Wie immer parkte er seinen Wagen in der Garage. Und wie immer war er zu spät zum Abendessen. Regina war sicher nicht böse, aber erfreut bestimmt auch nicht. In Gedanken hörte er schon die Stimme seiner Frau: „Tom, du arbeitest einfach zu viel. Nimm dir doch mal frei und mach eine Woche mal gar nichts.“
Mit einem tiefen Seufzer musste er Regina innerlich recht geben, er braucht einmal eine Auszeit. Jeden Tag 12 Stunden zu arbeiten hielt nun mal keiner auf Dauer durch. Kanzlei aufzubauen forderte Opfer. Eines davon war, dass seine Augen schon wieder vor Müdigkeit brannten und seine Kopfschmerzen kaum eine Pause machten. Aber eigentlich war Tom kein typischer Workaholic. Es war einfach eine Notwendigkeit. Ein großes Haus in einer guten Wohngegend, der Reitunterricht von Leni und die Musikstunden von Marie. Auch Regina liebte den Luxus, das alles kostete Geld. Auch ihm selbst gefielen die schönen Dinge des Lebens. Aber noch viel mehr genoss er das Ansehen. Die jungen Kollegen, die zu ihm aufsahen, jene die neidisch auf das blickten was er mit seinen gerade 40 Jahren schon erreicht hatte, das war sein Lebenselixier. Seine Kanzlei war ein der ersten Adressen für Wirtschaftsstrafsachen. Die Meinung anderer war ihm wichtig. Er würde das zwar nicht zugeben, wie die meisten. Aber er wollte nicht, dass bei Abendessen oder Partys über ihn oder seine Familie getuschelt wurde, er wollte, dass man mit Respekt über ihn sprach. Dafür arbeitete er, für seine heile Welt, das war sein Antrieb.
Die Mädchen hatten wohl eine Verlängerung der Fernsehzeit erwirken können, da sie um kurz vor acht nur ein knappes „Hallo“ für ihren Vater übrig hatten, um ja nichts von ihrer Zeichentrickserie zu verpassen. Regina begrüßte ihn mit einem Kuss beim Aufräumen in der Küche. „Wir haben nicht mit dem Essen auf dich gewartet.“, merkte sie entschuldigend an. Doch Tom hörte den Vorwurf darin und seufzte nur, als er seinen Teller in der Mikrowelle wärmte. „Es ist übrigens ein Paket für dich gekommen. Es war ein Handy drinnen. Deines ist doch ganz neu? Oder hast du für die Mädchen eines gekauft?“ fragte sie als sie sich zu ihm an den großen Esstisch setzte. „Ja, meines habe ich erst seit 2 Wochen. Habe immer noch nicht alles so eingerichtet wie ich es brauche. Vielleicht wurde es falsch zugestellt?“ „Das komische ist, dass es nicht original verpackt ist, als wäre es ein Gebrauchtes. Das hat mich schon gewundert.“ „Ich schau‘s mir nachher an.“ Kauend dachte Tom schon wieder an die Arbeit und hörte Regina gar nicht richtig zu. „Das Paket steht auf deinem Schreibtisch.“
Als die Mädchen im Bett waren und Tom sich doch noch einmal seiner Arbeit widmen wollte, fiel sein Blick auf das Paket am Schreibtisch. Eigentlich wollte er sich jetzt nicht damit befassen. Um Regina einen Gefallen zu tun, warf er trotzdem einen Blick hinein und fischte das Handy heraus.
Nicht das neueste Modell, aber trotzdem modern. Tom drückte den Einschalt-Knopf und zu seiner Überraschung erwachte das Display zum Leben. Kein Pin. Keine Apps auf der Oberfläche-nur das „Galerie“ Icon. Tom tippte es an. In der Galerie war nur ein einziges Bild. Ein Foto von einem jungen Mann vor einer südländischen Landschaft.
