LuxundUmbraDreh dich nicht um

Normal
0

21

false
false
false

DE
X-NONE
X-NONE

/* Style Definitions */
table.MsoNormalTable
{mso-style-name:”Normale Tabelle”;
mso-tstyle-rowband-size:0;
mso-tstyle-colband-size:0;
mso-style-noshow:yes;
mso-style-priority:99;
mso-style-parent:””;
mso-padding-alt:0cm 5.4pt 0cm 5.4pt;
mso-para-margin-top:0cm;
mso-para-margin-right:0cm;
mso-para-margin-bottom:10.0pt;
mso-para-margin-left:0cm;
line-height:115%;
mso-pagination:widow-orphan;
font-size:11.0pt;
font-family:”Calibri”,sans-serif;
mso-ascii-font-family:Calibri;
mso-ascii-theme-font:minor-latin;
mso-hansi-font-family:Calibri;
mso-hansi-theme-font:minor-latin;
mso-bidi-font-family:”Times New Roman”;
mso-bidi-theme-font:minor-bidi;
mso-fareast-language:EN-US;}

Verwirrung. Angst. Panik. Wut. Verzweiflung. 

All das durchströmte den Körper der jungen Frau, die mit der geballten Masse an Emotionen kaum umgehen konnte, wie ein Blitzschlag. Während in ihrem Innern ein Sturm tobte, schien sie äußerlich ruhig zu bleiben – was jedoch nur an der Schockstarre lag, in der sie sich seit einigen Sekunden befand. Oder waren es bereits Minuten?

Roxana wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war, seit sie die verdreckte, unangenehm riechende Toilette aufgesucht hatte. Für einen Nachtclub, der in sämtlichen Medien angepriesen und gelobt wurde, nahm man es mit der Hygiene hier offenbar nicht so genau. Andererseits konnte sie sogar Verständnis dafür aufbringen, dass niemand Lust hatte, einer feiernden, grölenden Meute hinterher zu räumen, die im angetrunkenen Zustand jegliche Zielsicherheit und Scham verlor. Es war ein echtes Wunder, dass sie wenigstens eine annehmbare Kabine im Frauenbereich ausfindig gemacht hatte. So viel dazu, dass das weibliche Geschlecht ein reinlicheres Verhalten an den Tag legte.

Trotzdem hatte sie sich auf den Abend gefreut. Nichts von all den irrelevanten Dingen, die ihr ausgerechnet jetzt als eine Art Bewältigungsstrategie durch den Kopf schossen, wäre ihr überhaupt aufgefallen, hätte sie die Kabine einfach wieder verlassen. Normalerweise war sie eine der schnellsten, denn wer verbrachte schon gern mehr Zeit als nötig in verdreckten Räumen? Roxana würde sich nicht als Sauberkeitsfanatikerin bezeichnen, doch wenn möglich vermied sie es, Türklinken, Stangen und Geländer mit der nackten Hand zu berühren. Zudem hatte sie immer etwas Desinfektionsmittel dabei. Man konnte sich also ausmalen, wie unangenehm die Situation für die Brünette war.

Das tiefe Dröhnen des Basses aus dem direkt angrenzenden Tanzbereich drückte auf das ohnehin schon flaue Gefühl in ihrem Magen. Doch sie konnte sich nicht von der Stelle rühren – ihre Beine waren wie Pudding, ihre Atemwege fühlten sich eingeengt an und kalter Angstschweiß breitete sich auf ihren Gliedern aus. Doch obwohl der Rest ihres Körpers sich anfühlte wie eine geleeartige, wabernde Masse, umklammerten ihre Finger den fremden Gegenstand in ihrer Hand so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten.

Warum spielte ihr das Schicksal einen so grausamen Streich? Warum entschloss ausgerechnet sie, die sonst alle fremden Gegenstände nicht mal mit der Kneifzange berühren würde, sich ausgerechnet heute dazu, ein fremdes Handy anzurühren?

