A-K19Ein bedeutsamer Händedruck

 

Leise summend verließ ich die kleine Buchhandlung in meinem Ort und betrat wieder den belebten Marktplatz. Die verschiedensten Leute tummelten sich um breit aufgebaute Stände, deren Händler versuchten, durch lautes Rufen für sich zu werben und dadurch neue Kunden anzulocken. Es war mehr Geschehen als die letzten Tage, es schien als würde der milde Schein der Februarsonne und die ersten singenden Vögel die Menschen aus ihren Häusern kitzeln. Auch ich genoss die angenehme Wärme auf meiner blassen Haut, streckte das Gesicht dem Sonnenlicht ein wenig näher und erfreute mich an diesem herrlichen Frühjahrestag. Unter dem wolkenlosen, azurblauen Himmel kreiste ein Falke und hielt nach seiner Beute Ausschau. Genau als die Kirchturmuhr Punkt Zwölf schlug und sich die schweren Glocken in Bewegung setzten, ließ sich der Falke im Steilflug in Richtung Boden stürzen, um seine Jagd erfolgreich zu beenden. Völlig in die Beobachtung vertieft, sah ich einige Momente nicht auf das raue Kopfsteinpflaster vor mir und stolperte deshalb prompt. In Gedanken schimpfte ich schon über diese unebenen Steine, als ich nach unten sah und ein rechteckigen Gegenstand vor meinen Füßen liegen sah. Neugierig hob ich ihn auf und stellte fest, dass ein Handy schuld an meinem Stolpern war. Ich hielt es vorsichtig in meinen Händen und blickte mich um. Womöglich war die Person, die es verloren hatte, noch in der Nähe und hatte mitbekommen, dass ich ihr Handy gefunden hatte.

Hat hier jemand ein Handy verloren?“, rief ich in die Menschenmenge, doch niemand rührte sich.

Vereinzelte Personen beachteten mich und schüttelten dann auf meine Frage hin nur den Kopf. Obwohl ich nicht in die Privatsphäre von fremden Leuten eindringen wollte, schaltete ich das Gerät an, in der Hoffnung auf einen Namen oder sogar die Adresse des Eigentümers zu stoßen. Als der Bildschirm eine Willkommensnachricht anzeigte, war ich ziemlich erstaunt, dass kein Passwort oder Zahlencode erforderlich war. Mit einem leichten Zögern und einem mulmigen Gefühl wischte ich die Startseite nach oben und erstarrte.

Auf dem Display leuchtete mir das Bild von einem Zeitungsartikel entgegen, der über einen Unfall vor zehn Jahren berichtete. Das Datum stimmte exakt mit dem heutigen überein. Doch dieser Artikel war nicht der Grund für mein heftig klopfendes und die vor Angst aufgerissenen Augen. Denn neben diesem Bericht wurde ein Bild scheinbar erst kürzlich hinzugefügt. Auf diesem Foto war ich zu sehen.

Ich spürte wie sich in mir eine Panik ausbreitete und mich zu übermannen drohte. Mein Atem ging zu schnell und ich bekam das Gefühl nicht genug Luft zu bekommen. Plötzliche Übelkeit setzte ein und löste augenblicklich Schweißausbrüche aus. Ich wusste nicht warum, doch diese Momentaufnahme vor mir machte mir solch eine Angst. Es war ein harmloses Foto von mir; ich lehnte entspannt an dem Balkongeländer meiner Wohnung und betrachtete die Straße unter mir, doch das Gefühl beobachtet und sogar fotografiert worden zu sein, löste in mir diese starke Verunsicherung aus. Weshalb hatte eine fremde Person ein Bild von mir auf dem Handy gespeichert und wieso zu diesem bestimmten Artikel hinzugefügt? Ich konnte es mir beim besten Willen nicht erklären und hatte im Moment zu viele ungeklärte Fragen und verwirrte Gedankengänge, als dass ich weiter mitten auf dem Marktplatz stehen bleiben konnte.

Mit schnellen Schritten bahnte ich mir meinen Weg zum Ende des Geländes und atmete erleichtert aus, als ich in einer ruhigeren Nebengasse angekommen war. Allmählich legte sich dieses merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden, doch wirklich ruhiger wurde ich immer noch nicht. Ich drehte mich alle paar Sekunden rasch um, sah nach ob mir nicht doch jemand folgte und vergewisserte mich gründlich, dass ich wirklich alleine war, bevor ich eilig in meine Wohnung flüchtete.

