Ricarda1305Du bist es

 

                                             Du bist es

 

Es ist fünf Minuten vor Mitternacht, die Straßen der Stadt sind wie leergefegt, es regnet und ist kalt.

 

Leon joggte durch die Nacht um den Tag hinter sich zu lassen. Er hatte zehn Stunden im Büro verbracht, telefoniert, Geschäftspartner empfangen und im teuren Anzug wichtige Hände geschüttelt, in einem Meeting neuen Vorschlägen gelauscht und dann stieg er in sein Auto und fuhr nach Hause. Dort angekommen, nahm er die Krawatte ab, gönnte er sich ein Glas Whiskey und starrte aus dem Fenster.

 

Der Regen hinterlässt seine Spuren an der Scheibe. Leon atmete laut, er war nicht glücklich, jeder Tag glich dem Anderen und er fühlte sich wie ein Roboter. Er ging sogar samstags und manchmal auch sonntags ins Büro um sich abzulenken. Denn da war dieses Schuldgefühl, jeden Morgen beim Aufwachen und jede Nacht beim Einschlafen. Es war auch den ganzen Tag da, mal mehr, mal weniger, aber es war immer da.

 

 

 

Die Straßenlaternen flackerten in dieser Nacht besonders wild und Leon beschloss beim nächsten Treppeneingang eine Stretching-Pause einzulegen. Er lief auf die Treppe der Hausnummer 13 zu und sah auf der untersten Stufe etwas liegen. Es war ein Handy und er konnte nicht widerstehen, er musste es aufheben. Er blickte zu den Fenstern rauf, alle waren dunkel. Er nahm die Stufen nach oben und schaute auf die Klingelschilder. Warum er das tat, wusste er nicht, es war ein Instinkt dem er folgte. Aber kein Name kam ihm bekannt vor und weit und breit war kein Mensch zu sehen, der dieses Handy vielleicht eben erst verloren haben könnte. Leon dachte, wie kann man nur sein Handy verlieren, die ganze Welt kann ohne diese technische Errungenschaft nicht mehr leben und er selbst gehörte auch zu den Menschen, die ohne ihr Handy verloren wären. Termine, Geburtstagserinnerungen, Fotos, Videos und irgendwie sein ganzes Leben waren in seinem Handy und es käme einem Weltuntergang gleich, wenn er es verlieren würde. Er steckte dieses Handy ein und nahm sich vor, es am nächsten Tag bei der Polizei abzugeben. Sein Stretching hatte er vergessen, er lief direkt durch die Nacht nach Hause.

 

Am frühen Morgen wurde er wach, als es klingelte, aber dieser Klingelton kam ihm nicht bekannt vor. Müde schob er die Bettdecke beiseite, stand auf und machte sich auf die Suche nach diesem Geräusch. Es kam aus seinem Sweater, den er beim Joggen anhatte, es kam von dem Handy, dass er gestern gefunden hatte. Auf dem Display leuchtete ihm „Private Nummer“ entgegen, er drückte aus Reflex das grüne Hörersymbol und sagte: „Hallo.“ Keine Antwort, nur Rauschen und Rascheln, dann wurde aufgelegt. Leon fragte sich, warum er an dieses Handy gegangen war. Er starrte es an, als sei es eine giftige Substanz und widerstand dem Gefühl, es einfach in die Ecke zu werfen. Aber dann siegte die Neugierde und er stellte fest, dass da jemand so fahrlässig war und tatsächlich keinen Sicherheitscode eingegeben hatte, um den Inhalt des Handys zu schützen. Leon hatte Zugriff auf alles, das Telefonbuch, die Nachrichten, die Fotos und beim Durchblättern redete er sich selber ein, er sei nur auf der Suche nach einem Indiz für den Besitzer, um ihm das Handy zurück geben zu können. Als er den Foto-Ordner öffnete, stockte ihm der Atem. Es war nur ein einziges Foto zu sehen und dieses eine Foto zeigte ihn. Leon – wie er sich in einem Flughafengebäude befindet, mit einem Rucksack auf seinem Rücken. Die Tafel mit den Ankunfts- und Abflugzeiten war deutlich zu erkennen. Leon konnte kaum atmen, er rannte zum Fenster und riss es auf, er brauchte dringend frische Luft. Nachdem er ein paar Mal tief ein und aus geatmet hatte, sagte er sich immer wieder, dass das nicht wahr sein kann und starrte auf dieses eine Foto von sich.

 

                               

 

                                             Fünf Jahre früher

 

 Es war ein Freitag, um die Mittagszeit und Leon hatte beschlossen, Feierabend zu machen, er freute sich auf das Wochenende und Sarah. Sie hatten nichts geplant, vielleicht würden sie einfach einen guten Film sehen, eine Pizza bestellen und sich etwas Ruhe gönnen. Er machte sich auf den Heimweg und fand Sarah schlafend im Bett vor. Sie arbeitete als Krankenschwester und die wechselnden Schichten machten ihr immer mehr zu schaffen. Nach einem Nachtdienst, hatte sie frei und musste danach wieder in den Frühdienst wechseln. Sie war oft müde und freute sich immer unglaublich über ein freies Wochenende.

 

Er ließ sie schlafen, zog seine Sachen aus und gönnte sich eine heiße Dusche und dann duschte er nochmal kalt. Das härtet ab und ist gesund wird immer wieder gesagt, Leon interessierte das nicht, er liebte es einfach einmal diese himmlische Wärme auf seinem Körper zu spüren und dann diese eisige Kälte. Als er fertig war, betrachtete er sein Spiegelbild und war sehr zufrieden mit dem, was er sah.