Eigentlich kannte sie die Antwort. Ihre Gutmütigkeit verbot es ihr einfach, die Tatsache zu übersehen, dass wahrscheinlich gerade irgendeine Frau verzweifelt nach ihrem Mobiltelefon suchte. Roxana selbst besaß zwar kein Iphone, erkannte jedoch auch so, dass es das neueste Modell war und wahrscheinlich Unmengen gekostet hatte. Spätestens am nächsten Morgen würde die Fremde den Verlust bemerken und wahrscheinlich den Club aufsuchen, weshalb sie es einfach beim Barkeeper an der Theke hatte abgeben wollen.

Doch ihre Freundlichkeit war nun ihre Strafe. Das kleine Gerät war ihr erst ins Auge gefallen, nachdem sie ihr Geschäft bereits verrichtet hatte, da es direkt neben der Spüle gelegen hatte. Ahnungslos und automatisch hatte sie danach gegriffen und es entsperrt, in der Erwartung, irgendeinen nichtssagenden Display-Hintergrund zu sehen. In der heutigen Zeit rechnete niemand mehr damit, dass es noch Leute gab, die ihre privaten Daten nicht durch einen Zahlencode schützten.

Dementsprechend überrascht fiel ihre Reaktion aus, als ihre Finger gar nicht erst auf einen solchen Sperrbildschirm trafen. Verblüffung huschte über Roxanas Gesicht, als sie erkannte, dass sie auf alle Apps Zugriff hatte. Wie konnte man denn so leichtsinnig sein?

Sie sollte ihren Irrtum bald bemerken. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ihr Verstand erkannte, dass alles einem perfiden Plan geschuldet war. Dass nichts hiervon Zufall war. Doch es dauerte dafür umso länger, bis durchsickerte, was das für sie zu bedeuten hatte.

Erst hatte die Brünette das Handy einfach wieder weglegen wollen. Sie war zwar ein durchaus neugieriger und wissbegieriger Mensch, doch fremdes Eigentum zu durchwühlen, gehörte nicht zu ihren Hobbys. Warum sie lang genug zögerte, um sich dagegen zu entscheiden, konnte sie sich selbst nicht erklären – doch leider spielte es dem Verursacher ihres Leids in die Karten.

Ein fehlender Zahlencode war seltsam, aber noch nicht verdächtig. Das ließ sich leicht auf die Naivität der Fremden schieben. Vielleicht handelte es sich auch um eine ältere Frau, die mit Technik noch nicht besonders vertraut war. Andererseits… wozu dann ein so teures Modell?

Verdächtig und dafür verantwortlich, dass Roxana das Handy schließlich doch nicht beiseitelegte, war nur die Tatsache, dass sich auf dem Handy nichts anderes befand als ein paar Standard-Anwendungen. Einstellungen, Kamera, Telefon, Notizen… es wirkte völlig unbenutzt. Nicht eine soziale Plattform war aufzufinden. Kein Facebook, kein Instagram oder Twitter, nicht ein einziger Telefonkontakt war eingespeichert, die Notizen vollkommen leer… ehe sie sich versah, hatten ihre Finger sich über ihren Verstand hinweggesetzt und nun doch das Handy einer Fremden durchwühlt.

Ihr hätte auffallen müssen, dass es zu einfach war. Zu offensichtlich.

Doch so weit dachte sie in dem Moment nicht. Sie würde sich nicht als angetrunken bezeichnen, dazu vertrug sie zu viel und hatte zu wenig getrunken, doch ihre Partylaune und das dämmrige Badezimmerlicht hatten sie unvorsichtig werden lassen.

Als sie probehalber auf die Fotoalbum-App klickte, die jedes Handy besaß, hatte sie längst nicht mehr mit irgendeinem Fund gerechnet. Warum sollte sich ausgerechnet beim letzten Versuch etwas finden?

Ab hier setzten die Gefühle ein, welche Minuten später noch immer wie ein Tornado durch ihren Körper toben sollten.

Verwirrung, als sie erkannte, dass sich sehr wohl Fotos auf dem fremden Handy befanden.

Angst, als sie verstand, wer der Mittelpunkt dieser Fotos war.

Panik, als sie feststellte, dass einige der Fotos erst vor wenigen Minuten entstanden sein konnten.

