LarryDu hättest nicht herkommen sollen

Lebensmüde. Im Nachhinein erkennt sie, dass ‘lebensmüde’ ihren damaligen Zustand am besten beschreibt. Sie war am Boden gewesen, wollte ihr Leben nicht mehr weiterleben. Das war vor einem halben Jahr.

Ich hab’s wirklich geschafft, ich habe einen Neuanfang gewagt, nach allem. Zufrieden legt sich Helena auf ihre neue Couch. Ein großer Fortschritt zu dem alten staubigen Ding, das sie bis vor drei Tagen noch besessen hatte. Sie muss häufig noch darüber nachdenken, was sie verloren hat. Der Kontrast zu heute könnte größer nicht sein. Sie hatte wirklich überlegt alles aufzugeben, doch der Neuanfang war geschafft und nun hieß es nach vorne schauen. Zum Glück war sie noch nicht ganz so weit im Abgrund ihrer Gedankenspirale gefangen gewesen. Gedankenspirale, diesen Begriff hatte sie mal in einem Podcast über positives Denken gehört und darüber nur die Augen verdrehen können. Und nun ergab er für sie sehr wohl einen Sinn, denn genau das war ihr Problem gewesen. Sie steckte fest, konnte ihren sich im Kreis drehenden Gedanken nicht entfliehen. Doch Helena, scheinbar nun Experte im positiven Denken, hat sich aus dieser Gedankenspirale befreien können. Wer hätte das vor einem halben Jahr gedacht. Sie selbst wohl am wenigsten. Andere hätten an ihrer Stelle aufgegeben, da ist sich Helena sicher, doch nicht sie. Sie hat Mut bewiesen. Nach diesem Schicksal hat sie es geschafft weiterzumachen. Der Umzug in eine neue Stadt, neuer Job, neue Freunde. Hier konnte er sie niemals finden.

Helena streckt die Füße aus und macht es sich bequem. In letzter Zeit verbringt sie ihren wohlverdienten Feierabend gerne mit Meditation. Dadurch kann sie den Alltagsstress hinter sich lassen und einfach abschalten. Wobei sie sich momentan nicht wirklich beklagen kann. Ihr Job macht ihr viel Freude, die Kollegen sind nett, Freunde hat sie auch sehr schnell gefunden. Alles wunderbar. Helena muss grinsen. Dass der Neuanfang in einer Kleinstadt 400km von ihrer Heimat entfernt so leicht wird, hatte sie nicht erwartet. Da kennt sich doch jeder, da wird nur getratscht, da ist es schon die Topschlagzeile des Jahres, wenn im Gemüseladen an der Ecke eine Tüte Paprika geklaut wird. Der berühmte Sack Reis in China, die üblichen Klischees halt. Aber Helena wurde positiv überrascht. Die Menschen waren alle von Anfang an zuvorkommend, freundlich, offen, und auch sehr viele jüngere Menschen in ihrem Alter lebten hier.