Ein Schwindelgefühl erfasste ihn und er dachte er würde ohnmächtig zu Boden sinken oder einen Herzinfarkt bekommen. Die Enge in seiner Brust wurde immer drückender und nahm ihm den Atmen. Er war in Panik! Bei einem neuerlichen Blick auf das Foto wurde ihm wieder heiß und kalt zugleich. Der junge Mann stand in einem luftigen Hemd vor einem alten Bauernhaus. Am rechten Bildrand hinter dem jungen Mann waren zwei Olivenbäume zu erkennen. Deren gefurchte Rinde und knorrigen Äste wohl schon viele Sommer gesehen hatten. Die saftigen dunkelgrünen Blätter hoben sich vom strahlend blauen Himmel ab. Das Gras war braun verbrannt wie es in heißen Sommern oft vorkam. Das Haus war aus massivem Naturstein gefertigt, an dem sich neben der Tür ein Weinstock hochrankte. Das Foto war alt, nicht mit dem Handy aufgenommen, sondern von einem Papierbild abfotografiert. Der Bursche im Vordergrund lachte ausgelassen in die Kamera. Die Lockerheit, die er ausstrahlte, löste Übelkeit in Tom aus. Beinahe hätte er sich übergeben. Er sah dem Mann auf dem Foto in die Augen, und blickte in den Spiegel. Dieser Bursche war er selbst.
Er war aufgesprungen und hatte das Telefon auf den Tisch fallen lassen. Nun stand er da, erfüllt von Angst. Eine Angst wie er sie sein ganzes Leben noch nicht gefühlt hatte. Was hatte das zu bedeuten? Das Telefon war nicht zufällig an ihn geschickt worden. Immer noch mit unerträglichem Herzklopfen untersuchte er das Paket nach dem Hinweis eines Absenders. Es war nichts zu finden. Immer noch regungslos starrte er aus dem großen Fenster in die Dunkelheit der Nacht. Er war starr vor Angst. Das Gesicht, das ihm aus der Spiegelung im Fenster entgegenblickte wirkte gehetzt, ängstlich. Und doch starrten ihm dieselben Augen entgegen, die ihn auch von dem Foto angesehen hatten – nur älter und nicht mehr unbeschwert.
Toms Gedanken wanderten zu jenem Sommer vor 20 Jahren. Gemeinsam mit Ludwig und Hans hatte er beschlossen sich nach dem ersten Studienjahr eine ausgiebige Auszeit zu gönnen. Mit dem Geld ihrer Eltern mieteten sie ein Haus in der Toskana. Eigentlich eine Enttäuschung. Es war ein einfaches Bauernhaus im nirgendwo. Nicht gerade das, was sich drei 20-jährige für ihre Sommerferien erträumten. Der nächste Ort nur mit den gemieteten Mopeds erreichbar. Und selbst dort gab es keine Diskos, sondern nur eine einzige Bar, in der die älteren Männer des Ortes ihren Café schlürften. Aber zumindest gab es einen Supermarkt, in dem sie sich mit dem Nötigsten versorgen konnten. Und mit dem Taxi erreichten sie schließlich auch die nächst größte Stadt, in der es ein reges Nachtleben gab. Sie waren so glücklich gewesen und genossen ihre Freiheit! Kein Lernen für Klausuren, niemand, der ihnen sagte, sie sollten aufräumen. Sie feierten bis in die Morgenstunden, tranken und schliefen bis am Nachmittag. Trotz der anfänglichen Enttäuschung kein Meer in der Nähe zu haben, schien auch das bald nicht mehr schlimm zu sein. Rückblickend musste Tom den Kopf über ihre Blauäugigkeit schütteln. Was hatten sie erwartet? Dass jeder Winkel Italiens am Meer lag und über die schönsten Strände verfügte? Sie waren Jung gewesen, hatten geglaubt sie wüssten alles besser und seien unbesiegbar. Offensichtlich hatten sie sich geirrt.
Morgen würde alles anders aussehen im Licht des Tages. Also schlüpfte er zu Regina ins Bett und versuchte zu schlafen. Die Hoffnung auf ein paar Stunden traumlosen Schlafes waren vergebens. Tom wälzte sich nur hin und her und dabei seine Gedanken. Nach ein paar rastlosen Stunden hielt er es nicht länger im Bett aus. Von einem irrationalen Herzklopfen begleitet betrat er wieder sein Arbeitszimmer. Mit spitzen Fingern ließ er das Smartphone aus seinem Blickfeld wieder in dem Karton verschwinden, in dem es gekommen war. Er stellte die Schachtel in eine Ecke und atmete durch. Als könnten alle Ängste so vertrieben werden, wenn nur das auslösende Objekt nicht mehr im Sichtfeld war. Tom versuchte wieder klar zu denken. Vielleicht war das Ganze nur ein schräger Scherz von Ludwig oder Hans. Er sollte sie einfach kontaktieren.