 

Sarah schlief immer noch und er legte sich zu ihr, aber er konnte nicht schlafen, er fing an zu grübeln, über sein Leben und er stellte sich auch immer mal wieder die Frage, ob er glücklich ist. Glücklich mit dem was er hatte und ob er glücklich wird, wenn er sich seine Träume erfüllen würde. Sarah und er hatten leider unterschiedliche Vorstellungen von ihrer Zukunft. Sie wünschte sich einen anderen Beruf ohne Schichtarbeit und kranken Menschen und irgendwann auch Kinder. Er träumte von einer Weltreise, ihn faszinierte die Ferne und das Fremde. Sarah hatte diese Abenteuerlust leider nicht, sie verreiste auch gerne, war aber froh, nach spätestens vierzehn Tagen wieder zu Hause zu sein in ihrer bekannten Umgebung. Beide schoben ihre Träume so vor sich her und hatten noch nichts dafür getan, sie Wirklichkeit werden zu lassen. Sarah fehlte die Energie sich nach ihrer Arbeit noch an den PC zu setzten, nach Jobs zu schauen und Bewerbungen zu schreiben. Leon wollte mit der Planung einer Weltreise nicht anfangen, weil er wusste, er würde dann auch einfach starten und es schlich sich doch so ein Gefühl ein, dass das wohl das Aus für seine Beziehung wäre. Diese Weltreise sollte mindestens ein Jahr dauern und er wusste, Sarah verstand ihn und gönnte es ihm auch, aber sie hatte auch unmissverständlich klargemacht, dass sie kein Jahr auf ihn warten würde. Leon war gelegentlich ehrlich zu sich selbst und fragte sich, ob ihm die Weltreise mehr bedeutete oder seine Beziehung. Doch er wusste, dass er die Antwort nur zu gut kannte, er lag hier neben Sarah und hatte noch nichts für seinen Traum getan.

 

 

 

Als Leon wieder aufwachte, war es schon später Abend und Sarah war im Bad, denn er hörte die Dusche. Er stand auf, zog sich etwas Bequemes an und setzte sich vor den Fernseher. Sarah kam nach einer halben Stunde aus dem Bad, hatte ihre nassen Haare in ein Handtuch gewickelt und zu einem Turban gedreht, sie trug ihren roten Bademantel und setzte sich zu ihm auf die Couch. Ein flüchtiger Kuss erreichte seine Wange und dann kam die Frage:

 

„Pizza oder Sushi?“

 

„Pizza und haben wir noch einen Wein oder müssen wir den mitbestellen?“

 

„Ich weiß nicht so genau, ich glaub, ein Rotwein ist noch da. Musst Du halt mal nachsehen, Leon.“

 

Sie sagte Leon, nicht Schatz oder Hase und es fiel ihm auf, Männer achten auf solche Feinheiten für gewöhnlich eher nicht, aber sein Name war wie ein kleiner Dolch, der sich in sein Herz bohrte und er schob es darauf, dass Sarah mit sich selbst und ihrem Leben nicht im Reinen war. Ihn überkam auf einmal die Frage, ob sie wohl glücklich ist, wenn schon nicht mit ihrem Leben, dann vielleicht wenigstens mit ihm?

 

 

 

Leon ging in die Küche und wollte nachsehen, ob es noch Wein gab. Er fand die Flasche Rotwein und machte sie auf. Er nahm zwei Gläser aus dem Küchenschrank und ging ins Wohnzimmer zurück. Sarah blätterte in einer Zeitschrift, legte sie hin und schaute ihn an. Dann drang ein Satz an sein Ohr, den er ganz schrecklich fand:

 

„Leon, wir müssen reden. Wir müssen da mal was besprechen, was mir auf der Seele liegt und ich habe lange überlegt, ob und wie ich es sage, wir haben auch sonst kaum die Zeit mal in Ruhe etwas zu besprechen, aber ich habe jetzt das Gefühl, wenn ich es nicht sage, dann platze ich.“

 

Fast wäre ihm nach dieser Ansage die Weinflasche aus der Hand gerutscht, aber er konnte sie halten. Wortlos setzte er sich hin, stellte die Gläser und die Weinflasche auf den Tisch und drehte sich zu Sarah hin, er wollte wissen, was sie ihm zu sagen hatte.

 

„Leon, ich habe wirklich lange überlegt, ob ich die Größe, die Liebe, den Respekt habe, Dir das jemals zu sagen, aber ich denke, es ist richtig. Ich weiß, dass Du schon ewig auf diese Weltreise gehen möchtest und ich kann diesen Wunsch sogar irgendwie nachempfinden, auch wenn es mich selbst so überhaupt nicht reizt. Wir sind noch jung, wir haben keine Kinder, kein Haus, keine Schulden und ich denke, wenn Du Deinen Traum noch Tag für Tag und Jahr für Jahr verschiebst, dann machst Du diese Weltreise gar nicht mehr und eines Tages wirst Du mir das vorwerfen. Ich habe wirklich lange mit mir gerungen und überlegt, wie ich damit klarkommen könnte, aber dann habe ich versucht, das Ganze positiv zu sehen, ich habe auch noch Wünsche und Träume und möchte diese umsetzen und ich will nicht sagen, dass Du mir dabei im Weg stehst, aber ich glaube, ich komme leichter an mein Ziel, wenn ich Zeit für mich habe. Ich bin nach meinen Schichten zum Teil körperlich und auch psychisch manchmal sehr erschöpft und dann möchte ich gemeinsame Zeit mit Dir verbringen, weil wir nun mal ein Paar sind. Es bleibt wenig Zeit für mich selbst. Ich möchte auch nicht, dass wir uns trennen, ich möchte, dass wir uns als Paar verabschieden, wenn Deine Reise losgeht und ich möchte, den Kontakt halten, wenn Du unterwegs bist, aber ich möchte nach Deiner Rückkehr das wir uns zusammensetzen und über diese Zeit reden. Wir werden nicht mehr die Personen sein, die wir jetzt sind, wir werden uns, unsere Meinungen, unsere Ansichten, vielleicht auch unsere Charaktere verändern. Wir lernen auch sicher andere Menschen kennen, mit denen wir Zeit verbringen und egal, was passiert, ich möchte dann das wir ehrlich zueinander sind und uns sagen, was wir fühlen und ob jeder für sich der Meinung ist, dass wir auch nach dieser Zeit immer noch ein Paar sind oder wieder zusammenfinden können.“

 

Leon saß stumm da, mit so einer Ansage hatte er nie und nimmer gerechnet und er goss sich ein Glas Rotwein ein und trank es in einem Zug aus.

 

„Ich … ich … ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll …“ stammelte Leon vor sich hin.

 

„Ich … ich muss das erstmal sacken lassen.“

 

Dann goss er sich nochmal ein Glas Rotwein ein und überlegte, was das alles zu bedeuten hatte.