Wut, als sie sich fragte, was für ein perverses Schwein hinter der ganzen Aktion steckte.

Verzweiflung, als ihr klar wurde, dass dieser Jemand sich noch immer im Club befinden konnte.

Jedes Foto rief mehr Übelkeit in der jungen Frau hervor. Es waren genau dreizehn Bilder. Das Erste von vor etwa einem Monat, wie sie selbst vor ihrer Arbeitsstelle mit einem Kollegen plauderte. Das Zweite zeigte sie beim Einkaufen in ihrem Lieblingsladen, das Dritte, wie sie ihre Wohnung betrat. Es folgten Fotos von ihrer Wohnung selbst, einem kleinen Appartement im dritten Stock, auf dem sogar zu erkennen war, wie ihre Hauskatzen am Fenster hockten und neugierig hinausstarrten. Direkt in die Kamera der oder des Fremden. Inzwischen war ihr klar, dass sie nicht mal das Geschlecht des Täters einstufen konnte – dass sie das Telefon auf einer Frauentoilette gefunden hatte, musste gar nichts bedeuten.

Nur die letzten drei Bilder stammten vom heutigen Abend. Wie sie mit ihren Freundinnen die Tanzfläche unsicher machte. Wie sie auf einem Foto Katharina lachend in die Arme fiel und wie sie zusammen ein paar Drinks genossen, bis sie sich wieder ins Getümmel stürzten.

Sie hatte nicht mal bemerkt, dass kleine Tränen sich in ihren Augenwinkeln gesammelt hatten. Gleichzeitig hatte sie so lange vergessen zu blinzeln, dass ihre Augen sich trocken anfühlten. Zahlreiche Fragen schossen ihr durch den Kopf, doch sie konnte keine davon richtig greifen. Warum? Womit hatte sie das verdient? Wer hätte ein Motiv, sie so zu stalken? Sicher, es gab im Leben eines jeden ein paar Verdächtige – es konnte ein Exfreund sein, vielleicht ein geheimer Neider, den sie irgendwann mal verärgert hatte. Es konnten sogar Arbeitskollegen sein, oder ein echter Stalker, der mit seinem Leben nichts anzufangen wusste.

Doch sicher wusste sie bis jetzt nur, dass der- oder diejenige sie schon seit mindestens einem Monat beobachtete. Wenn nicht sogar länger. Doch erst jetzt verspürte er offenbar den Drang, ihre direkte Aufmerksamkeit einzufordern. Wer auch immer das Iphone so drapiert hatte, konnte nicht nur ein Fremder sein. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie jedes Mal erst alle Kabinen öffnete, bis sie die sauberste gefunden hatte. Er hatte auch gewusst, dass sie ein fremdes Handy nicht einfach ignorieren würde. Wer auch immer dieses Spiel mit ihr spielte, war im Vorteil – denn während er Roxana kannte, hatte sie keinen blassen Schimmer von der Identität des Täters.

Die Brünette war so in Gedanken versunken, dass sie alarmiert zusammenzuckte, als die Tür zum Badezimmer mit einem lauten Knall aufflog. Die Stimmen zwei lallender und kichernder Frauen waren zu hören, welche sich offenbar am Zustand der anderen Toiletten nicht störten und diese trotzdem benutzten.

„Süße, der hat dich mit den Augen ausgezogen! Heute gehst du auf keinen Fall allein nach Hause.“

Roxana verzog das Gesicht. Sie hatte nichts gegen gute Laune und sogar etwas Rumalbern, doch jetzt gerade konnte sie das nicht gebrauchen. Sie brauchte einen klaren Kopf. Und am besten frische Luft, denn langsam breitete sich ein pochender Schmerz in ihren Schläfen aus.