Ludwigs E-Mail-Adresse hatte er in seinem E-Mail-Programm gespeichert. Der letzte „Briefwechsel“ lag auch schon wieder ein halbes Jahr zurück. Es waren die jährlichen Weihnachtsgrüße gewesen, ein freundliches „Frohes Fest“ und das übliche „Wie geht’s der Familie“. Wie eine so enge Freundschaft zu einem Austausch von Floskeln verkommen konnte? Nach dem Studium schwor man sich in Kontakt zu bleiben, dass ein Umzug nach England keinen Unterschied machen würde. Zu dieser Zeit glaubte man sogar, was man sagte, aber schon bald lebte jeder sein eigenes Leben, in dem der andere bestenfalls eine Randerscheinung war. Die Leute aus den Erzählungen des anderen wurden zu gesichtslosen Phantomen, die man nie getroffen hatte und nie treffen würde.
Mit einem Seufzen begann Tom seine Nachricht. Aber wie fragte man jemanden, mit dem man einst alles geteilt hat nach so langer Zeit nach der Vergangenheit. Mehrmals begann er von vorne, bis er einfach auf „Senden“ klickte, da er sowieso nichts Besseres zustande brachte.
Von Hans hatte er schon ewig nichts gehört. Er musste sogar zuerst sein altes Notizbuch aus der Schublade hervorkramen, um sich an den Nachnamen zu erinnern. Hans Meininger war ihnen schon im zweiten Studienabschnitt abhanden gekommen. Eigentlich sollte es nur ein Auslandssemester sein, aus dem schließlich ein ganzes Leben wurde. Auch bei ihrem Abschied hatten sie sich dieselben leeren Versprechen des Kontakthaltens gegeben. Tom gab den Namen in eine Suchmaschine ein. Nach dem Durchsehen einiger Suchtreffer war er immer noch nicht auf den richtigen Hans gestoßen.
Die Müdigkeit pochte in seiner Stirn und die Augen fielen ihm beinahe zu. Er beschloss seine Suche am nächsten Tag fortzusetzen und dem Schlaf noch eine Chance zu geben. Diesmal musste er doch noch einige Stunden geschlafen haben. Tom erwachte von den Sonnenstrahlen, die ihm den neuen Tag verkündeten.
Er versuchte sein Leben weiterzuführen, als wäre nichts geschehen. Verabschiedete sich von seiner Frau und den Mädchen mit einem Kuss und fuhr in die Kanzlei. Am Vormittag jagte ein Termin den nächsten. Mitten in der Mittags-Besprechung summte sein Telefon. Ein verstohlener Blick auf da Display zeigt ihm, dass es Ludwig war. Nervös rutschte er auf seinem Sessel hin und her. Er konnte es gar nicht erwarten ihn zurückzurufen und endlich Licht in das Geheimnis, um das Foto und das Handy zu bringen. Endlich packten alle ihre Laptops zusammen und das Meeting war beendet. Noch bevor Tom das Besprechungszimmer verlassen hatte wählte er Ludwigs Nummer.
