Michaela84Du sollst büßen

 

Mit einem Aufschrei wich sie vor dem Handy zurück, das in ihrer Hand lag. Das junge Pärchen im Cafe drehte sich verwundert zu ihr herum. Sie stammelte eine Entschuldigung und rannte in ihr kleines Räumchen, das sich gleich neben dem Backofen befand und gleichzeitig ihr Büro und der Aufenthaltsraum in ihrer kleinen Dorfbäckerei war. Fassungslos öffnete sie noch einmal die Bildergalerie auf dem Handy und sah sich erneut die grausamen Bilder an, von denen sie kaum glauben konnte, dass sie sie wirklich gerade vor sich sah. Schon das erste Bild hatte sie total schockiert. Sie auf den Knien, der Kopf steckte in einer Guillotine, auf den nahenden Tod wartend. Das zweite Bild war nicht weniger grausam. Mit leerem Blick lag sie tot im Park. Aus ihrem Rücken ragte ein langes Jagdmesser. Bild Nummer 3 war nicht so brutal wie die anderen, dafür aber nicht weniger erschreckend. Auf diesem stand sie in ihrer offenen Wohnungstür. Ihr gegenüber ein Mensch mit grausam entstellter Maske auf dem Gesicht, der offensichtlich eine Bedrohung darstellte. Das vorletzte spielte dafür noch schlimmer mit ihrer Angst. Eine Angst, die wohl beinahe jeder Mensch auf diesem Planeten teilte. Sie lag in einem Sarg tief unter der Erde – lebendig begraben. Mit vor Todesangst weit aufgerissenen Augen. Mit einem Schluchzer ließ sie das Handy auf den Tisch fallen.

 

 

Eine Stimme aus dem Cafe ließ sie hochfahren. Doch es war nur das Pärchen das sich verabschiedete. Sie rang sich ein Lächeln ab, dankte für den Besuch und schloss eilig hinter dem Pärchen die Tür ab. Zum Glück wäre  sowieso in  fünf Minuten der Zeitpunkt zum Schließen. Sie hielt es keinen Moment mehr länger hier aus. Schnell räumte sie die Waren, die sie eine halbe Stunde zuvor bereits aufgeschrieben hatte,  in Kisten, schob diese in die Mitte des Ladens, wischte und putzte den Laden durch und verließ die kleine Bäckerei. Zuhause startete sie direkt ihren Laptop, lud die Bilder auf den PC, rief ihren besten Freund Egon an und bat ihn, sich die Bilder anzusehen.  „Heftig!“ Klang dieser am anderen Ende der Leitung total geschockt, nachdem er die Bilder erhalten und angesehen hatte. „Und die Person, die diese Bilder so hergerichtet hat, hat verdammt gute Kenntnisse von Bildbearbeitung. Jedes Detail ist perfekt abgestimmt, als wären die Bilder echt.“ „Genug deiner Lobgesänge.“ Ermahnte Nadine ihn, „Siehst du eine Möglichkeit, denjenigen, der mir das Handy auf die Theke gelegt hat, zu finden?“ „Ich enttäusche dich ungern, aber wenn du wirklich gar nichts auf dem Handy gefunden hast, was irgendwie helfen könnte, weiß ich leider nicht wie.“ Entmutigt stützte Nadine den Kopf auf die Hände.

 

 

 

 „Nein ich habe gar nichts gefunden. Zuerst hab ich ins Telefonbuch geschaut. Ich war mir sicher dort könnte ich jemanden finden, der die Person zumindest kennt und ihr Bescheid geben kann, dass das Handy in meiner Bäckerei vergessen wurde. Es war aber nicht eine einzige Nummer gespeichert. Dann hab ich mir die Nachrichten vorgenommen. Aber auch dort nichts. Keine einzige Nachricht! Und dann diese Bilder!“ Sie hebt bei diesem Satz den Arm, bevor ihr im nächsten Moment einfällt, dass Egon diese Geste gar nicht sehen kann. „Jemand der Bilder so bearbeitet muss ganz schönen Hass auf dich haben!“ erklärte Egon, „Hast du eine Idee wer dich so auf dem Kieker haben könnte?“ Kurz überlegte Nadine. Sie war schon seit ewigen Jahren Single, ihr Ex und sie waren im Guten auseinander gegangen. Sie hatten einfach irgendwann festgestellt, dass sie sich noch wunderbar verstanden, aber einfach keine Anziehung mehr aufeinander hatten. In ihrer Bäckereifiliale, die sie für die Firma führte, hatte sie natürlich auch mal nicht ganz so freundliche Kunden, aber richtigen Streit hatte es noch nie gegeben. Draußen hielt sie sich im Großen und Ganzen an die Regeln, grüßte auch Menschen im Vorbeigehen und war nie negativ aufgefallen. „Nein.“ Erklärte sie, „Da gibt es definitiv niemanden, bei dem ich mir vorstellen könnte,