Trotz ihrer zitternden Beine zwang die Brünette sich, das fremde Handy vorerst in ihrem kleinen Täschchen zu verstauen, das an ihrer Hüfte baumelte, ehe sie sich aufrappelte und die Kabine verließ. Selbst jetzt konnte sie ihren Drang nach Sauberkeit nicht ablegen, suchte zuerst das Waschbecken auf und bemühte sich dabei um ein normales Verhalten. Innerhalb weniger Minuten waren sämtliche Besucher des Clubs von Fremden zu Feinden geworden. Sie hatte genug Filme gesehen und Bücher gelesen, um zu wissen, dass sie niemanden ausschließen durfte.

Sie verbot sich dabei jedoch jeglichen Blick in den Spiegel, denn sie wusste, dass die Sorge in ihren eigenen, haselnussbraunen Augen sie nur zusätzlich beunruhigen würde. Wie in Trance ließ sie ihren Körper einfach alle Handlungen automatisch vollziehen und bildete sich dabei ein, das Gewicht des Handys in ihrer Tasche zu spüren, als würde ein zentnerschwerer Stein sie zu Boden reißen.

Als sie endlich die Toilettentür öffnete und die beiden fremden, gackernden Frauen hinter sich ließ, wurde ihr jedoch klar, dass sie rein gar nichts unter Kontrolle hatte. Im Gegenteil – die Panik verschlimmerte sich, als sie sich zwischen schwitzenden, tanzenden Körpern hindurch quetschen musste. Plötzlich erschien kein Anrempeln mehr als Zufall, plötzlich wirkten alle Taten bewusst platziert und geplant. Beobachtete der oder die Fremde sie gerade? Wusste er, dass sie das Handy bei sich trug? Hatte er oder sie vielleicht sogar eine zusätzliche Kamera im Bad versteckt…? Sie musste hier dringend raus, bevor ihre Paranoia schlimmer wurde.

Weiter hinten sah sie Katharina und Alexandra grinsend winken. Während Roxanas Abwesenheit hatten die beiden sich entweder ein paar Männer geangelt, oder deren Aufmerksamkeit von allein bekommen – vermutlich letzteres, denn ihre Freundinnen waren eine Augenweide, jede auf ihre eigene Art. Alexandra mit ihrer schwarzen, kräftigen Mähne, die einem Löwen glich und die mit ihren stechend grünen Augen, sowie ihrem direkten, unverschämten Verhalten oft bei Männern punktete; Katharina, die mit ihrem leuchtend roten Schopf genauso hübsch anzusehen war, bei Konversationen aber lieber auf Scherze und Humor setzte. Roxana selbst fügte sich in ihr Trio mit ihren dunkelbraunen Haaren und ihrem manchmal süßen, manchmal frechen Verhalten perfekt ein.

Trotz ihrer Anspannung ließ der Anblick ihrer beiden Lieblingsmenschen die Brünette lächeln, sodass sie es sogar schaffte, zurückzuwinken. Statt sich zu ihnen zu gesellen, bedeutete sie ihnen jedoch mit einem Fingerzeig, dass sie kurz mal nach draußen verschwinden würde. Sofort stand Sorge ins Gesicht der beiden geschrieben und Katharina wollte bereits aufstehen, doch sie vermittelte ihr kopfschüttelnd, dass das nicht nötig sei. Gerade musste sie dringend allein sein. Es schien ihre Freundin zwar nicht zu beruhigen, was man an ihrem Stirnrunzeln erkannte, doch sie kannte dieses Verhalten von ihr bereits und wusste, dass man sie lieber nicht bedrängen sollte.

Schlussendlich stolperte sie also wenige Minuten später endlich aus dem Club, nachdem sie hatte anstehen müssen, um sich ihre Jacke zu holen. Ruhe hin oder her, die kühle Novemberluft hätte sie ohne ihren dicken Mantel nicht überlebt, denn als Frostbeule fror sie sogar manchmal bei sehr heißen Temperaturen.

Natürlich war sie nicht die Einzige, die sich draußen eine kleine Auszeit gönnte. Hier und da standen vereinzelt ein paar kleine Grüppchen rum, genehmigten sich eine Zigarette oder klopften ihren Freunden tröstend auf den Rücken, wenn sich jemand mit dem Alkoholkonsum etwas verschätzt hatte und nun die Quittung dafür bekam. Auf der einen Seite war es beruhigend, nicht allein zu sein, andererseits bedachte die Brünette jeden Menschen noch immer mit misstrauischen Blicken.