 

 

 

Leons größte Angst kam auf leisen Sohlen angeschlichen, die Angst einem Menschen bedingungslos zu vertrauen wie einem Bruder, einen Menschen abgöttisch zu lieben, wie eine Frau, für einen Menschen die Hand ins Feuer zu legen, sich mit diesem Gefühl sicher zu fühlen und dann enttäuscht zu werden. Aber es war mehr die Enttäuschung über sich selbst, weil man sich dann so sehr in einem Menschen geirrt hat. Deshalb schossen Leon auch Tausend Fragen im Kopf umher, wie: Woher kommt ihr plötzlicher Sinneswandel? Für wen will sie so viel Zeit haben? Was will sie sich noch für Träume erfüllen? Warum trennt sie sich nicht, so wie sie es immer angedeutet hat? Könnte sie bei einem anderen Mann schwach werden? Überdauert unsere Liebe diese Zeit? Warum rückt sie jetzt damit heraus? Was will sie wirklich damit bezwecken? Gibt es jetzt schon einen anderen Mann? Wird sie mir fehlen? Will ich noch auf diese Weltreise gehen?

 

Ich versteh diese Welt nicht mehr … und diese Frau auch nicht.

 

„Das kommt jetzt irgendwie sehr plötzlich, weil Du mir doch immer gesagt hast, ich soll es tun, aber Du gibst dann keine Garantie für unsere Beziehung ab und Du hast auch mal gesagt, dass sich dann unsere Wege vorher trennen werden.“

 

„Leon, versteh mich nicht falsch, ich gebe immer noch keine Garantie für unsere Beziehung ab, aber ich gebe uns die Chance, es heraus zu finden. Ich habe da auch eine Sache, die ich für mich machen möchte, die etwas Zeit kostet und ich habe auch immer gesagt, ich verstehe Deinen Traum, also warum startest Du nicht?“

 

                                          

 

                                           Vier Jahre früher

 

 Leon hatte ein paar Tage nach dieser Ansage von Sarah beschlossen, dieses Angebot anzunehmen und angefangen seine Weltreise zu planen. Er ging in ein Reisebüro um sich Tipps zu holen, er recherchierte im Internet und er hatte über ein Portal jemanden angeschrieben, der auf Weltreise war, davon berichtet hatte und er bekam Antworten und auch jede Menge Ideen und Anregungen. Leon hatte sich um die komplette Ausrüstung gekümmert und auch versucht, so Sachen zu bedenken, wenn er unterwegs krank werden würde oder ob er sein Englisch nochmal auffrischen sollte.

 

Regensachen, Sonnencreme, ein Zelt, Schlafsack und eine Matte, Duschgel, Waschmittel für unterwegs, Zahnbürste, ein Englisch-Wörterbuch für den Fall der Fälle und Nähzeug, Sicherheitsnadeln, ein Taschenmesser, eine Trinkflasche, er hatte an vieles gedacht und dann die Route, wo wollte er eigentlich starten und wo wieder ankommen. Dann war da auch noch die finanzielle Geschichte. Leon hatte immer gutes Geld verdient und sich außer seinem Auto und gelegentlich ein paar teuren Anzügen und einem guten Restaurant-Besuch nicht viel gegönnt. Sarah verdiente in ihrem Job nicht so viel Geld, die Zuschläge für Nachtschichten und Wochenenden machten ein bisschen was her. Aber Sarah war nicht mit dem klassischen Shopping-Gen der Frauen ausgestattet und zog selten los, um sich etwas Schönes zu kaufen. Laufende Kosten waren die Miete, die Nebenkosten und sein Auto, die Handy- und Internetkosten und die erzwungene GEZ-Gebühr – Leon fragte sich immer mal wieder, warum man sich nicht dagegen gewehrt hatte, dass einem diese Kosten aufgezwungen wurden und nachdem es Pflicht war, die entsprechenden Fernsehsender erstmal mit einer großzügigen und sicher mehr als teuren Umgestaltung ihrer Sendestudios begonnen hatten. Da fließen im Jahr unverschämt viele Milliarden an Geldern hin, das Fernseh-Programm hat inzwischen ein nicht mehr zu unterbietendes Niveau erreicht, ist langweilig und im Zeitalter von Streaming-Diensten sicher ein immer seltener genutztes Tool und wenn man ehrlich ist, nervt sicher jeden die Werbung, die lediglich als Toilettenpause einen guten Zweck erfüllt -.

 

 

 

 

 

Ein ganzes Jahr Zeit kostete ihn die Planung und die Organisation für die Reise seines Lebens, wie er es nannte. Ein ganzes Jahr.

 

Trotzdem hatte er das Gefühl, etwas vergessen zu haben, etwas das er unterwegs brauchen würde, aber auf seiner Liste war hinter allen Sachen ein Haken gesetzt, er hatte nichts vergessen.

 

 

 

 

 

 

 

                                          Drei Jahre früher

 

Dann kam der große Tag der Abreise, Leon wollte zuerst nach Amerika. New York und Los Angeles, vielleicht ein Abstecher nach Las Vegas. Er hatte zwar eine grobe Routenplanung, aber er hatte auch Zeit für spontane Ideen und Wünsche eingerechnet.

 

Sarah bestand darauf ihn zum Flughafen zu bringen. Sie wollte diesen Abschied ganz bewusst und er hatte auch keine Lust auf eine Taxi-Fahrt. Während der Autofahrt schwiegen sie, so wie sie auch im letzten Jahr viel geschwiegen hatten, Leon war sehr mit seiner Planung und Organisation beschäftigt, besonders die finanzielle Abwicklung mit Sarahs Gehalt hatte ihm ein paar schlaflose Nächte bereitet. Sie hatte ihm angeboten für ein Jahr die Miete und Nebenkosten allein zu zahlen, die laufenden Kosten für sein Auto wollte er weiter übernehmen, auch wenn Sarah jetzt damit fuhr. Sie hatte ihr altes Auto verkauft und fuhr jetzt seinen Wagen, damit er nicht einrostet, wie sie es nannte. Sarah machte auch ihr eigenes Ding, durch ihre wechselnden Schichten wusste Leon manchmal gar nicht so genau, ob sie gerade arbeitet oder etwas Anderes unternahm, denn sie war selten zu Hause. Oder kam ihm das jetzt auf einmal nur so vor? War sie nicht früher immer so erschöpft von ihrer Arbeit? Egal, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt sich über so etwas Gedanken zu machen, er erfüllte sich gerade seinen Traum und wie ihre Beziehung das überstehen würde, stand eh in den Sternen.