 

 

dass er mir so etwas antun würde.“ „Und was ist mit dem letzten Bild?“ Nadine griff noch einmal auf die Bildergalerie zu. Das letzte Bild zeigte nicht sie, sondern einen 14jährigen Jungen. Es war ein Porträt das von einem extra engagierten Fotografen, der Bilder sowohl von jeder Klasse als auch jedem Schüler einzeln gemacht hatte, angefertigt worden war. Unten auf dem Bild stand in Großbuchstaben >>Erinnerst du dich? << Nadine überlegte, versuchte sich an ihre Schulzeit zurück zu erinnern. Und da fiel es ihr ein. Das war Tom, den sie immer geärgert hatten. Nadine hatte damals eine schwierige Zeit; sie hatte keinen Bock auf Schule, wollte lieber mit ihren Freundinnen Partys feiern und das Leben genießen, nachdem ihr Freund sie nach einem Jahr für eine aus der Oberstufe verlassen hatte. Ihre Eltern heizten ihr zuhause gehörig ein und wollten ihr verbieten auf die Partys zu gehen, da ihre Noten weit abgerutscht waren und sie stritten oft. Der Hinweis auf den Liebeskummer den Nadine gerade durch machte, brachte bei ihren Eltern gar nichts. Sie wollten sie einfach nicht verstehen und nervten sie jeden Tag mit der blöden Schule. Und dann kam ER auf die Schule. Ruhig und in sich gekehrt. Verbrachte die Pausen alleine, entweder mit seinem Handy oder in Bücher vertieft. Und in jedem Fach sammelte er gute Noten. Dieser kleine Streber! dachte sie damals leicht verbittert

 

 

 

und eines Tages als er die nächste 1 kassierte und sie wieder mal eine 4 und sie ihn in der Pause wieder mit seinem Buch in der Ecke auf den Baumstämmen sitzen sah, sah sie rot. Übertrieben freundlich ging sie mit ihren drei Freundinnen zu ihm rüber und tat, als würde sie sich brennend für seine Lektüre interessieren. „Oh du magst Hamlet. Das ist aber interessant.“ Sie triefte vor falscher  Freundlichkeit und ihre Freundinnen kicherten. Sie linste auf das Buch das aus seinem Rucksack heraus schaute. „Und du magst Gedichte! Nein, wie süß! Ich dachte immer Gedichte sind eher etwas für Mädchen.“ Sie stockte. „Oder bist du etwa schwul?“ Sie tat, als hätte sie gerade etwas unglaublich Interessantes herausgefunden. „Das ist es! Du bist schwul! Schon jemand nettes hier auf der Schule entdeckt?“ Und sie setzte augenzwinkernd hinzu: „Keine Angst ich werde es keinem verraten.“ Mit diesen Worten und ihren kichernden Freundinnen im Schlepptau, drehte sie sich um und ging. Von dem Tag an riefen sie ihn, egal wo, als Schwuli und Warmer Bruder, fragten ihn vor anderen, welchen männlichen Star er denn zurzeit am Heißesten fände, ob er denn schon seinen Traummann gefunden hätte und hatten ihren Spaß daran, ihn überall als schwul hinzustellen.