Mit schnellen Schritten nahm die junge Frau daher etwas Abstand, blieb jedoch dicht genug, dass sie immer noch gesehen werden konnte. Auf dem Außengelände waren einige Bänke platziert, von denen sie sich eine auserkor, ihre immer noch wackeligen Beine zu entlasten. Sie würde so zwar schneller frieren, aber anders konnte sie ihre Gedanken gerade nicht durchstehen.

Nun, da sie endlich allein war, konnte sie ihre lächelnde Fassade endlich fallenlassen. Mit zusammengepressten Lippen und einem kleinen Schluchzen beugte sie sich vor und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Für andere sah es wahrscheinlich so aus, als hätte sie drinnen einen Streit gehabt – Hauptsache, sie ließen sie in Ruhe.

Nach einigen Minuten stillen Weinens zwang sie sich schließlich, durchzuatmen. Denken. Sie musste nachdenken. Sie würde bald wieder reingehen und mit ihren Freundinnen sprechen, doch vorher wollte sie abwägen und ausschließen, wer der mysteriöse Stalker sein könnte. Wem hatte sie jemals bewusst Schaden zugefügt? Hatte sie das überhaupt jemals? Natürlich war sie kein Unschuldsengel – niemand war das –, doch hatte sie jemals etwas getan, um so ein krankes Spielchen zu verdienen?

Ihr sollte keine Zeit zum Nachdenken vergönnt sein.

Zum zweiten Mal an diesem Abend zuckte sie schockiert zusammen, dieses Mal jedoch durch ein deutlich leiseres Geräusch als das einer aufschlagenden Tür. Was sie wirklich schockierte, war nicht das Geräusch selbst, sondern das damit verbundene Vibrieren.

Das Vibrieren eines Handys.

Wieder saß sie einige Sekunden erstarrt da, unfähig, etwas zu tun. Dieses Mal zwang sie sich jedoch schneller wieder zur Ruhe, denn noch bestand die Hoffnung, dass es nur ihr eigenes Handy war, das sie gerade so erschreckt hatte. Vielleicht hatten Katharina oder Alexandra ihr eine Nachricht gesendet. Wahrscheinlich machten sie sich Sorgen. Alles andere ergab keinen Sinn, denn auf dem fremden Handy war nicht ein einziger Kontakt gespeichert.

Ihre Hoffnung wurde schnell wieder zerstört. Nicht das Display ihres eigenen Handys leuchtete auf, als sie zitternd den Verschluss ihrer Tasche öffnete und darin wühlte – sondern das Display des fremden Telefons. Sie erkannte nur ein paar wenige Zeilen, doch sie ließen ihr das Blut in den Adern gefrieren.

 

2013. Klassenfahrt. Italien. Klingelt da was bei dir, Roxana?

 

Roxana. Ihr Name. Nun hatte sie den direkten Beweis, dass sie sich all das nicht nur einbildete, dass es nicht versehentlich die falsche Person getroffen hatte. Der Beweis, dass der oder die Fremde es gezielt auf sie abgesehen hatte.

Einer intuitiven Eingebung folgend hob die Brünette den Blick, doch sie konnte niemanden erkennen, der nicht schon beim Verlassen des Clubs vor dem Eingang gestanden hatte. Niemand sah auch nur in ihre Richtung oder beachtete sie.

Man konnte ihr wohl nicht verdenken, dass sie paranoid wurde. Als sie sicher war, dass niemand sie beobachtete, hefteten ihre Augen sich wieder auf den kleinen Bildschirm. Erst jetzt sickerten die Worte so richtig zu ihr durch.

Klassenfahrt 2013. Italien. Wer auch immer ihr Peiniger war, er schien sie nicht nur zu beobachten, sondern hatte offensichtlich ein persönliches Problem mit ihr. Die Nachricht war ein Hinweis auf dieses Problem, doch obwohl es in ihrem Kopf ratterte, bekam sie den entscheidenden Gedanken einfach nicht zu fassen.