Vollkommen erschöpft ließ ich mich auf dem kleinen Sofa nieder und fuhr mir angestrengt durch die langen Haare. Das fremde Handy lag vor mir auf dem Tisch und löste bedrückende Gedanken aus. Was hatte ich mit diesem Zeitungsartikel zu tun? Welcher Zusammenhang bestand? Ich überlegte so gut es ging, aber kam zu keinem Ergebnis. Bevor ich es mir noch anders überlegen konnte, nahm ich das Handy schnell in die Hand und las mir den Bericht durch. Vielleicht würde ich so die Verbindung zwischen dem Artikel und mir verstehen können. Während dem Lesen überrannten mich die unterschiedlichsten Gefühle. Verständnislosigkeit, Angst und Panik, die große Ungewissheit was dies alles zu bedeuten hatte und vor allem die plötzliche Erkenntnis dass ich zu dem genannten Datum tatsächlich am Ort des Geschehens war.

Die Erinnerung kehrte nur langsam zurück und war leicht verschwommen, doch ich wusste, dass ich an diesem besagten Apriltag wegen einem dringlichen Termin später in die Arbeit gefahren war und deshalb nicht meine übliche U-Bahn genommen hatte. Der Artikel beschrieb einen schlimmen Vorfall bei der U-Bahn Linie U5. Laut dem Reporter war ein kleines Mädchen die Rolltreppe heruntergestoßen worden und hatte sich bei diesem Unglück schwer verletzt. Der Täter konnte noch nicht identifiziert oder gefasst werden.

Meine Gedanken rasten förmlich. Ich war zwar an diesem Tag an der genannten Stelle und selbst die Uhrzeit könnte ungefähr stimmen, doch dies erklärte immer noch nicht genau den Zusammenhang. Dachte etwa jemand anderes, dass ich diesem Mädchen das angetan hätte? War deshalb ein Bild von mir neben den Artikel eingefügt worden? Das konnte nicht wahr sein. So etwas hätte ich niemals getan. Ich war kein unrechter Mensch, ja auch zu Tieren war ich stets gut, also weshalb dachte eine andere Person so etwas furchtbares von mir?

Als all mein Grübeln und verzweifeltes Überlegen nichts half und ich nach Stunden noch immer keinen Schlaf gefunden hatte, setzte ich mich mitten in der Nacht vor meinen Laptop und gab die Überschrift des Artikels im Internet ein. Ich hoffte, so mehr Informationen darüber zu bekommen und dass alles dadurch aufklären zu können. Nach wie vor hoffte ich, dass es sich bei dem ganzen nur um einen großen Irrtum handelte und mich niemand verdächtigte oder sogar beschuldigte. Was dem kleinen Kind angetan wurde ist grausam und schlimm, doch ich bin es nicht gewesen und möchte nicht für die Tat eines anderen büßen müssen. Es hat bereits jemand herausgefunden wo ich wohnte und ein Bild von mir in meiner Privatsphäre gemacht. Wie weit würde dieser Mensch als nächstes gehen? Was war der nächste Schritt? Ich glaubte mittlerweile, dass die Platzierung des Handys bewusst und mit Absicht stattgefunden hatte. Diese Person hatte gewollt, dass ich es finde und dieses Bild von mir zusammen mit dem Zeitungsbericht entdecke. Doch dies hieß, dass ich schon eine ganze Zeit lang beobachtet werden musste, ansonsten hätte die Person nicht gewusst, dass ich regelmäßig über den Marktplatz ging und jeden Samstag den kleinen Buchladen besuchte.

Diese Vorstellung löste ein Schaudern in mir aus. Wieso hatte ich nicht bemerkt, dass ich verfolgt und ausspioniert wurde? Oder bildete ich mir das womöglich nur ein und hatte mich in den letzten Stunden einfach viel zu sehr in dieses Thema hineingesteigert? Ich hoffte es so sehr, doch tief in mir wusste ein kleiner Teil, dass viel mehr hinter all dem steckte. Nur wusste ich zu dem Zeitpunkt noch nicht was.