„Tom, was ziehst da für eine Sache mit diesen E-Mails ab? Zuerst schickst du mir anonym dieses Foto und dann fragst du mich, ob ich dir ein Handy geschickt habe?“ begrüßte Ludwig ihn. „Hallo! Was meinst du mit anonymem E-Mail? Ich hab dir gestern Abend geschrieben, nachdem ich deinen blöden Scherz bekommen habe. Und ich kann dir nur sagen, ich finde das ganz und gar nicht witzig!“
„Moment mal, welcher Scherz? Ich hab dir seit der Online-Weihnachtskarte nichts mehr geschickt! Und dann hast du mir vor 2 Tagen das Foto vom Italienurlaub damals anonym geschickt!“ „Du meinst, du hast auch eines bekommen?“ „Jetzt tu nicht so dümmer als du bist. Du bist doch von uns der Vorzeige-Anwalt!“ „Ich hab dir kein Foto geschickt! Ich hab selber eines bekommen. Auf dem Handy von dem ich geschrieben habe. Ich dachte du hast es mir als Scherz geschickt!“ „Nein, ganz bestimmt nicht! Warum sollte ich sowas machen?“, gab Ludwig nun hörbar besorgt zurück. „Wenn wir beide ein Bild bekommen haben, dann kann es eigentlich nur Hans gewesen sein, der mit uns seinen Spaß treibt“, versuchte Tom sich und seinen Freund zu beruhigen. Auch er spürte, wie die Panik wieder in ihm hochstieg.
„Hans kann es nicht gewesen sein“, antwortete Ludwig knapp. „Wie kannst du dir so sicher sein? Wir haben ihn doch bestimmt 18 Jahre nicht gesehen.“ „Ich habe die letzten Tage über ihn recherchiert, weil ich zuerst ihn in Verdacht hatte. Dass du es warst, darauf bin ich erst gekommen, als ich heute seine Todesanzeige gefunden habe.“ „Was?? Hans ist tot?“, langsam ließ sich Tom auf den Bürostuhl sinken. „Ja schon seit 2 Jahren – Krebs.“
Eine unangenehme Stille breitete sich aus. Keiner wollte das offensichtliche aussprechen. Dann fasste sich Ludwig ein Herz: „Das heißt, es weiß noch jemand davon.“ Diese nüchterne Bemerkung warf Tom völlig aus der Bahn. Der Schweiß brach ihm aus, sein Puls raste und er dachte er müsse ersticken. Er versuchte langsam ein- und auszuatmen und lockerte mit zitternden Fingern seine Krawatte. „Du meinst SIE war es?“, stieß er hervor. „Hast du je wieder von ihr gehört?“, fragte Ludwig mit bebender Stimme. „Nein“, flüsterte Tom ins Telefon.
Stille. Man konnte die Angst und Ratlosigkeit beinahe durch das Telefon hören. Plötzlich stieß Ludwig einen gedämpften Schrei aus. „Check deine Mails!“ Tom öffnete den Laptop der von der Besprechung immer noch vor ihm stand. In seinem Posteingang war eine neue Nachricht eingegangen. Der Absender war Violetta2000. Verzweifelt presste er das Handy an sein linkes Ohr während er zitternd auf „öffnen“ klickte. Auf dem Bildschirm baute sich Stück für Stück das Foto eines Zeitungsartikels auf. Als er das Bild des Artikels sah, musste auch er einen Schrei unterdrücken und presste sich die Hand vor den Mund.
„Tragischer Tod einer Hausfrau nach Attacke von Ehemann“, stand da als Überschrift. Darunter ein Schwarz-Weiß-Foto einer zierlichen Frau mit schönen dunklen Augen und schwarzem Haar.
„Sie ist also auch tot.“, fasste Ludwig den Inhalt zusammen, nachdem er offensichtlich seine Sprache wiedergefunden hatte. „Wer schickt dann all das? Wer weiß, was damals passiert ist?“, fragte Tom verzweifelt in die neuerliche Stille. „Ich habe keine Ahnung! – Ich kann in drei Stunden bei dir sein – das ist kein Thema für ein Telefongespräch“, fügte Ludwig nach einer längeren Pause hinzu. „Gut“, war das einzige das Tom antworten konnte.
Eine Weile saß Tom einfach nur da. Wie automatisiert schaffte er es in sein Büro zurückzukehren, wo er nicht mehr den Blicken der anderen durch eine Glasscheibe ausgesetzt war. Er versuchte tief durchzuatmen und lehnte sich gegen die Tür. Er wollte nachdenken, einen klaren Gedanken fassen, die Informationen sortieren. Aber er konnte sich nicht konzentrieren, jeder Gedanke, den er fokussieren wollte, entglitt ihm wieder. Er war erfüllt von Angst!