 

 

 

Da er sich nicht wehrte, hatten sie leichtes Spiel und Nadine konnte an ihm ihren Frust ein wenig raus lassen. Klar hatte sie damals gesehen dass er darunter litt, aber es war ihr egal. Für sie zählte nur, dass sie jemanden gefunden hatte, an dem sie ihren Frust ein wenig auslassen konnte und sich somit wieder ein bisschen mächtiger zu fühlen. Was hatte Tom mit dieser ganzen Sache zutun? Da überwältigte sie ein Gedanke. War er etwa derjenige der ihr das Handy auf der Theke hinterlassen und diese Bilder angefertigt hatte? Befand sie sich in Gefahr? Wollte er in die Realität umsetzen, was auf den Fotos zu sehen war? Ein Schauder überlief sie und sie spürte Angst, die sie beinahe betäubte. Sie sprach mit Egon über ihre Gefühle und erzählte ihm die Geschichte. Der schluckte hörbar und erwiderte: „Ich fürchte dieser Tom steckt hinter der Sache und will sich an dir rächen. Und wenn ich mir die Bilder so betrachte, stelle ich mir die Frage, ob er dir nur Angst machen will oder ob er so krank ist, das wirklich in die Tat umzusetzen. Wie auch immer, ich bin in einer Stunde bei dir. Ich setze mich sofort ins Auto. Auf gar keinen Fall lasse ich dich jetzt allein.“ Zitternd bedankte sich Nadine und beide legten auf. Nun saß sie da, zog auf dem Stuhl ihre Beine an sich heran

 

 

Wie hatte es nur so weit kommen können? Es sollte doch nur Spaß damals sein. Und nun, nach all diesen Jahren, wollte er Rache dafür? Um sich ein wenig abzulenken, loggte sie sich auf Facebook ein. Und wich panisch vorm PC zurück, nachdem sie schreiend aufgesprungen war. Das konnte unmöglich sein! Und doch sah sie sie deutlich vor sich. Die Bilder, die sie auf dem Handy gefunden hatte. Und noch viele mehr. Sie waren alle auf ihrem Profil geteilt worden. Unter einem Bild stand in roten großen Buchstaben: Ich war böse, jetzt muss ich dafür in die Hölle. Auf dem Bild stand sie selber, fest gebunden an einem dicken Stamm, auf einem Scheiterhaufen und brannte lichterloh. Nadine sank an der Wand zu Boden und fing an zu weinen. Das alles konnte doch nur ein Alptraum sein. Ihre Nerven waren am Ende und sie sah den PC an, als wäre er Teufelswerk. Dabei war das Gerät selber unschuldig. Die Person, die ihr Facebookkonto geknackt hatte, war schuld. Wut erwachte nun in ihr und sie setzte sich wieder an den PC und schrieb. Wer bist du Wahnsinniger! Warum tust du mir das an? erschien als neuer Beitrag auf ihrem Profil. Was die Leute dachten war ihr egal. Sie wollte nur dass dieser Wahnsinn sich aufklärte und aufhörte. Sie sank wieder in ihrem Stuhl zurück

 

 

 

 und wartete auf eine Reaktion. Es tat sich nichts. So saß sie länger nur da und starrte den PC an.  Starrte gebannt auf den Bildschirm. Ein schrilles Klingeln ertönte plötzlich und sie schreckte wieder zusammen und wäre beinahe vom Stuhl gefallen. Es ist die Klingel! Stellte sie erleichtert fest, ging langsam zur Sprechanlage rüber, nahm den Hörer ab und fragte ängstlich: „Hallo? Wer ist da?“ „Ich bin’s Egon.“ Ertönte es von unten und Nadine seufzte erleichtert auf. Sie betätigte den Türöffner und wartete neben der Tür auf ihren besten Freund. Als dieser im Türrahmen erschien und sie so verängstigt und klein da stehen sah, war die Tür erstmal vergessen und er schloss sie fest in die Arme. Nadine genoss es ein bisschen Geborgenheit nach diesem schrecklichen Tag zu spüren. Dann schlossen sie die Tür, Nadine kochte Tee und sie setzten sich aufs Sofa. „Ist noch mal etwas von dem Spinner gekommen?“ erkundigte sich Egon. Nadine nickte ernst und zeigte ihm die Bilder auf ihrem Facebookkonto, worauf Egon erschrocken und wütend zugleich zischte: „Der ist doch krank!“ „Ich habe ebenfalls auf meine Pinnwand geschrieben. Ich habe ihn gefragt warum er das tut. Wenn er mich gehackt hat, wird er das sicher noch mal machen und dann wird er es auf jeden Fall lesen.“  Erklärte Nadine. „Ich habe wahnsinnig Angst um dich.“ Sagte Egon darauf leise und drückte sie wieder an sich. „Ja ich hab auch Angst. Du kannst dir gar nicht vorstellen was für eine Angst.