 

 

 

Sarah parkte auf dem teuren Flughafenparkplatz und er fragte:

 

„Willst Du noch mit reinkommen? Hier kostet eine halbe Stunde parken drei Euro.“

 

„Ja, ich will mit reinkommen, ich möchte noch jede Sekunde mit Dir bewusst aufsaugen und Dich so in Erinnerung mitnehmen, wie ich Dich kenne.“

 

Er stieg aus und ging zum Kofferraum, nahm seinen Rucksack, der die nächsten Monate sein treuer Begleiter sein würde und lief mit Sarah zum Eingang. Im Flughafen angekommen, suchten Sie die großen Tafeln mit den Ankunfts- und Abflugzeiten. Als sie davorstanden, schaute Leon nach seinem Flug über den großen Teich. Er hatte ihn gefunden und drehte sich zu Sarah um, die aber nicht mehr an seiner Seite war. Suchend blickte er sich um, sie stand ein paar Meter entfernt und hatte ihr Handy in der Hand.

 

„Lächeln.“ rief sie und drückte ab.

 

Sie machte ein letztes Foto von ihm, in dem Flughafengebäude vor den Informationen mit den Ankunfts- und Abflugzeiten und er hatte seinen Rucksack auf dem Rücken.

 

                                             Zwei Jahre früher

 

Leon genoss sein Abenteuer in vollen Zügen. Es gab so viel zu sehen und zu entdecken, dass er abends müde in sein Zelt oder gelegentlich in ein Hotel-Bett fiel. Er sehnte sich immer nach einer Dusche und gönnte sich deshalb ab und zu ein Hotel. In seinem Budget war das mit eingeplant, er wollte nicht jede Nacht auf dem harten Boden von Mutter Natur schlafen.

 

Er reiste von Kontinent zu Kontinent, von Land zu Land, von Stadt zu Stadt und saugte all diese Erlebnisse mehr und mehr in sich auf. Bis er in Indonesien gelandet war, er wollte an diesen Ort, um irgendwie seinen inneren Frieden zu finden.

 

Leon hatte einen Zwillingsbruder, Lukas. Sie waren die tollsten Brüder füreinander seit Kindesbeinen an, sie lachten und stritten und versöhnten sich, sie teilten sich ihr Spielzeug und ihr Pausenbrot, nur die Frauen, die teilten sie sich nicht. Lukas hatte Sarah zuerst kennengelernt, er musste ins Krankenhaus, weil ihm der Blinddarm entfernt wurde und es kam, wie es kommen musste, er verliebte sich in Sarah. Sie mochte Lukas sehr, aber mehr als Freund und da Lukas ein sehr feinfühliger Mensch war, beschloss er diese Freundschaft zu akzeptieren. Er hatte Leon von Sarah erzählt und wie sehr er sich verliebt hatte, er fragte ihn um Rat, als er nicht mehr weiterwusste und diese Freundschaft weh tat. Leon hatte ihm geraten, Sarah nichts zu sagen, denn er wusste aus eigener Erfahrung, dass nach einem Liebesgeständnis die Freundschaft danach oft in die Brüche ging. Die Person, die nicht verliebt war, sah die Person, die verliebt war, dann mit anderen Augen und jede zufällige Berührung, jeder flüchtige Begrüßungskuss, jede Umarmung zum Abschied wurde irgendwie skeptisch beäugt. Die Person, die nicht verliebt war, hatte auch irgendwie Angst, dass jeder Kontakt der Person, die verliebt war, sie oder ihn unglücklich machen würde. Die Person, die nicht verliebt war, hatte auch Bedenken, das die Person, die verliebt war, es erst Recht nicht verkraften würde, wenn eine Beziehung ins Spiel käme. Dann hätte man so ein ungutes Gefühl, von einer neuen Bekanntschaft zu erzählen, dabei ist man doch gerade dann so euphorisch und möchte sein Glück in die Welt herausschreien. Man ist nicht mehr so offen, erzählt immer weniger und hat schließlich irgendwann auch ein beklemmendes Gefühl, was zur Folge hat, dass man den Kontakt reduziert und eines Tages ist die Freundschaft eingeschlafen und Geschichte.

 

Lukas hatte sich an Leons Rat gehalten und nichts gesagt, er war der Freund, der immer ein offenes Ohr hatte, mit dem man Spaß haben und feiern konnte. Auf einer Party ist es dann auch passiert, Sarah wollte nicht allein los und ihre Freundin hatte keine Zeit, also fragte sie Lukas. Er hatte Zeit und begleitete sie, ohne zu ahnen, dass dieser Abend sein Leben verändern würde. Er würde zum ersten Mal in seinem Leben ein Gefühl kennenlernen, von dem er bisher nicht wusste, dass er dazu fähig war. Es war der Hass.

 

 

 

Lukas und Sarah standen in der Küche und unterhielten sich mit Anderen, als die Tür aufging und Leon hereinkam. Lukas und Leon begrüßten sich und es entging Lukas nicht, wie wundervoll Sarah Leon anblickte und er lächelte sie so charmant an, dass er sie einander nicht vorstellen brauchte, sie hätten eh nicht mehr zugehört. Dass sich beide auf Anhieb nett fanden, war nicht zu übersehen. Sie fingen an, sich zu unterhalten und Lukas kam sich bald wie das fünfte Rad am Wagen vor. Er ging wortlos ins Wohnzimmer und später verließ er wortlos die Party. Er war wütend, er war sauer, er war alles, vor allem enttäuscht, Leon wusste doch von seinen Gefühlen für Sarah, warum hielt er da nicht den nötigen Abstand, weil sie eine Familie waren?