Helena schaut auf die Uhr. 20 Minuten, das reicht jetzt für heute, denkt sie und steht von der Couch auf. Normalerweise genügen ihr 15 Minuten, heute hat sie eben ihre Gedanken noch etwas schweifen lassen, aber jetzt wird es wirklich Zeit für eine anständige Mahlzeit. Gerade als Helena zum Kühlschrank geht, freudig hoffend, dass sich darin auch etwas Brauchbares befindet, klingelt es an ihrer Haustür. Ein kurzer Blick nach unten: okay, Jogginghosen ohne Flecken, kein BH, aber bei dem weiten Shirt geht das in Ordnung, so kann ich die Tür öffnen. Ein ihr unbekanntes Gesicht steht vor selbiger und lächelt unsicher. „Hi… ähm… hi also ich w-w-w-wollte nur kurz hallo sagen. Weil ich… also ich bin gerade oben eingezogen. Ich heiße Lola.“ Helena blickt in ein hübsches Gesicht, umrahmt von kurzen braunen Haaren. Das Outfit der Fremden lässt Helena ihre eigene Kleiderwahl doch noch einmal kurz überdenken, aber jetzt ist es eh zu spät. Die Unbekannte trägt durchsichtige Strümpfe, einen schwarzen eleganten A-Linien-Rock, der ihre überaus langen Beine sehr gut zur Schau stellt, und eine hübsche Bluse in tiefblau, die die Farbe ihrer Augen betont. Helena bemerkt, dass sie nun schon viel zu lange schweigend dasteht und beginnt mit: „Hi. Ich bin Helena, schön, dass du vorbeikommst”. Darauf weiß die Fremde wohl nichts zu sagen, scheinbar ist sie auch nicht gerade der gesprächige Typ. Helena fragt sich, warum sie dann überhaupt vorbeischaut. Sofort gehen die Alarmglocken an und ihr altes Misstrauen wird geweckt. Helena legt schon die Hand an die Tür und möchte mit einem lockeren “gut also, man sieht sich” das Gespräch beenden, da ergreift der unerwartete Besuch das Wort. “Tut mir leid, ich kann ein bisschen eigentümlich wirken, wenn ich jemand Neues kennenlerne. Genau das ist mein Problem. Ich bin eben neu hier und möchte gerne so schnell es geht Anschluss finden, und ich dachte bei den Nachbarn anzufangen, sei eine gute Idee. Vielleicht können wir mal einen Kaffee trinken zusammen. Also…”, sie zögert kurz und schaut verlegen zur Decke, “ich hätte auch jetzt Zeit.” Mit diesem regelrechten Redeschwall hatte Helena jetzt auch nicht gerechnet. Aber langsam geht ihr Puls doch wieder nach unten. Von dieser komplett unsicheren Person scheint ja doch keine Gefahr für mich auszugehen. Helena zögert noch einen Moment und prüft ihr Gegenüber mit einem, wie sie hofft, unauffällig abschätzenden Blick, gibt sich dann aber einen Ruck und meint schließlich: “na gut, kannst gerne einen Moment hereinkommen. Kaffee trinke ich zwar nicht, aber ich hab welchen da.” “Sowas. Jemand, der keinen Kaffee trinkt. Das habe ich ja noch nie erlebt.”, murmelt Lola während sie über die Türschwelle tritt. “Das höre ich andauernd”. Helena rollt mit den Augen. Was es mit der Kaffeesucht so gut wie aller Menschen auf sich hat wird sich ihr nie erschließen. “Geh doch schon mal vor, da vorne rechts geht es in mein Wohnzimmer. Ich komme gleich mit deinem Kaffee nach.” Helena macht sich in der Küche daran ihre eingestaubte Kaffeemaschine in Gang zu bringen und das alte billige Ding erwacht langsam mit einer Geräuschkulisse wie man sie sonst nur beim Start eines Flugzeuges erlebt – so kommt es Helena zumindest vor – zum Leben, und