 

 

 

Ich habe solche Angst dass dieser Wahnsinnige Ernst macht und mich umbringt.“ Tränen liefen ihr übers Gesicht. „Ich habe außer damals in der Schule doch nichts Schlimmes getan. Im Gegenteil! Ich verstehe mich mit allen Menschen gut, ich helfe wo ich helfen kann, bin immer für andere da. Womit hab ich so etwas verdient, nur wegen einer Sache die schon ewig zurück liegt?“ „Na ja streng genommen ist das was du gemacht hast Mobbing.“ erwiderte Egon, wurde, bevor er weiter sprechen konnte, aber schon von Nadine unterbrochen: „ Aber ich habe damals doch nur einen Fehler gemacht. Ich bin ein guter Mensch, der einen Fehler im Leben gemacht hat. Und dafür soll ich jetzt so heftig büßen?“ Sie fing an zu weinen und Egon nahm sie in die Arme. „Nein. Gerade das wollte ich gerade sagen. Dass du so etwas trotzdem nicht verdient hast. Immerhin hat der Junge eure Schule verlassen und dann sein Leben weiter gelebt. Und nach all diesen Jahren auf einmal Rachegedanken?“ Er schob sie ein kleines Stück von sich: „Weißt du was? Wir gehen zur Polizei! Wir zeigen ihn an! Sollen die sich darum kümmern.“ „Du hast Recht. Ich lasse mir das von diesem Dreckschwein nicht gefallen!“  Entschlossen stand Nadine auf. „Ich fahre noch schnell den PC runter, ziehe mir eine Jacke an, dann können wir los.“

 

 

 

Ein Klick auf die Maus erweckte den Bildschirm, der in den Ruhemodus gegangen war, wieder zum Leben. Dabei aktualisierte Facebook auch die Startseite und Nadine keuchte auf. Sofort war Egon neben ihr. „Was ist los?“ Unter ihrem letzten Posting stand in Großbuchstaben Keine Polizei darunter in kleiner Schrift Schau in deine privaten Nachrichten. Eilig öffnete Nadine ihren Posteingang und konnte nicht glauben, was sie da las. Wenn du willst, dass das alles aufhört, komm morgen zur Eisdiele Iceway. Bist du mittags um 15 Uhr da, reden wir. Treffe ich dich dort nicht an oder ich sehe andere Menschen bei dir oder die Polizei in der Nähe, mache ich dich fertig. „Dieses verdammte…!“ setzte Egon an, konnte sich aber gerade noch beherrschen, um Nadine nicht noch mehr in Aufruhr zu versetzen. „Du hast doch nicht wirklich vor da hin zu gehen?“ Ernst erwiderte Nadine seinen Blick: „Ich muss! Nur dann erfahre ich was das alles soll und habe die Chance dass es endet.“ „Nadine!“ „Nein, sag nichts. Ich habe keine andere Wahl.“ Einzelne Tränen liefen ihr wieder die Wangen runter. „Ich halte diesen ganzen Psychoterror und die Angst nicht länger aus! Rastlos ging sie im Raum auf und ab. „Deshalb werde ich jetzt nicht mit dir zur Polizei gehen, sondern gehe morgen zu dieser Eisdiele und hoffe, alles klären zu können.“

 

 