 

 

 

Lukas war so verletzt, dass er sich weder bei Leon, noch bei Sarah meldete, doch eines Tages als Leon wieder einmal anrief, um zu fragen, was los ist, riss ihm der Geduldsfaden und er brüllte ins Telefon:

 

„Das fragst Du noch? Als Du auf der Party aufgetaucht bist, war ich abgeschrieben. Ich habe Dir mein Herz ausgeschüttet und Du flirtest gleich mit Sarah drauf los. Du bist meine Familie und da tut man so was nicht!“

 

„Aber Lukas, Lukas, ich hatte doch keine Ahnung, dass das Sarah ist. Wir haben uns namentlich gar nicht vorgestellt und ich dachte auch, Du bist langsam aber sicher, darüber hinweg. Wir haben uns auch nicht verabredet und keine Telefonnummern getauscht.“

 

Schweigen.

 

„Wie? Ihr habt Euch gar nicht vorgestellt?“

 

„Wir dachten, wir kennen uns und haben einfach drauf losgequatscht bis wir festgestellt haben, wir haben uns geirrt, dann haben wir gelacht und nach Dir gesucht, aber da warst Du schon weg und hast Dich seither nicht mehr gemeldet.“ 

 

„Wenn ihr Euch nicht vorgestellt habt, woher wusstet ihr dann, dass ihr euch geirrt habt?“

 

 

 

Leon schwieg, denn er hatte gelogen.

 

Als Lukas die Party wortlos verlassen hatte, hatte er eine leise Vorahnung und stellte sich vor, Sarah nannte ihren Namen und er verdammte die Situation. Er wusste nun, dass sie die Frau war, in die sich Lukas verliebt hatte, aber Sarah wusste nicht, das Leon und Lukas Zwillingsbrüder waren. Lukas hatte ihr schon von seinem Zwillingsbruder erzählt und Sarah hatte erwartet, dass sie sich ähnlichsehen würden und gescherzt, dass sie seinen Zwillingsbruder auf jeden Fall erkennen würde. Leon war dunkelhaarig und der wilde Charmeur, Lukas war dunkelblond, trug eine Brille und war sehr emphatisch. Nie im Leben wäre Sarah darauf gekommen, dass Leon der Zwillingsbruder war und Leon schwieg und traf sich mit Sarah. Auch er verliebte sich in Sarah und Sarah verliebte sich in Leon. Obwohl er wusste, dass es eine unglückliche Situation war, konnte er nichts gegen seine Gefühle tun. Er hatte ein schlechtes Gewissen, aber redete sich ein, Lukas würde eines Tages darüber hinwegkommen. Man kann ja niemanden zwingen, sich zu verlieben und wenn bei einer Person keine Gefühle da waren, musste man erwachsen genug sein, diese Situation zu akzeptieren.

 

Vor lauter Verliebtheit vergaß er seinen Bruder für einige Zeit, versuchte ihn dann aber immer mal wieder anzurufen. Als er endlich an sein Telefon ging, log er. Leon schwieg gegenüber Sarah und dieses Geheimnis, hatte er bis jetzt nicht lüften müssen.

 

 

 

Lukas hatte Leon und Sarah eines Tages in einem Restaurant durch die Glasscheibe gesehen und gewusst, dass sein Zwillingsbruder gelogen hatte. Er hatte gesehen, wie sie sich zärtlich an den Händen hielten und wie sie sich anschauten. Lukas wusste, dass diese Situation für ihn unerträglich war, denn zum Liebeskummer kam die menschliche Enttäuschung. Sein eigener Zwillingsbruder belog und betrog ihn. So fasste er den Entschluss auf Weltreise zu gehen, es war ein überstürzter Plan, aber er sah keinen anderen Ausweg. Eine Woche brauchte er um sich seine Ausrüstung zu kaufen, seine Route zu planen und alles zu organisieren. Er reichte bei seinem Arbeitgeber ein „Sabbat-Jahr“ ein, klärte mit seinem Vermieter, die Miete für ein Jahr zu überweisen, verschenkte seine Grünpflanzen an seine verdutzte Nachbarin und schrieb Leon eine Nachricht, dass er Abstand braucht, weil er enttäuscht ist und nun eine lange Reise macht. Er war auch so ehrlich zu schreiben, dass er Leon und Sarah kein Glück wünschen könnte, weil es nicht ernst gemeint wäre und er schrieb, dass er trotzdem Leon in seinem Handy als Kontaktperson angegeben hatte, wenn etwas sein sollte und jemand informiert werden musste.

 

 

 

Dieser Anruf, den man nicht erhalten wollte, kam eines Tages, eine Polizei-Station meldete sich aus Indonesien. In gebrochenem Englisch wurde ihm mitgeteilt, dass es vor zehn Wochen einen Tsunami gegeben hätte und sein Bruder seitdem als verschollen galt. Er war in einem Hotel als Gast registriert und es hätte so lange gedauert, jemanden ausfindig zu machen, den man informieren könne. Ob er soweit alles verstanden hätte, wurde Leon auch noch gefragt und er hatte mit: „Yes.“ geantwortet. Es gäbe aktuell keine Leiche und keine Gewissheit, aber wenn sich daran etwas ändern würde, würde man ihn erneut kontaktieren. Dann wurde aufgelegt und Leon war froh, zu Hause zu sein und diese Nachricht verdauen zu können. Er hatte in den Nachrichten von diesem schrecklichen Tsunami gehört und dass viele Menschen vermisst wurden oder umgekommen sind. Aber er hatte bis zu dem Anruf keine Ahnung, wo Lukas gerade war, seit dieser Nachricht, hatte er nichts mehr von ihm gehört. Da ihn sein schlechtes Gewissen gelegentlich quälte und er trotzdem sein Glück mit Sarah genießen wollte, war er traurig und froh zugleich mit Lukas keinen Kontakt mehr zu haben. Er redete sich ein, dass das nur eine vorrübergehende Situation war und sich das Ganze nach seiner Rückkehr wieder einrenken würde.

 

Nun würde es keine Versöhnung mehr geben und Leon würde sein Geheimnis nie mit Sarah teilen müssen, denn Lukas konnte es nicht mehr verraten.

 

 

 

Leon wollte zu dem Ort reisen, an dem der Tsunami gewütet hatte und wo das Hotel stand, in dem Lukas gewohnt hatte. Von dem Hotel war natürlich nichts mehr übrig, aber es wurde in der Zwischenzeit ein neuer Hotel-Komplex gebaut und an die Naturkatastrophe erinnerte nur eine große Gedenktafel.