Als er die Augen schloss sah er ihr Gesicht. Violetta. Das Bild aus der Zeitung. Dann dieselbe Frau – jünger, fröhlicher. Dunklen Locken fielen auf ihre Schultern, strahlende, fast schwarze Augen lächelten ihn an. Die gebräunte Haut hob sich von dem zitronengelben Sommerkleidchen ab. Spaghettiträger, der Wind, der den Rock aufblähte. Das helle, sorgenfreie Lachen. Sie blickte ihn an – sah ihm tief in die Augen. Keuchend öffnete er die Augen, eine Träne lief über seine Wange und er versuchte die Bilder abzuschütteln.
Um die Zeit bis zum Treffen mit Ludwig zu überbrücken, versuchte sich Tom in die Akten eines neuen Falls einzulesen. Nach eineinhalb Stunden unterbrach das Piepsen seines Telefons, das den Eingang einer Nachricht verkündete, den verzweifelten Versuch sich mit Arbeit abzulenken. „Bin in 40 min der ‚Bar am Hafen‘! Ludwig“ Mit einem „Daumen hoch“-Emoji antwortete Tom. Obwohl er den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, verspürte er keinerlei Hunger. Nach einem weiteren, misslungenen Versuch sich auf die Akte zu konzentrieren, beschloss Tom es sein zu lassen. Er packte seine Sachen und machte sich auf den Weg.
Er spazierte eine Weile ziellos durch die Stadt, bis es endlich Zeit war sich zum Treffpunkt aufzumachen. Es war zu bald, bestimmt war Ludwig noch nicht da. Die Bar war erstaunlich leer. Trotzdem setzte sich Tom an den Tresen und bestellte nur ein Mineralwasser. Sein Kopf schwirrte auch ohne Alkohol schon genug. So wartete er eine halbe Stunde, aber Ludwig tauchte nicht auf. Auch nach weiteren 15 min und zwei unbeantwortete Anrufen gab es kein Lebenszeichen. Tom wurde immer nervöser.
Endlich – „Komm zum Parkhaus an der Ecke Einerstraße und Hafenstraße.“ Eine merkwürdige Nachricht. Aber was war in den letzten beiden Tagen nicht seltsam gewesen. Also machte sich Tom wieder auf den Weg. Er zermarterte sich den Kopf, warum Ludwig sich nun in einem Parkhaus treffen wollte. Dort angekommen, war keine Menschenseele in Sichtweite. Als er nach dem Handy in seiner Hosentasche angelte, um Ludwig anzurufen, traf ihn ein Schlag auf den Hinterkopf.
Toms Schädel brummte wie ein Schwarm Bienen. Er war nicht sicher, ob er die Augen schon aufgeschlagen hatte. Eine undurchdringbare Dunkelheit umfasste ihn. Unter sich spürte er kalten Beton. Lag er am Boden? Seine Arme waren ausgestreckt, sie waren am Beton festgekettet. Langsam orientierte Tom sich. Er spürte seine Beine. Nein er lag nicht. Er stand an eine Wand gelehnt Nicht gelehnt – angekettet. Noch nie in seinem Leben hatte er solche Angst gehabt. Er hatte keine Ahnung wo er war, wie er dahin gekommen war oder wie lang er schon hier war. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Er erkannte einen großen Raum.
Plötzlich zerriss ein Geräusch die drückende Stille. Etwas Metallisches fiel scheppernd zu Boden. Ganz in der Nähe. Er war nicht allein.
„Hallo? Ist da jemand?“, hörte sich Tom mit einer krächzenden Stimme rufen. Sein Mund war so trocken, dass sich die Zunge wie ein lederner Lappen anfühlte. Ein grelles Licht traf seine Augen. Er zuckte zusammen und schloss reflexartig die Augen. Vorsichtig blinzelnd öffnete er sie.
Eine Taschenlampe war direkt auf sein Gesicht gerichtet. Durch den hellen Strahl konnte er die Person nicht erkennen, die die Lampe hielt.
„Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?“ Ohne eine Antwort zu bekommen, spuckte ihm die Gestalt ins Gesicht. „Warum machen Sie das? Wollen Sie Geld?“ wimmerte Tom unter Tränen. „Wo ist Ludwig?“, fragte er verzweifelt weiter.