 „Und wenn diese Person etwas Schlimmes vor hat?“ „In einer Eisdiele?“ Nadine lachte auf. „Was soll er mir in einer Eisdiele, mitten in der Öffentlichkeit, denn bitte antun?“ „Ich weiß ja auch nicht.“ „Nein, alles gut. Ich gehe morgen dorthin und hoffe es klärt sich alles auf.“ „Soll ich vorsichtshalber mit kommen? Notfalls auch mit Abstand?“ Nun starrte ihn Nadine ungläubig an. „Bist du verrückt? Du hast doch gelesen was da steht! Wer weiß zu was der Kerl noch fähig ist! Am Ende taucht der nicht da auf und macht weiter mit diesem Psychoterror, weil er dich gesehen hat! Nein ich gehe da alleine hin.“ „Okay, aber du passt auf dich auf, meldest dich sobald das Treffen vorbei ist und ich hole dich ab. Und heute Nacht bleibe ich hier. Ich mache es mir auf dem Sofa bequem.“ Mit dieser Übereinkunft waren beide Seiten zufrieden gestellt und als es beinahe Mitternacht war, verabschiedeten sie sich für die Nacht und Nadine ging in ihr Schlafzimmer. Lange schlief sie nicht ein vor Nervosität und als sie am nächsten Tag die Filiale ihrer Bäckerei verließ, raste ihr Herz vor Angst und Nervosität, was sie wohl an der Eisdiele erwarten würde. Sie spazierte gemütlich rüber, schließlich war die Eisdiele von ihrer Bäckerei nur 10 Minuten entfernt und sie hatte noch über eine halbe Stunde Zeit.

 

 

Außerdem war es sehr heiß. Der Wetterdienst hatte 30 Grad gemeldet. Zum Glück war es in der Eisdiele nicht besonders voll. Nur zwei Paare saßen draußen an den Tischen. Nervös und mit klopfendem Herzen setzte Nadine sich an einen Tisch und schaute sich um, ob sie irgendetwas Verdächtiges bereits entdecken konnte. Doch es war ruhig. Der Kellner erschien neben ihr, ein schlanker junger Mann mit kurzen braunen Haaren, der sie freundlich anlächelte. „Guten Tag, darf ich ihre Bestellung aufnehmen?“ Irritiert blickte sie zu ihm hoch. Nach einem Eis war ihr gar nicht zumute. Aber die Wärme machte sie durstig. „Äh ja, ein Wasser mit Sprudel bitte.“ „Kommt sofort.“ Sogleich drehte sich der Kellner um und lief zurück in die Eisdiele. Nadine überlegte krampfhaft, was sie sagen sollte, wenn der, der hinter all dem steckte, vor ihr saß. Sie ging sämtliche Szenarien, durch wie es enden könnte. Überhaupt, überlegte sie, wie sollte alleine die Begrüßung ausfallen? Freundlich sicher nicht, nachdem was er ihr antat. Ihr Herz raste noch immer und ihr fiel es schwer, ruhig zu sitzen. „Bitte.“ Der Kellner stand bereits wieder neben ihr und stellte ihr das Wasser in einem Glas auf den Tisch. Nadine bezahlte zerstreut und trank einen großen Schluck von dem Wasser, um ihren Durst zu stillen. Nervös sah sie sich wieder um.

 

 

Es waren nur noch 10 Minuten und von ihrem Erpresser war bisher keine Spur. Sie hielt die Nervosität kaum mehr aus. Und so langsam wurde ihr auch schlecht. Das war sicher die Kombination aus Hitze und ihrem inneren Stress. Sie trank den Rest des Glases aus. Nur noch 5 Minuten. Und ihr wurde komisch. Die Übelkeit hatte zugenommen, nun war Schwindel dazu gekommen und sie hatte Mühe gerade zu sitzen. Was war denn nur los? Mit jeder Minute die verstrich, wurde es schlimmer und schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Sie sackte vom Stuhl und setzte sich, dagegen gelehnt, auf den Boden. Viel besser wurde es nur leider dadurch nicht. Sie fühlte sich als hätte sie zuviel getrunken. Eines der Pärchen das zwei Tische weiter saß wurde aufmerksam. „Was ist denn mit der Dame los?“ hatte die Frau gefragt und als der Mann kurz zu ihr rüber gesehen hatte, war er sofort aufgesprungen. „Rufen sie einen Krankenwagen!“ brüllte er in Richtung Eisdiele, „Und die Polizei direkt dazu. Die Frau ist vergiftet worden! Ich erkenne es, ich bin Arzt!“ Erschrocken sprang der Verkäufer, der drinnen arbeitete, zum Telefon, rief zuerst den Notarzt, dann die Polizei. Danach drehte er sich zu Manuel herum. „Das ist die junge Dame, die du eben bedient hast, was ist passiert?“ Manuel stand stocksteif da, stotterte,