Helena bereitet den Kaffee zu. Sie wirft einen Blick in ihren Schrank – zum Glück noch Zucker, Süßstoff und Milch da. Helena kommt nicht umhin doch noch einmal über das plötzliche Erscheinen dieser Lola nachzudenken. Sie war ewig nicht mehr so misstrauisch ihren Mitmenschen gegenüber gewesen. Diese Angewohnheit hatte sie eigentlich abgelegt, lebte sie doch mittlerweile immerhin bereits seit einem halben Jahr hier, in ihrem neuen Leben. Doch irgendetwas an Lola hat dieses Misstrauen wieder geweckt. Helena kann es nicht benennen. Ach Blödsinn … ich habe jetzt ein neues Leben. Ich möchte nicht mehr in ständiger Angst leben. Diese Paranoia muss ein Ende haben! Was soll schon passieren?! Helena schüttelt den Kopf, in der Hoffnung damit auch diese zweifelnden Gedanken loszuwerden, stellt den Kaffeebecher zusammen mit Milch, Zucker und Süßstoff auf ein Tablett und begibt sich damit ins Wohnzimmer. Lola hat sich auf der Couch niedergelassen und blickt auf, als Helena das Zimmer betritt. “Super schöne Wohnung hast du. Ist vom Schnitt her auch ein bisschen größer als meine.” Helena stellt das Tablett ab und erwidert: “Danke. Ich bin auch sehr zufrieden hier. Ist eine ruhige Nachbarschaft und man kann seine Ruhe haben, wenn man möchte. Aber bis zur Innenstadt ist es auch nicht weit.” Helena setzt sich auf ihren Lieblingssessel, den sie normalerweise nur für ihre abendlichen Lesestunden nutzt, und blickt zu Lola. Diese beginnt direkt wieder draufloszusprechen. Scheinbar hat sie ihre anfängliche Schweigsamkeit schnell abgelegt… Helena, lass diese Nachdenklichkeit, alles ist gut. War sie eben am Anfang etwas verunsichert. Mist, jetzt hab ich nicht zugehört. Lola bemerkt scheinbar in diesem Moment auch, dass Helena mit den Gedanken nicht bei der Sache ist, denn sie zieht ihre Stirn in Falten und schaut Helena abwartend an. “Entschuldige bitte, ich hab gerade eben noch mein Meditationsprogramm gemacht, danach bin ich immer etwas in Gedanken. Ich reiße mich jetzt zusammen, ich versprech’s!” Helena zieht eine Grimasse und hofft mit dieser spontanen, aber immerhin wahrheitsgetreuen Ausrede, Lola überzeugen zu können. “Na gut, das verstehe ich. Mediation mache ich auch gerne, und mir geht es danach auch oft so. Ich wollte eigentlich nur ein paar Dinge über dich wissen, seit wann du hier wohnst, wo du herkommst und was dich in diesen kleinen Ort verschlagen hat. Scheinst dich ja gut auszukennen.” Lola greift mit diesen Worten nach ihrer Kaffeetasse und nimmt den ersten Schluck, danach schaut sie Helena gespannt an. Helena denkt kurz nach. Diese Frage kam natürlich in ihrer Anfangszeit hier ständig. Und mit der Zeit hatte sie ihre Standardantwort dazu direkt parat. Eine Antwort, die nicht zu viel preisgab, aber auch nicht auffällig wenig. Denn auffallen, das war das letzte, was Helena wollte. “Ich wohne seit einem halben Jahr hier. Und ich komme aus einer kleinen Stadt in der Nähe von Köln. Nachdem ich meine Familie verloren habe, brauchte ich einen Neuanfang. Ich bin Mediengestalterin und habe einfach nach Jobanzeigen geschaut, in ganz Deutschland. War also wirklich Zufall, dass ich ausgerechnet hier gelandet bin.” Helena gibt mit einem Grinsen noch hinzu: “Aber es ist gar nicht schlecht