 

Er ging zur Rezeption und fragte nach einem Zimmer für fünf Nächte oder mehr, denn er wollte hier länger bleiben. Er wollte die ganze Geschichte um Lukas Revue passieren lassen und wie es so weit kommen konnte, dass sie keinen Kontakt mehr hatten. Ihre Eltern lebten nicht mehr und sie waren für sich die Familie.

 

Leon plagten an diesem Ort ganz heftige Schuldgefühle und das erste Mal seit all den Jahren stellte er sich die Frage, ob diese Geschichte es wert war, seinen Zwillingsbruder zu verlieren. Vielleicht gibt es nach seiner Rückkehr die Beziehung zu Sarah nicht mehr und er hatte das Gefühl, dass er dann Lukas umsonst verloren hätte. Denn wenn er nichts mit Sarah angefangen hätte, wäre Lukas nicht auf Reisen gegangen und wäre nicht zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Aber andererseits wäre aus Lukas und Sarah auch so kein Paar geworden und Lukas musste irgendwann damit abschließen.

 

Was war die richtige Antwort auf all diese Fragen?

 

Leon hoffte, hier etwas zu finden, was ihm Seelenfrieden brachte. Und vielleicht Antworten.

 

 

 

Aber es passierte nichts, er streifte durch das Hotel, den Ort, rastlos, ruhelos und schlief jeden Abend mit denselben Fragen ein, ohne eine Antwort zu finden. Leon fühlte etwas, was er noch nie zuvor gefühlt hatte und das war pure Einsamkeit. Er kam sich verlassen vor und dachte, es wäre nur die gerechte Strafe. Aber Strafe wofür eigentlich? Er hatte seinem Zwillingsbruder nicht die Freundin ausgespannt, denn sie waren nie ein Paar, aber er hatte seine Gefühle mit Füssen getreten. Fakt ist, einer von ihnen hätte so oder so leiden müssen, entweder Lukas bis sein Liebeskummer vorbei gegangen wäre oder Leon, weil er verliebt war und es nicht ausleben durfte. Wessen Glück war denn mehr wert? Wer hatte mehr ein Recht darauf?

 

Je mehr er an diesem Ort grübelte, kam er zu dem Entschluss, auch hier gab es keine Antworten, keinen inneren Frieden und er beschloss, am nächsten Tag abzureisen.

 

Diesen letzten Abend wollte er ein bisschen zelebrieren und ging in ein Restaurant, er wollte sich ein gutes Essen und einen guten Wein gönnen. Nachdem er gerade die Bestellung aufgegeben hatte, klingelte sein Telefon und da das selten passierte, denn Sarah und er telefonierten wenig miteinander, nahm er schnell ab. Was er dann zu hören bekam, ließ ihn sein Essen vergessen und ins Hotel zurückkehren, er packte seinen Rucksack, checkte aus und nahm ein Taxi Richtung Flughafen.

 

Seine Weltreise war in diesem Moment beendet.

 

 

 

                                                Ein Jahr früher

 

Leons Weltreise hatte über ein Jahr gedauert und er wusste nicht, ob Indonesien sowieso seine letzte Station gewesen wäre, er hatte sich treiben lassen und wusste manchmal nicht welcher Wochentag gerade war.

 

Er hatte ewig am Flughafen warten müssen, es gab keinen Direktflug und so dauerte es noch mal fünf Tage bis er wieder zurück war. Als er wieder festen Boden unter den Füssen hatte, wusste er gar nicht, wo er hinfahren sollte, er entschied sich für die nächste Polizei-Station und als ihn ein Beamter fragte, was er für ihn tun könne, brach Leon einfach zusammen.

 

 

 

Als er wieder zu sich kam, sah er die weiße Decke eines Krankenzimmers und fühlte sich benommen. Er hatte einen pelzigen Geschmack im Mund und war schlapp. Erinnern konnte er sich auch nicht, was passiert war. Leon machte die Augen wieder zu und wollte gerne weiterschlafen, aber da ging die Tür auf und eine Krankenschwester kam herein.

 

Leon schlug die Augen wieder auf.

 

„Hallo, ich bin Schwester Rosi, wie geht es Ihnen?“

 

„So lala. Ich glaub, ich habe Durst.“

 

Schwester Rosi nahm einen Becher vom Tisch und füllte ihn mit Wasser. Dann fuhr sie das Oberteil vom Bett etwas hoch und stützte Leon, bevor sie ihm den Becher an den Mund führte und ihm half, etwas zu trinken.

 

„Können Sie sich an etwas erinnern?“ fragte sie dann.

 

„Nein, nicht so wirklich.“

 

„Sie waren auf einer Polizei-Station und sind dort zusammengebrochen. Der Polizei-Beamte hat einen Krankenwagen gerufen und so sind Sie hier gelandet. Wir haben schon ein paar Tests gemacht, um herauszufinden, was Ihnen fehlt. Ruhen Sie sich einfach noch ein bisschen aus, ich sage dem Arzt Bescheid.“

 

„Was habe ich denn?“

 

„Das wird Ihnen der Arzt mitteilen.“ sagte sie und verschwand aus dem Zimmer.

 

 

 

Leon döste wieder ein und schrak hoch, als er angesprochen wurde und ein großer Mann an seinem Bettende stand.

 

„Hallo, ich bin Doktor Weil. Wie geht es Ihnen?“

 

„So lala.“

 

„Gut, ich will es kurz machen. Sie hatten einen Zusammenbruch und wir haben Sie untersucht, um die Ursache zu finden. Ein großes Blutbild und ein EKG haben nichts ergeben, sie waren so erschöpft, dass Sie fast die ganze Zeit geschlafen haben.“

 

„Was … was habe ich?“

 

„Wir würden Sie gern zur Beobachtung hierbehalten und noch ein paar Dinge abklären, aber aktuell kann ich sagen, dass wohl Ihre Psyche Schuld ist, an dem Zusammenbruch. Hatten Sie Stress in letzter Zeit?“

 

Stress, ja Stress hatte Leon.

 

Er war auf den Pfaden seines Zwillingsbruders gewandert und hatte versucht seine Schuldgefühle an diesem Ort zu lassen, was ihm nicht gelang und als er gerade versuchte sich damit abzufinden, kam dieser Anruf. Leon erinnerte sich wieder.              Er erinnerte sich an jedes einzelne Wort.