 

 

schnappte sich schließlich seinen Rucksack und rannte raus. Zum Glück trafen gerade die Beamten der Polizei ein, die beim Anruf um die Ecke, beim Imbiss gewesen waren. Als der junge Mann ihnen entgegen gerannt kam und der Verkäufer aus der Eisdiele rief: „Halten sie ihn auf!“ reagierten sie sofort und hielten Manuel fest. Der versuchte sich noch zu wehren, begriff dann aber, dass er keine Chance hatte und fügte sich seinem Schicksal. Gleich darauf traf auch der Krankenwagen ein.  Zwei Sanitäter stiegen aus, versorgten Nadine mit dem was vor Ort möglich war, was der Arzt der dort war, nicht konnte, luden sie in den Krankenwagen und fuhren auf schnellstem Wege mit Sirene und Blaulicht zum Krankenhaus. Währenddessen hatten die Beamten die Aussage des Verkäufers der Eisdiele aufgenommen, der erklärte dass er sich sowieso schon gewundert hatte, seit wann Manuel die Getränke selber für die Gäste fertig mache. Vor allem an Tagen, an denen so wenig los sei wie heute. Die Beamten nahmen Manuel mit. Eine Woche später erwachte Nadine gerade als sich die Tür vorsichtig öffnete und ein Arzt und ein Beamter das Zimmer betraten. Der Arzt trat an ihr Bett: „Wie geht es ihnen?“ Ein wenig matt vom Schlaf antwortete Nadine: „Danke, etwas schwach aber soweit ganz gut.“ Der Arzt nickte.

 

 

„Meinen sie der Herr Beamte könnte ihnen ein paar Fragen stellen?“„Ja, “ erwiderte Nadine, „ das ist in Ordnung.“ Darauf verließ der Arzt das Zimmer und der Beamte trat an ihr Bett. „Ich möchte sie gar nicht lange belästigen. Ich wollte nur ein paar Worte von ihnen zu der ganzen Situation hören.“ Er lächelte und Nadine erwiderte es. Dann erzählte sie. Der Beamte schrieb sich alles auf, bedankte sich dann und wollte gerade gehen. „Kann ich ihn sehen?“ Er drehte sich noch einmal zu ihr um. „Bitte?“ „Ich würde ihn gerne in den nächsten Tagen, wenn ich soweit wieder fit bin, dass ich raus kann, im Gefängnis besuchen und mit ihm reden.“ Erklärte Nadine mit fester Stimme. Stirnrunzeln. „Wollen sie sich das wirklich antun? Immerhin hat er versucht, sie zu töten.“ „Ja.“ Erwiderte Nadine fest entschlossen, „Ich will ihm ins Gesicht sehen, während er mir erklärt warum.“ „Okay.“ Willigte der Beamte nun ein und gab ihr eine Karte. „Das ist meine Visitenkarte. Wenn sie zu ihm möchten, rufen sie mich an und ich bringe sie rein.“ „Vielen Dank.“ Jetzt verabschiedete der Beamte sich und Nadine schloss die Augen um ihren geschundenen Körper noch ein wenig auszuruhen.