hier. An Wochenenden ist echt was los, gibt ein paar nette Pubs, in die ich öfter gehe.” “Wow, das mit deiner Familie tut mir schrecklich leid”. Lolas Gesicht zeigt echte Betroffenheit. “Wie hast du sie denn verloren?”, will sie sofort wissen. Super, Lola scheint ja gar nicht neugierig zu sein. Innerlich rollt Helena mit den Augen. “Ach weißt du, ich rede da überhaupt nicht gerne drüber. Also, wenn es dir nichts ausmacht…”Wenn es dir nichts ausmacht, dann lass uns nicht weiter darüber sprechen. Immerhin muss ich mir dann nicht noch mehr Lügen ausdenken. Lola nickt mit einiger Verspätung in einer, wie sie wohl hofft, verständnisvollen Art und meint “Natürlich, kein Problem. Lass uns über etwas anderes sprechen. Ich kann dir ja von mir erzählen. Ich habe drei Geschwister, alle älter als ich. Ich bin also die jüngste in der Familie und damit ergeben sich echt einige Vorteile…” Lola plappert in einer eintönigen Art vor sich hin, sodass Helena bereits nach kurzer Zeit innerlich abschaltet und nur noch mit halbem Ohr zuhört. Sie hofft mit gelegentlichem Nicken und anerkennendem Blick ihre Aufmerksamkeit vorzutäuschen, doch nach 20 Minuten hat sie eindeutig genug und verkündet spontan: “Sorry, aber ich muss dringend noch was erledigen für meine Arbeit. Hab von meinem Chef noch einiges an Arbeit für zuhause aufgebrummt bekommen. Aber es hat mich wirklich gefreut dich kennenzulernen!” Lola, die scheinbar gerade noch mitten im Satz war, sieht etwas irritiert aus, überspielt das aber schnell wieder und setzt ein Lächeln auf. “Kein Problem, ich mach mich auf den Weg. Und vielen Dank für den Kaffee.” Sie stürzt den Rest aus ihrer Tasse, der inzwischen eiskalt geworden ist, herunter und steht auf. “Mich hat es auch gefreut dich kennenzulernen. Wir müssen uns unbedingt bald nochmal treffen!” Die beiden gehen gemeinsam in den Flur. “Also, bis demnächst, meine Liebe.” Mit diesen Worten öffnet Lola die Haustür und verschwindet im Treppenhaus.

Helena schließt die Tür und will sich gerade wieder Richtung Wohnzimmer begeben, als sie plötzlich vor Schreck zusammenzuckt und laut aufschreit. Im nächsten Moment fasst sie sich peinlich berührt an die Stirn und schüttelt den Kopf. “Was ist denn nur los mit dir heute?!”, fragt sie sich laut. Es war nur das Klingeln eines Handys, das die Stille von Helenas Wohnung durchbrochen hat. “Kein Grund so zu erschrecken”. Da ihr eigenes Handy jedoch, wie sie mit einem schnellen Griff noch einmal überprüft, in ihrer hinteren Hosentasche steckt, kann es nicht ihres gewesen sein. Helena geht ins Wohnzimmer, von wo das Klingeln herkam, mittlerweile jedoch wieder verstummt ist. Auf den ersten Blick kann sie kein Handy finden, doch es beginnt erneut zu klingeln. Helena folgt der Melodie und entdeckt schließlich, gerade als der Klingelton wieder verstummt, ein schwarzes Handy, das unter ihrer Couch auf dem Boden liegt. Ihr erster Gedanke ist der logische: Lolas Telefon muss heruntergefallen sein und sie hat es nicht bemerkt. Helena nimmt es in die Hand und will sich schon auf den Weg zu ihrer neuen Nachbarin machen, als das Display aufleuchtet, um eine neu eingegangene Nachricht anzuzeigen, und Helena den nächsten Schreck einjagt: sie blickt in ihr eigenes Gesicht.