Die Klassenfahrt war schon Jahre her und sie erinnerte sich nicht an jedes Detail, glaubte aber zu wissen, dass es eine sehr schöne Zeit gewesen war. Schon damals waren Katharina, Alexandra und sie ein unzertrennliches Trio gewesen. Generell hatte sie großes Glück mit ihrer Schulklasse gehabt, denn es hatte eigentlich niemanden gegeben, mit dem sie wirklich ein Problem gehabt hätte. Selbst ihren Klassenlehrer hatten die Mädchen geschätzt, denn er war ein höchst aufmerksamer, wissbegieriger und lockerer Mensch gewesen. Er hatte sich nicht mal quergestellt, als die Mädchen darauf bestanden hatten, ein Zimmer zu dritt zu bekommen.

Wieder riss ein kurzes, schnelles Vibrieren in ihrer Hand sie aus ihren Gedanken.

 

Du hast dich damals nicht umgedreht.

 

Verwirrung stand in ihren haselnussbraunen Augen, als sie die Buchstaben anstarrte, welche nicht so recht einen Sinn ergeben wollten. Die Lösung war da, sie spürte es – als würde eine Tür Bewusst- und Unterbewusstsein voneinander trennen; als würde die Erklärung, nach der sie so verzweifelt suchte, unnachgiebig anklopfen.

Und dann drückte sie die Klinke runter.

Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Plötzlich lag die Lösung glasklar vor ihr, sodass sie sich fragte, wie sie es nicht gleich hatte erkennen können.

Umgedreht. Sie hatte sich nicht umgedreht.

Sie hatte sich nicht umgedreht, als sie die Türklinke in ihrem Rücken gehört hatte.

Sie hatte sich nicht umgedreht, als sie die tiefe Stimme gehört hatte, die ihrer Freundin versicherte, dass es schnell vorbei sein würde.

Sie hatte sich nicht umgedreht, als sie Alexandras Wimmern gehört hatte, die sich aus Scham nur halbherzig und leise gewehrt hatte, ehe sie in Schockstarre verfallen war. Genau wie Roxana selbst.

Sie hatte sich nicht umgedreht, als ihr Klassenlehrer, der eine Vorbild- und Schutzfunktion für so junge Mädchen haben sollte, ihre Freundin vergewaltigte.

Direkt neben ihr.

Sie hatte vorgegeben zu schlafen, nichts mitzubekommen, hatte die Augen im wahrsten Sinne vor den Tatsachen verschlossen und gebetet, dass es bald vorbei sein würde. Die ganze Nacht über, selbst dann, als es vorbei war und er das Zimmer wieder verlassen hatte, hatte sie kein Auge mehr zugetan, den Atem angehalten und gewartet. Gewartet, ob Alexandra zu ihr kommen würde, ob sie mit ihr sprechen würde – doch selbst am nächsten Morgen hatte sie nichts davon getan. Ihre Freundin hatte offenbar beschlossen, das Geschehene zu verdrängen – und Roxana hatte es geschehen lassen, in der Hoffnung, dass sie vielleicht nicht mal bemerkt hatte, dass sie überhaupt wach gelegen und alles mitbekommen hatte. Nun wusste sie, dass sie sich all die Jahre über geirrt hatte.

Bis zum heutigen Tag hatte keiner von ihnen ein Wort darüber verloren. Lang genug, dass sie irgendwann alles verdrängt hatte, bis die Erinnerung nur noch in ihrem Unterbewusstsein existierte. Ihre Freundin jedoch schien nichts davon jemals vergessen zu haben. Hatte sie gewartet? Hatte sie sie im Stillen irgendwann zu hassen begonnen? Wann waren Zuneigung und Angst in Hass und Rache umgeschlagen? Eine andere Person kam nicht infrage, denn niemand sonst wusste von ihrem kleinen Geheimnis: Dass sie ihre Freundin feige im Stich gelassen und sich selbst überlassen hatte. Nicht mal Katharina wusste davon, denn wie ihre Freundinnen am nächsten Morgen erfahren hatten, hatte diese ihre Nacht glücklicherweise im Zimmer ihres damaligen Schwarms verbracht.