 

Vier Tage später stand sie vor dem Gefängnis. Sie musste nicht lange warten, da fuhr bereits das Auto des Beamten,

 

 

der ihr seine Visitenkarte gegeben hatte, auf den Vorplatz. Er stieg aus, begrüßte sie und leitete sie zu dem großen Tor, das den Zugang zum Gefängnisgelände versperrte. Dem Beamten der dort wachte, zeigte er seinen Ausweis, worauf dieser nickte und die beiden über das Gelände liefen, auf direktem Wege auf das Hauptgebäude zu. Auch hier zeigte der Beamte seinen Ausweis vor, sie wurden kontrolliert und schließlich gelangten sie, begleitet von einem Gefängniswärter, in einen großen kargen Raum. Nadine sah sich um. Tische standen hier, beinahe wie in einem Klassenzimmer. An jedem Tisch standen zwei Stühle, so dass man sich gegenüber saß. Ihr Herz raste. Auf eine Kopfbewegung des Beamten setzte sie sich an einen der Tische und wartete. Der Beamte erklärte, draußen auf sie zu warten und verließ den Raum. Fünf Minuten später öffnete sich die Tür erneut und ein anderer Beamter betrat mit dem Kellner, den er an Handschellen führte, den Raum. Nadine spürte, wie ihre Hände schweißnass wurden, doch sie mahnte sich innerlich zur Ruhe, atmete noch einmal tief ein und aus und sah ihrem Peiniger direkt ins Gesicht, als dieser sich gesetzt hatte. Nur ein Wort. „Warum?“ „Warum was?“ gab der nur kalt zurück. „Was hab ich dir böses getan, dass du versuchst mich zu töten?“

 

 

 

Ohne es zu wollen war ihre Stimme leicht schrill geworden. Manuel starrte auf den Tisch. „Warum soll es dir besser gehen als ihm?“ „Ihm?“ Jetzt war Nadine durcheinander. „Na Tom!“ Seine Stimme war jetzt lauter geworden und ein schwerer Vorwurf lag darin. „Du hast ihn auf dem Gewissen!“ „Ich…ich verstehe nicht.“ Ungläubig lächelnd schüttelte Manuel den Kopf. „Natürlich verstehst du es nicht! Du hast nicht gesehen wie schlecht es ihm ging, wie kaputt du und deine Clique ihn gemacht habt. Du hast nur dich und dein ach so tolles Ego gesehen. Was anderes hat dich nie interessiert. Hauptsache du standest cool und stark da.“ Fassungslos saß sie da. „Wovon redest du?“ „Wovon ich rede?“ Manuels Stimme war noch eine Oktave höher gestiegen und der Beamte der seitlich von ihnen an der Wand wachte, blickte wachsam auf, bereit jeden Moment einzugreifen. „Du bist schuld an seinem Tod!“ schleuderte Manuel Nadine entgegen. „Ständig habt ihr auf ihm herum gehackt, habt euch über ihn lustig gemacht und ihn überall als schwul hingestellt. Weißt du wie oft Manuel uns, die als einzige zu ihm gehalten haben, gefragt hat , was falsch an ihm ist und warum er schwul wirke? Wir haben ihm tausendmal gesagt, dass nichts an ihm falsch ist, dass er sich von euch nicht ärgern lassen soll.

 

 

Haben ihm gesagt dass ihr falsche Biester seid, aber er hat sich immer weiter da rein gesteigert. Hat nachher Angst gehabt, vielleicht tuntig zu sein. Hat versucht alles Mögliche in seinem Leben zu verändern, um bloß männlicher zu erscheinen. Hat soviel was ihn ausgemacht hat und was er mochte aufgegeben und immer wieder habt ihr weiter gemacht. Er hat so oft geweint und gesagt, dass er Angst hat noch nach draußen zu gehen. Angst dass alle Menschen ihn verurteilen. Er kannte seine eigene Identität nicht mehr. Wir wollten zu den Lehrern gehen, aber er hat es uns verboten. Sagte, er wollte nicht dass die auch davon erfahren und er von ihnen auch noch verurteilt wird. Mit eurem Mobbing habt ihr ihn in etwas getrieben, aus dem er nicht mehr heraus kam.“ Tränen stiegen ihm in die Augen. „Und eines Tages, als ich auf dem Weg zu unserem Lieblingsplatz war, habe ich ihn auf einer Brücke vorgefunden. Er war über das Geländer geklettert und kurz davor zu springen. Ich habe ihn gerufen, bin zu ihm rüber gerannt, doch als er mich sah, hat er nur gesagt dass es ihm leid tut, aber er das alles einfach nicht mehr aushielte und ist gesprungen.“ Manuel weinte jetzt. „Ich hatte keine Chance ihn aufzuhalten und seitdem verfolgt mich diese Szene Nacht für Nacht in meinen Träumen.“ Er sah zu ihr auf. „Weißt du wie das ist?