Auf diesen Schreck lässt sich Helena erst einmal auf ihr Sofa fallen. Entsetzt blickt sie auf das ihr unbekannte Handy. Wieso zum Teufel war als Sperrbildschirm ein Bild von ihr zu sehen? Und dann auch noch ausgerechnet dieses Bild. Das Bild war ziemlich genau 5 Jahre alt und zeigte sie auf der Geburtstagsfeier ihres damaligen Freundes, was man unschwer an der riesigen selbstgebackenen Geburtstagstorte im Hintergrund erkennen konnte. Philipp. Das war das erste Jahr, in dem sie zusammen waren. Damals war alles noch in Ordnung, bis … Philipps Tod hatte ihre Welt auf den Kopf gestellt. Nein, daran wollte sie jetzt ganz sicher nicht denken. Das plötzliche Auftauchen dieses Handys muss doch nicht zwingend bedeuten, dass man sie gefunden hatte … dass er sie gefunden hatte. Mit etwas Verzögerung blickt Helena nun auch auf die Nachricht, die auf dem Bildschirm zu lesen ist. “2 entgangene Anrufe von Unbekannt”. Verdammt, eine Nummer oder ein Name wäre ein guter Anhaltspunkt gewesen. Als Helena über den Bildschirm streicht, entsperrt sich das Handy auch ohne die Eingabe eines Entsperrcodes. Scheinbar möchte jemand, dass ich die Inhalte des Handys sehen kann. Klar, wieso sollte sonst auch plötzlich dieses Handy in meiner Wohnung auftauchen? Helena versucht nicht in Panik zu geraten. Ihr Blick geht automatisch zu ihrem Bücherregal an der Wand. Im Notfall weiß sie was zu tun ist, es gibt keinen Grund nervös zu werden. Zumindest versucht sie sich das einzureden. Schließlich schaut Helena wieder auf das Handy in ihrer Hand und beginnt einen näheren Blick auf die eingespeicherten Kontakte zu werfen. Neben den Standdardeinträgen wie “Apothekenfinder”, “Astrologie Live”, “Auskunft” und so weiter, scheint nichts hinterlegt worden zu sein. Ja danke, die Apotheke hilft mir jetzt auch nicht weiter, und mein heutiges Horoskop kann mir ebenfalls gestohlen bleiben. Um sicher zu gehen, dass sonst keine Nummern gespeichert sind, die Helena einen Anhaltspunkt zu seinem Besitzer geben könnten, geht Helena jedoch das komplette Alphabet durch, und muss bei S erneut ganz tief Luft holen. “Stegner, Maria” lautet der Eintrag. Wie kann das nur möglich sein? So langsam gewinnt die Panik in Helena doch die Überhand. Sie hatte mit diesem Kapitel ihres Lebens abgeschlossen. Doch es hilft nichts, dieser Teil von ihr will sie scheinbar nicht gehen lassen. Mit zittrigen Fingern möchte Helena auf den Namen tippen, um sich die Nummer anzeigen zu lassen. Stattdessen löst sie aber durch ihre Bewegung einen Anruf aus und wird erneut von einem Klingeln erschreckt – dieses Mal das Klingeln ihres eigenen Telefons.

Helena drückt den Anruf panisch weg und schaut in der nun herrschenden Stille wild umher. Das einzige Geräusch, das sie noch wahrnimmt, ist das Rasen ihres eigenen Herzschlags. Hat sich sonst etwas hier verändert? Das Fenster war vorher schon geöffnet … oder?! Mit einem schnellen Satz ist Helena am Fenster und schließt es mit einem lauten Rums. Sie ist aufgeflogen. Aber wie kann das sein? Helena geht wie von der Tarantel gestochen hin und her. Ihr bleibt wohl keine andere Wahl, als sich erneut abzusetzen, erneut ein komplett neues Leben zu beginnen. Diesmal würde er sie nicht mehr aufspüren können. Sie würde noch vorsichtiger sein, noch mehr Sicherheitsvorkehrungen treffen. Sie durfte niemandem trauen. Ich muss sofort los. Ironie des Schicksals, hatte sie sich doch gerade noch über ihr erfolgreiches neues Leben gefreut und nun muss sie wieder von vorne beginnen.