 

 

 

 

 

„Hallo Leon. Ich bin es. Lukas. Und ich wollte Dir sagen, Sarah ist tot.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Diese Worte hallten immer noch nach und er hatte damals nur noch gehandelt, ohne großartig darüber nachzudenken. Er hatte gepackt, ausgecheckt und war zum Flughafen gefahren, er hatte diese Worte nicht glauben können und wollte einfach nur nach Hause, um der ganzen Sache auf den Grund zu sehen.

 

Er fühlte sich, wie in einem schlechten Traum und hoffte immer noch, daraus aufzuwachen, aber er lag im Krankenhaus und erinnerte sich.

 

Es war kein Traum und er wollte nach seiner Rückkehr eine Polizei-Station aufsuchen und nachfragen, was mit Sarah geschehen war. Aber dazu kam es nicht mehr, es war alles zu viel für ihn und er war zusammengebrochen. Nun hoffte er darauf, dass er nicht mehr allzu lange hierbleiben musste und bald klären konnte, was passiert war.

 

Als Schwester Rosi ins Zimmer kam, sagte er:

 

„Schwester Rosi, darf ich Sie was fragen?“

 

„Natürlich dürfen Sie.“

 

„Haben Sie in letzter Zeit etwas über einen Mord an einer jungen Frau gehört oder etwas darüber gelesen?“

 

Schwester Rosi zog eine Augenbraue hoch und sagte leicht verwundert:

 

„Nein, habe ich nicht, aber ich lese auch kaum Zeitungen und sehe auch schon lange keine Nachrichten mehr. Man weiß ja, dass nur gesendet wird, was man glauben soll.“

 

„Schwester Rosi, wo ist eigentlich mein Handy?“

 

Leon kam die Idee in seinem Handy nach dem letzten Anruf zu schauen, ob er wirklich von Lukas Nummer kam. Aber er fühlte sich noch zu schlapp, um das Rätsel zu lösen und sagte sich, dass er erst wieder auf die Füße kommen musste.

 

 

 

Leon blieb noch drei Tage im Krankenhaus, wurde durchgecheckt und man fand nichts. Er kam wieder zu Kräften und durfte nach Hause. Dorthin wollte er aber nicht, denn er hatte Angst, was ihn erwarten würde. Wenn es stimmte, dann würde ihn dort alles an Sarah erinnern, aber dafür war er nicht bereit. Also nahm er sich ein Taxi und fuhr wieder zur Polizei-Station. Leon sprach den Beamten an:

 

„Entschuldigen Sie bitte, ich habe eine Frage. Mein Name ist Leon Borky, ich war über ein Jahr auf Weltreise und bin jetzt zurück. Ich habe einen Anruf erhalten von meinem Zwillingsbruder, der eigentlich erst als verschollen galt und später tot erklärt wurde und er sagte mir, dass meine Freundin Sarah Franz tot sein. Können Sie mir etwas dazu sagen?“

 

„Ihre Freundin Sarah Franz? Verwandt sind Sie demnach nicht. Können Sie sich ausweisen?“

 

„Ja, ich habe hier meinen Ausweis und meinen Reisepass. Bitte.“

 

„Ihr Ausweis reicht. Danke.“

 

Der Beamte nahm den Ausweis und verschwand. Er machte eine Kopie und gab Leon dann den Ausweis zurück. Am PC gab er Sarahs Namen ein und bestätigte ihm, was er nicht hören wollte.

 

„Sarah Franz ist in einen Autounfall verwickelt gewesen und hat schwere Verletzungen davongetragen. Im Krankenhaus ist sie verstorben. Das Auto war nur noch ein Schrothaufen. Die Kennzeichen waren kaum lesbar, wir haben erst später den Halter ermittelt. Das Auto gehörte einem Lukas Borky.“

 

Leon erstarrte.

 

„Waaaaasssss? Meinem Bruder, also meinem Zwillingsbruder gehörte das Auto? Er war auf Reisen und in Indonesien, als dort ein Tsunami alles zerstörte, er galt als verschollen und später habe ich ihn dann für tot erklären lassen. Bevor er auf Reisen ging, hatte er kein Auto. Das kann also nicht sein.“

 

„Es tut mir leid, aber das ist der Name des Halters.“

 

„Können Sie mir vielleicht auch eine aktuelle Adresse geben?“

 

„Nein, das kann ich nicht.“

 

„Aber wie soll ich dann die ganze Geschichte um meinen Zwillingsbruder klären?“

 

„Fragen Sie beim Einwohnermeldeamt oder heuern Sie einen Privat-Detektiv an.“

 

 

 

Leon hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, aber keine Adresse oder andere Anhaltspunkte in Erfahrung bringen können, die ihm etwas zum Verbleib seines Zwillingsbruders gesagt hätten.

 

 

 

                                               Jetzt

 

 Leon lag auf der Couch und erinnerte sich.

 

Als ihm der Polizei-Beamte damals mitgeteilt hatte, er könne ihm keine weiteren Informationen geben, war Leon nach Hause gefahren.

 

Dort sah alles aus, als hätte Sarah die Wohnung nur mal kurz verlassen und wollte gleich wiederkommen, im Bad lag der Föhn und ein Handtuch über der Badewanne, auf der Couch lagen ein paar Klamotten, in der Küche stand ein benutztes Glas.

 

Leon hatte erstmal eine heiße Dusche genommen und sich dann in Bett gelegt. Er war müde und konnte nicht schlafen. Nach drei qualvollen Stunden des Grübelns und des Nichtverstehens stand er wieder auf und nahm sich ein Glas Whiskey. Aus dem einen Glas wurde die ganze Flasche und das setzte sich einige Tage so fort.

 

Leon überlegte sich professionelle Hilfe zu holen, aber dann sagte er sich, dass er es auch alleine schaffen würde.

 

Er begann Sarahs Sachen Stück für Stück aus jedem Zimmer zusammen zu suchen und in große Tüten zu füllen. Er schrieb Bewerbungen und bekam einen Job. Er kaufte sich ein neues Auto und entschied sich für eine neue Wohnung. Er wollte nochmal von vorne anfangen und alles hinter sich lassen.