 

 

 

Jede Nacht diesen Moment wieder zu erleben, wie er gesprungen ist? Wenn keine Therapie dir wirklich helfen kann, weil du dieses Bild einfach nicht mehr los wirst?“ Vorwurfsvoll sah er zu Nadine auf, die völlig geschockt da saß und ebenfalls angefangen hatte zu weinen. Sie konnte einfach nicht glauben, dass sie schuld am Tod eines Menschen war. „Nein.“ Sagte sie nur, doch es war keine Antwort auf Manuels Frage, es war wie eine weinende Bitte, dass das doch nicht wirklich passiert war. „Ich wusste nicht…“ Weiter kam sie nicht. „Nein, natürlich wusstest du nicht. Die Täter wissen nie, wie schlimm es für ihre Opfer ist. Und während sie ihr Leben genüsslich weiter leben, sind diese armen Seelen für ihr Leben gezeichnet. Und im schlimmsten Fall passiert es, dass eine Seele zerbricht und keinen anderen Ausweg mehr weiß, als alles zu beenden.“ Er hatte die Tränen nun aus seinem Gesicht gewischt und sah ihr mit Verachtung im Gesicht, direkt in die Augen. „Du hast kein Recht weiter zu leben, während er tot ist! Deshalb solltest du sterben! Ich bereue es nicht und ich würde es wieder tun! Du bist Abschaum und hast dein Leben nicht verdient!“ Das war zuviel für Nadine. Mit Tränen in den Augen sprang sie auf, stürzte zur Tür und bat darum, den Raum verlassen zu dürfen.

 

 

 

Der Beamte, der nun nah bei Manuel stand, um ihn zu halten, falls der auf Nadine los gehen wollte, trat an die Tür, klopfte und von außen wurde die Tür geöffnet. Nadine stürmte hinaus, stammelte dem perplexen Beamten, der vor der Tür auf sie gewartet hatte, ein Dankeschön entgegen und rannte hinaus. Draußen riss sie ihre Autotür auf, setzte sich hinein, fuhr los und raste über sämtliche Landstraßen. Erst als sie einige Kilometer vom Gefängnis entfernt war, hielt sie auf einem kleinen Parkplatz, der unbesucht war, an, öffnete die Wagentür, lehnte sich hinaus und übergab sich ins Gras. Für einen Moment saß sie nur so da und ließ das Gespräch Revue passieren. Das konnte doch alles nicht sein. Tom hatte sich umgebracht! Wegen ihr! Das hatte sie doch nicht gewollt! Warum nur, warum hatte sie ihren Frust an dem Jungen ausgelassen? Hätte sie gewusst, dass es so weit führen könnte. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf, weinte und konnte sich nicht mehr beruhigen. Sie kam nicht mit dem Gedanken klar, dass wegen ihr ein Mensch gestorben war. Dass er sich wegen ihr umgebracht hatte. Und sie wusste nicht, wie sie mit dem Wissen weiter leben sollte.

 

 

                                           5 Monate später
“Vielen Dank Frau Graf.“ Sie verließ die Praxis, ging über die Straße und lief
langsam durch den Park, der im strahlenden Sonnenschein einfach traumhaft war. Doch sie konnte die Schönheit nicht genießen. In der heutigen Sitzung hatte sie wieder viel geweint. Ihre Therapeutin war sehr gut, es tat jedes Mal gut mit ihr zu reden und es war auch jedes Mal wie ein kleines Stück Befreiung. Doch Nadine wusste, auch wenn Manuel wegen dem versuchten Mord zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt worden war und ihr die Therapie jedes Mal ein bisschen mehr half, würde sie nie mehr frei und ungezwungen sein können. Niemals würde sie sich verzeihen können, dass ein Mensch sich wegen ihr das Leben genommen hatte. Diese Schuld würde sie für immer quälen

 

Schreibe einen Kommentar