Helena rennt zum Bücherregal, blickt zur obersten Regalreihe und greift nach dem zweiten Buch von rechts. Sie nimmt das Bündel Geldscheine und den Reisepass, die darin versteckt sind, und stellt das Buch zurück. Jetzt eilt Helena zum Schlafzimmer, wo im Kleiderschrank die gepackte Reisetasche wartet. Wie sehr hatte sie gehofft, diese Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr zu benötigen. Helena versteht nicht, was sie falsch gemacht hat, warum es ihm gelungen ist, sie aufzuspüren. Diese Gedanken bringen mich jetzt nicht weiter, ich kann mir unterwegs Sorgen machen. Nun heißt es schnell sein. Helena sucht aus dem Kleiderschrank eine bequeme Jeans, BH und ein lockeres T-Shirt sowie einen dünnen Sweater heraus und zieht sich rasch um. Sie schnappt sich ihre Handtasche und verstaut das Geld, den Pass und ihre Geldbörse darin. Dann sammelt sie ihr Handy, das sie vor lauter Schreck fallen gelassen haben musste, vom Boden auf und beschließt nach kurzem Zögern, er hat meine Nummer, ist es zu gefährlich es mitzunehmen?, das Risiko einzugehen, und wirft es ebenfalls in die Tasche. Sie konnte sich immer noch von unterwegs ein neues organisieren. Das fremde Handy nimmt sie ebenfalls mit. Als letztes greift Helena im Vorbeigehen noch nach ihrem Schlüssel und schon ist sie an der Tür. Durch den Türspion kann sie niemanden sehen. Doch wenn das Handy hierher gebracht wurde, kann es sein, dass er ganz in der Nähe lauert. Das Handy sollte sicher genau dafür sorgen: dass sie ihre Wohnung verlässt und dadurch zu einem leichteren Ziel wird. Doch Helena hat keine Wahl, sie muss sich schnellstmöglich auf den Weg machen. Sie öffnet die Tür und möchte gerade heraustreten, als sie von oben Schritte hört. Sogleich erscheint auch schon die Person, zu der die Schritte gehören. Es ist Lola, die sich sofort mit besorgtem Blick Helena zuwendet. Ich muss ein komisches Bild abgeben, wie ich hier stehe. Mit gehetztem Blick und Reisetasche in der Hand. So sieht man jedenfalls nicht aus, wenn man gerade auf dem Weg in den Urlaub ist. Locker bleiben, Helena, jetzt nur nicht auffallen. “Helena, ist alles okay bei dir? Du siehst besorgt aus.”, fragt Lola auch schon. “Hi Lola.”, bringt Helena hervor und versucht sich zu beruhigen. “Ja natürlich, alles ist gut.” Helena ist inzwischen mehr als misstrauisch. Es konnte kein Zufall sein, dass kurz nachdem Lola in ihrer Wohnung war, plötzlich dieses Handy auftaucht. Sie muss es dort hingebracht haben. Außerdem wusste sie, dass ich noch nicht lange hier wohne, obwohl ich das nie erwähnt hatte. Wie kann das sein? Jetzt heißt es wachsam sein. Aber Lola darf mir mein Misstrauen nicht anmerken. “Ich mach mich gerade nur auf den Weg ins Büro, ich hab gemerkt, dass ich zuhause nicht alles habe, was ich brauche.” Glücklicherweise ist Helena die Ausrede mit der Arbeit wieder eingefallen. Ohne weiteren Kommentar drängt sie sich an Lola vorbei, doch weil diese nicht aus dem Weg geht, fällt Helenas Handtasche vor Lola auf den Boden. Bevor sie sich danach bücken kann, hat Lola sie bereits aufgehoben und reicht sie ihr. Helena greift kommentarlos danach und verlässt das Haus. Sie eilt zu ihrem Auto. Helena möchte nur noch weg von hier, und zwar schnellstmöglich.

Lola steht an der Eingangstür des Gebäudes und sieht Helenas in der Ferne langsam verschwindendem Auto hinterher. “Hast du alles erledigt, wie es besprochen war?” Der Mann ist wie aus dem Nichts aufgetaucht und blickt Lola durch seine getönte Sonnenbrille hindurch an. Seine tiefe Stimme jagt Lola eine Gänsehaut über den Rücken. “Ja, natürlich. Alles ist erledigt.”, gibt sie zurück. “Aber was wollen Sie von der Frau?” Ruckartig macht er einen Satz auf Lola zu und bringt sein Gesicht ganz nah an ihres. “Ich hab dir schon einmal gesagt: lass das mal meine Sorge sein. Du hast getan, worum ich dich gebeten habe, und nun sollst du deine Belohnung bekommen. Niemand hat etwas von Fragen stellen gesagt. Und, noch einmal zur Verdeutlichung, ein Wort zu irgendjemandem oder gar zur Polizei und du bist dran. Dann wirst du mehr verlieren als die paar Scheinchen hier.” Mit diesen Worten knallt er ein Bündel Geldscheine auf den Boden, dreht sich um und lässt Lola sprachlos an der Tür stehen.