„Tot!“, war die emotionslose Antwort des Mannes.
Gefolgt von einem Schlag mit einem Gegenstand in die Magengrube. Tom jaulte auf. Als der Schmerz etwas abklang, keuchte er: „Ich habe Geld, meine Frau zahlt für mich! Ich bin Anwalt, bitte lassen Sie mich gehen!“
„Du bist nichts“, antwortete die Stimme mit schneidender Kälte aus der Dunkelheit. Nun weinte Tom wie ein kleines Kind.
„Es ist nicht wichtig, wer wir sind, sondern was wir tun!“, flüsterte der Mann Tom ins Ohr. „Du gibst vor, ein guter Mensch zu sein. Ein braver Familienvater. Ein angesehener Anwalt. Unsere Taten machen uns zu denen, die wir sind. Und du bist ein Stück Scheiße!“
Tom zitterte am ganzen Körper, er konnte nun den Atem seines Peinigers in seinem Ohr spüren. „Bitte, es tut mir leid…“, winselte er.
Ein weiter Schlag war die Folge. „Blödsinn! Du lebst eine Lüge!“, eine Reihe von harten Schlägen prasselte auf Tom ein. „Du hast sie dir genommen. Sie wollte dich nicht. Aber du warst der reiche Student und konntest kein „Nein“ akzeptieren. Sie war erst 16! Du hast sie zerstört!“, die Stimme überschlug sich vor Wut. Und wieder spuckte ihm der Mann voll Verachtung ins Gesicht.
„So war das nicht…“
„Genauso war es! Ihr habt sie blutig geschlagen und dann habt ihr sie vergewaltigt. Drei gegen eine. Sie hat sich gewehrt. Bis sie das Bewusstsein verlor. Dann habt ihr sie wie ein Tier am Straßenrand abgeladen und liegen lassen!“
„Bitte… es tut mir leid…“, schluchzte Tom.
„Hör auf zu sagen, dass es dir leid tut!“, brüllte der Mann. „Wenn es dir leid getan hätte, hättest du gestanden, was du getan hast. Du hättest dich dafür interessiert, was aus ihr geworden ist.“
„Aber Violetta ist tot“, presste Tom hervor.
Der Tritt traf seine Weichteile so heftig, dass Tom kurz das Bewusstsein verlor. Als er wieder zu sich kam, konnte er das Gesicht des Entführers erkennen. Er war jung, seine Gesichtszüge waren hart und er hatte schwarze Augen, wie Tom sie nur einmal zuvor gesehen hatte.
„Du bist ihr Sohn?“, stöhnte er schwach. Mit versteinerter Miene starrte ihn der Bursche an.
„Der Tod war eine Erlösung für meine Mutter. Die Erlösung von allem, was du ihr mit deinen Freunden angetan hast. Sie hätte eine Zukunft gehabt – die ihr ihr genommen habt. Ihr habt ihr ihr Leben genommen. Die Eltern ließen sie fallen und damit sie nicht auf der Straße stand, heiratete sie einen brutalen Schläger. Und was habt ihr gemacht…?“ Das Gesicht war nun so nah vor Toms, dass sich ihre Nasen beinahe berührten. „Die Herren haben schön weiterstudiert, Karriere gemacht, geheiratet und Kinder bekommen.“ Das Gesicht verschwand aus Toms Blickfeld und die Taschenlampe ging aus.
„Nun ist es Zeit, dass du alles verlierst!“
„Nein, bitte, bitte, es tut mir wirklich leid. Ich werde versuchen es gut zu machen“, bettelte Tom verzweifelt. „Sie sind doch jung, ihr ganzes Leben liegt noch vor ihnen, ich werde Ihnen helfen. Ich gebe Ihnen Geld und sie können irgendwo neu anfangen. Als neuer Mensch.“
„Nein! Ich bin ich. Ich bin du. Und ich bin sie. Für mich gibt es keine Zukunft. Und für dich auch nicht“, die Schritte des Mannes entfernten sich.
Tom blieb allein zurück, allein in der Dunkelheit.