 

Nach ein paar Monaten schlich sich eine gewisse Normalität ein, aber die innere Leere konnte Leon nicht ausfüllen. Ebenso wenig verschwanden die Schuldgefühle. Er fühlte sich jetzt nicht nur schuldig an Lukas Verschwinden, sondern auch an Sarahs Tod. Da er nicht aufklären konnte, warum Sarah in einem Auto ums Leben gekommen war, bei dessen Besitzer es sich um Lukas handeln sollte, tat er es als Irrtum der Polizei ab.

 

 

 

Zur Ablenkung von all den trübsinnigen Gedanken hatte er das Joggen für sich entdeckt und war so ehrgeizig jeden Abend nach einem mehr als langen Arbeitstag noch laufen zu gehen. Egal wie spät es war.

 

Bis zu jenem Abend als er ein Handy fand und das Bild, das ihn zeigte. An seinem Abreisetag, an dem Tag, als er Sarah das letzte Mal gesehen hatte. Aber wie war dieses Bild von Sarahs Handy auf ein fremdes Handy gelangt und warum hatte er es gefunden?

 

Dieses Bild löste alle Schuldgefühle in ihm aus, die er hatte und vielleicht wusste das jemand und wollte ihn emotional quälen, aber wer?

 

 

Leon stand immer noch am Fenster und rang nach Luft. Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, rief er bei der Arbeit an und meldetet sich krank. Dann lief er in der Wohnung auf und ab und starrte immer wieder auf dieses Handy. Es blieb sechs Stunden stumm, dann klingelte es wieder. Leon nahm ab und schrie förmlich:

 

„Hallo, hallo, wer ist da?“

 

Schweigen. Rauschen. Rascheln.

 

„Hallo, hallo, sag was. Hallo Lukas. Du bist es!”

 

Schweigen. Rauschen. Rascheln.

 

“Hallo Leon, ja ich bin es. Bist Du überrascht?“

 

„Ja, irgendwie schon und irgendwie nicht. Mir wurde mitgeteilt, dass Du seit dem Tsunami in Indonesien vermisst wurdest und ich habe Dich Monate später für tot erklären lassen. Aber ein tiefes Gefühl in mir, hat das angezweifelt. Wieso ist Sarah in Deinem Auto ums Leben gekommen? Warum hast Du Dich nicht eher gemeldet, wenn Du noch lebst? Was soll das alles?“

 

Schweigen, Rauschen. Rascheln.

 

„Ich will Dir all Deine Fragen beantworten, aber der Reihe nach. Ja, ich war in Indonesien in dem Hotel, aber an dem Tag als der Tsunami kam, war ich dreihundert Kilometer entfernt. Ich wollte einen Buddhistischen Tempel besuchen, von dem gesagt wird, dass man dort seinen Seelenfrieden finden kann. Dort wollte ich drei Tage bleiben und dann wieder ins Hotel zurückkehren. Da mir das Tasche packen auf den Geist ging, habe ich nicht ausgecheckt, sondern bin mit leichtem Gepäck gereist. Da der Tsunami dort das Hotel verwüstet hat und ich noch als Gast registriert war, galt ich dann wohl als verschollen.

 

Zu dem Zeitpunkt war ich noch immer sehr wütend auf Dich und immer noch verliebt in Sarah. Also habe ich beschlossen, die ganze Sache für Dich nicht aufzuklären.

 

Ich bin länger in diesem Tempel geblieben und habe mit meiner Geschichte abgeschlossen, ich habe Dir und Sarah verziehen. Als ich dann wieder zurückgereist bin, habe ich den Kontakt zu Sarah gesucht und ihr alles erzählt. Sie wiederum hat mir erzählt, dass sie keine Ahnung hatte, dass wir Zwillingsbrüder sind und dass ich so in sie verliebt war. Es tat ihr leid. Wir sind Freunde geworden und an dem Tag, als sie den Autounfall hatte, hat sie mein Auto gefahren, weil ich mir einen alten Mustang gekauft habe und das war ihr Lieblingsauto. Sie war auf den Weg zu ihrem neuen Job und ich habe ihr mein Auto für drei Tage geliehen, sie war glücklich.“

 

Leon hörte sprachlos zu, er kam sich immer noch vor, wie in einem Traum.

 

„Und … und … und was sollte das mit dem Handy und dem Foto?“

 

„Sarah hat mir das Foto gezeigt, als sie mir von Deiner Weltreise erzählt hat. Ich bat sie, es mir zu schicken, um ein Bild von Dir zu haben und das hat sie getan. So bin ich an das Foto gekommen. Als Sarah dann den Autounfall hatte, wurde ich natürlich informiert und habe Dir diese Information auch mitgeteilt. Ich habe gewusst, dass Du dann zurückkommen würdest, weil jeder nach so einer Nachricht zurückkommt. Ich kenne jemanden vom Flughafenpersonal, der mir Bescheid gegeben hat, dass Du zurück bist und seitdem habe ich Dich beschatten lassen. Irgendwann hast Du ja angefangen, regelmäßig joggen zu gehen und hattest Deine feste Laufstrecke. Da kam mir die Idee mit dem Handy und Deinem Foto und ich habe es auf dieser Treppe deponiert.“

 

Leon hatte sich hingesetzt, ihm war schwindelig von all den Worten, die er nicht realisieren konnte.

 

„Aber … aber warum hast Du das mit dem Handy gemacht und Dich nicht einfach so bei mir gemeldet?“

 

„Das wäre doch zu langweilig gewesen, ich dachte, einen kleinen Schreck könntest Du vertragen und Dir ruhig ein bisschen den Kopf zerbrechen.“

 

„Ja, das ist Dir geglückt, der Schreck war aber riesengroß. Das war irgendwie nicht fair von Dir.“

 

„Fair, ach Leon, was ist schon fair.“

 

Ein kurzes Schweigen machte sich breit.

 

„So nun weißt Du alles, jetzt haben wir genug in der Vergangenheit gewühlt. Wie ich es ja schon erwähnt hatte, habe ich Dir verziehen und hoffe, wir fangen neu an. Ich habe mir ein neues Auto gekauft, eine Corvette, was ja Dein Lieblingsauto ist und als Friedensangebot möchte ich es Dir für drei Tage leihen.“

 

One thought on “Du bist es

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