Helena schaut sich unruhig um, doch ihr fällt nichts, beziehungsweise niemand Besonderes auf. Aber was hatte sie auch erwartet, ein auffällig unauffälliger Mann, am besten schwarz angezogen und mit Sonnenbrille, der sich hinter einem Busch versteckt? Ich muss jetzt vorsichtig sein! Helena setzt den Blinker und fährt auf den kleinen Parkplatz, der sich direkt hinter ihrer Lieblingsbar befindet. Im dichten Berufsverkehr, die einzige Tageszeit, zu der hier viel los ist, kann er meine Spur nicht so leicht verfolgen. Das Timing ist optimal. Und falls er mich jetzt beobachtet, werde ich ihn spätestens so abschütteln können. Der Parkplatz liegt, perfekt für Helenas Plan, nah an der Hintertür der Bar und ist von der Straße aus nicht zu sehen. Wollte ihr Verfolger auf diesem kleinen Parkplatz auf sie warten, würde er sich direkt verraten, denn hier war gerade einmal Platz für fünf Autos. Also blieb ihm nur, die vordere Eingangstür zu beschatten, durch die sie nun auch gut sichtbar eintritt. Ihren unauffälligen Abgang durch die Hintertür, die auf dem Weg zur Toilette gut erreichbar war, konnte er allerdings nicht sehen. Sie wollte sich mit ihrem Auto über eine kleine Seitenstraße absetzen. Soweit der Plan. Damit dürfte er es überaus schwer haben, Helenas Spur zu behalten. Dieses Manöver hatte ihr schon so manches Mal den Abend gerettet, wenn das Tinderdate im echten Leben mal wieder nichts von der charmanten redegewandten Art, die er noch online gezeigt hatte, aufweisen konnte, und sie sich so schnell davonmachen konnte. Zwar nicht die feine Art, doch die Chance der von der Toilette leicht zu erreichenden Hintertür war einfach zu verlockend. Heute konnte diese glückliche Bauweise zwischen Leben und Tod entscheiden.

Helena setzt sich an einen Tisch und bestellt ein Getränk. Sie hält die Eingangstür im Blick, doch niemand betritt nach ihr noch die Bar. Helena wartet eine wie sie hofft angemessene Zeit und erhebt sich von ihrem Stuhl. In diesem Moment wird ihr klar, dass sie nie wieder hierher zurückkommen kann. Ihr sorgfältig neu arrangiertes Leben nimmt nun ein unverhofft schnelles Ende. Sie beeilt sich zur Hintertür zu kommen und wirft vorsichtig einen Blick nach draußen. Eine Weile scannt sie die Umgebung, auch die parkenden Autos scheinen keine Insassen zu beherbergen. Jetzt oder nie! Helena stürmt auf ihren Wagen zu, lässt den Motor an und manövriert sich durch die enge Seitengasse. Sie kommt an einer Hauptstraße mit nach wie vor sehr dichtem Verkehr heraus und schlängelt sich gekonnt in diesen ein. Helena beschließt erst einmal eine halbe Stunde zum nächst größeren Ort zu fahren, um sich dort in einem ihr bekannten ruhigen Motel einen konkreten Plan zu machen. Wo sollte sie nun genau hinfahren, wo konnte sie am leichtesten untertauchen? Die Fahrt vergeht in Helenas Aufregung wie im Flug, schon ist die Leuchtreklame des Motels zu sehen. Sie schnappt sich ihre Reisetasche und eilt zur Rezeption, wo sie unter falschem Namen eincheckt. Zimmer Nummer 22. Dort angekommen stellt sie ihre Tasche auf dem Bett ab und will gerade ins Badezimmer gehen, um sich mit kühlem Wasser das Gesicht zu waschen, als es an der Tür klopft. Zwei laute Klopfer, die Helena durch den ganzen Körper fahren und sich anfühlen, als würde das Schicksal selbst gegen die Tür hämmern. Er kann mich doch nicht so einfach gefunden haben. Bestimmt gibt es eine harmlose Erklärung. Helena atmet einmal tief durch und geht lautlos zum Türspion, doch sie kann niemanden erkennen. Gerade möchte sie noch einmal sichergehen, dass die Tür zusätzlich verriegelt ist, doch zu spät.

