ausgang. Kurz verharrte er dort: „Ich glaube aber kaum, dass er noch rechtzeitig kommen wird.“

Das rasselnde Geräusch, das nun folgte, klang nach einem bitteren Lachen, in das sich immer wieder der Husten mischte.

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