 

Warum hast du dich nicht umgedreht?

 

Ihre Sicht begann zu verschwimmen, als sie nächsten Worte nur noch wie durch einen Schleier wahrnahm. Ihr Verstand hatte inzwischen alle Puzzleteile zusammengesetzt, ihr Herz jedoch wollte es noch nicht recht verstehen. Alexandra war keine fünf Minuten entfernt von ihr, sie konnte sie sofort zur Rede stellen. Doch ihr Körper weigerte sich, fesselte sie an Ort und Stelle.

Sie konnte nicht wissen, wie nah ihre Freundin, die sich nun als Feindin entpuppte, inzwischen tatsächlich war. Sie konnte nicht wissen, wie groß ihr Hass war. Wieder schien ihr Körper es intuitiv von allein zu spüren, denn ohne erkennbaren Grund sträubten sich ihre Nackenhärchen und pure Panik strömte durch ihre Adern.

Doch sie rührte keinen Finger, bewegte sich keinen Millimeter, als die leisen, knirschenden Schritte aus der Gasse hinter ihr ertönten. Genau wie damals hielt sie den Atem an, schloss die Augen und wagte es nicht, sich zu rühren. Sie hatte kein Recht dazu, denn schon damals hatte sie nichts getan, um das Leben eines anderen zu schützen. Warum also sollte es bei ihr selbst anders sein?

Hätte das Handy nicht vibriert, hätte Roxana die Augen in ihren letzten Momenten nicht mehr geöffnet. Doch als hätte sie geahnt, dass die letzte Nachricht ihres Lebens ihre ganz persönliche Strafe sein sollte, öffnete sie ihre Lider und starrte auf die weiß leuchtenden Buchstaben, welche im Kontrast zur völligen Dunkelheit standen, die sie kurz darauf umgeben sollte. 

 

 

„Ich begreife das alles einfach nicht!“

Katharinas Stimme war belegt, fast schon rau durch die ganzen Tränen, welche sie inzwischen vergossen hatte. Vor nicht mal einer halben Stunde war ihre Welt noch in Ordnung gewesen – nun lag sie in Scherben. Vor nicht mal einer halben Stunde hatte sie einen perfekten, freudigen Abend mit ihren beiden wichtigsten Menschen verbracht – nun hatte sie beide auf einen Schlag verloren.

Dem kräftig gebauten Mann vor ihr war anzusehen, dass er seinen Job schon einige Jahre machte, denn trotz ihrer Trauer behielt er die Ruhe und verzog keine Miene. Sein Gesicht lag im Halbschatten und wurde nur teilweise vom bläulichen Licht der Polizeisirenen erhellt, doch es war klar zu erkennen, dass er sie so ausdruckslos musterte, dass sie nicht einen einzigen Gedanken seinerseits erraten konnte.

„Es tut mir leid, aber es ist eine reine Routineuntersuchung, dass wir diese Befragung durchführen. Außerdem schien Ihre Freundin ihren Mörder gekannt zu haben.“

Mit verschränkten Armen und am ganzen Leib zitternd suchte Katharina den verdreckten Parkplatz am Rande des Clubs mit den Augen nach Alexandra ab. Wo zur Hölle steckte sie? Wie sollte sie ihr all das hier erklären, ohne selbst daran zu zerbrechen? Es war allein dem Schutzmechanismus des Körpers zu verdanken, dass sie nicht auf der Stelle durchdrehte. Doch in ihrem Innern sah es anders aus.

„Wie kommen Sie darauf?“, fragte sie mit tonloser Stimme, darum bemüht, nicht die Fassung zu verlieren.

Wortlos hielt der Kommissar ein kleines, durchsichtiges Tütchen hoch. Es dauerte einige Sekunden, bis Katharina den Gegenstand darin erkannte: ein schwarzes, blutverklebtes Handy, auf dessen Display drei kleine, unscheinbare Worte zu erkennen waren.

 

Dreh dich um.

 

 

One thought on “Dreh dich nicht um

Schreibe einen Kommentar