Krachend fliegt die Tür auf und er steht vor ihr. Blitzschnell tritt er ein und schlägt die Tür hinter sich zu. In seiner Hand ein scharfes Messer, doch was Helena wirklich beunruhigt, ist sein Blick. Tödliche Entschlossenheit kann sie daraus lesen und das bedeutet eines: es gibt keinen Ausweg mehr. Es ist unausweichlich, aus dieser Situation komme ich nicht mehr raus. Ich muss…. Helenas Atmung beschleunigt sich und die Worte ihres Gegenübers lassen die letzten Zweifel an dessen Entschlossenheit verblassen “Hallo Maria. Na, hast du schon mit mir gerechnet? Du hast wohl nicht bemerkt, dass dir heimlich ein GPS-Sender untergejubelt wurde” Lola! Wie konnte ich nur so leichtsinnig sein… “Jetzt kriege ich dich. Du hast keine Chance. Ich habe dir deinen Fehler nie verziehen und nun wirst du dafür büßen.” Mit diesen Worten nähert er sich Helena. Sie schaut nach hinten, doch in dem winzigen Zimmer ist nicht viel Raum zur Flucht. Und er blockiert den einzigen Ausweg. Immer weiter kommt er auf Helena zu und drängt sie zur Zimmerwand, bis sie nur noch ein kleiner Schritt davon trennt. Ich habe wirklich keine andere Möglichkeit. Die Klinge des Messers nähert sich Helena unausweichlich, Zentimeter für Zentimeter kommt sie näher. Er steht nun direkt vor ihr, das Messer bereit zuzustechen. In der anderen Hand hält er ein Handy. “Hast du gedacht du könntest damit einfach so davonkommen und von der Bildfläche verschwinden? So einfach ist das nicht. Du kannst deiner Vergangenheit nicht entkommen. Maria, stell dich endlich dem, was du getan hast.” Er drückt auf dem Handy rum und dreht es schließlich in ihre Richtung. “Sieh hin”, schreit er nun, “Sieh genau hin, das ist deine Schuld! Du bist Schuld!”. Auf dem Bildschirm des Telefons sieht Helena die ersten Sekunden jenes Videos. Wie konnte er noch eine Kopie davon haben? Sie wendet den Blick ab und fokussiert stattdessen ihr Gegenüber. “Martin, ich weiß, du hast Philipps Tod einfach nie verkraftet. Ich habe ihn auf eine gewisse Art ja auch verloren. Er war dein bester Freund, aber…” Er fällt ihr ins Wort: “Ich hätte gleich zur Polizei gehen können, aber das wollte ich nicht. Ich wollte das lieber selbst in die Hand nehmen, und das werde ich heute auch. Ich wollte dir in die Augen sehen, während du die gerechte Strafe bekommst, während du deinen letzten Atemzug tust. Irgendwelche letzten Worte?”, fragt er mit einem Grinsen.

“Du hättest nicht herkommen sollen”, sagt Helena und rammt ihm ihr eigenes Messer in den Hals. Die Klinge dringt in die Halsschlagader ihres Gegenübers ein, fast gleichzeitig wie es die selbe Klinge auch in der Videoaufzeichnung in Philipps Hals tut – damals, bei ihrem ersten Opfer.

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