Meine Hände zitterten leicht, als ich verschiedene Internetseiten öffnete und mir die diversen Berichte über den heutigen Tag vor zehn Jahren durchlas. Jeder Artikel wich ein wenig von den anderen ab, doch der Grundinhalt war der selbe. All diese Seiten schilderten den Vorfall so wie ich es auch auf dem fremden Handy gelesen hatte. Enttäuscht klappte ich den Laptop wieder zu und fuhr mir verzweifelt durch meinen Bart. Ich hatte auf mehr Informationen gehofft, oder zumindest einen Hinweis, damit ich mir den Zusammenhang zu mir erschließen konnte. Doch meine Suche war erfolglos geblieben und ließ mich genauso hilflos und verloren zurück wie ich zuvor schon gewesen war.

Ich überlegte noch einige Stunden, wobei meine Gedanken sich im Kreis zu drehen schienen und sich immer wieder die selben Fragen stellte, bis ich schließlich doch in einen unruhigen und kurzen Schlaf fiel, als die Vögel draußen schon zwitscherten und die Sonne allmählich aufging.

Am nächsten Morgen schreckte ich aus dem Schlaf und brauchte einen Moment, um zu realisieren wie spät es war und dass mein Wecker der Grund für mein Aufwachen war. Der fehlende Schlaf von letzter Nacht machte sich sogleich bemerkbar, denn ich fühlte mich ausgelaugt und kein bisschen erholt. Ich wünschte, dass alles wäre nur ein schlimmer Traum gewesen, doch als ich ins Wohnzimmer ging und das Handy dort auf dem Tisch liegen sah, wurde mir wieder bewusst, dass ich ein großes Problem hatte. Und davor konnte ich nicht einfach davonlaufen oder versuchen es zu verdrängen.

Den ganzen Tag über ließ mich diese Angst und Ungewissheit nicht los. Selbst in der Arbeit wanderten meine Gedanken immer wieder zu diesem Thema zurück und ließen mich unkonzentriert und fehlerhaft werden. In wichtigen Geschäftsbriefen verschrieb ich mich ständig oder saß nur still vor dem Bildschirm, weil meine Gedanken sich erneut mit diesem Problem beschäftigten. Als es abends endlich Zeit war nach Hause zu gehen, war ich erleichtert und mit den Nerven am Ende. So anstrengend war die Arbeit normalerweise nicht, jedoch hatte ich heute mit der großen Müdigkeit aufgrund des Schlafmangels der letzten Nacht zu kämpfen und mein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt. Ich bekam zum Abend hin gar nicht mehr richtig mit, was meine Kollegen zu mir sagten oder ich konnte den Inhalt eines Textes nicht merken, denn ich mir gerade durchgelesen hatte.

Also ging ich mit müden Schritten aus dem Bürokomplex, ließ die schwere Türe hinter mir in die Angeln fallen und machte mich auf den Weg zu der U-Bahn. Noch immer wurde ich das Gefühl nicht los, dass mich jemand fremdes beobachtete oder heimlich Fotos von mir schoss. Mehrmals drehte ich mich möglichst unauffällig um und war jedes mal erleichtert, als ich niemanden auffälligen hinter mir entdeckte. Das schwache Neonlicht des Wartebereichs im U-Bahn Tunnel ließ mich noch müder werden, weshalb ich mich erschöpft an eine raue Betonwand anlehnte. Die Minuten schienen sich endlos zu ziehen und ich wurde mit der Zeit immer ungeduldiger. Die Haltestelle war für einen normalen Abend unter der Woche erstaunlich leer, nur weiter weg saß eine Gruppe Jugendlicher, die sich leise unterhielten und hin und wieder miteinander lachten. Etwas hinter mir stand noch ein Mann, der mit seinem langen Mantel vollkommen in schwarz gekleidet war und mich fragend ansah. Rasch schaute ich wieder vor mir auf das Gleis und schloss für einen kurzen Augenblick die Augen. Ich wollte jetzt nur noch nach Hause und mir um nichts mehr Gedanken oder Sorgen machen müssen, aber die U-Bahn fuhr einfach nicht in den Bahnhof ein.

Als ich die Augen wieder öffnete und aufblickte, stand der Mann in schwarz plötzlich ein Stück weiter neben mir. Ich versuchte mir meinen Schrecken nicht anmerken zu lassen und ihn weiterhin unauffällig aus den Augenwinkeln zu beobachten. Ich spürte seinen Blick auf mir und fragte mich, ob er mich womöglich mit einer anderen Person verwechselte.

Es dauerte nicht lange, da machte er Anstalten auf mich zu kommen zu wollen. Plötzlich nervös blickte ich wieder auf die Anzeigetafel und hoffte, dass die Bahn nun endlich einfahren würde. Innerlich bereitete ich mich schon auf das Schlimmste vor, ging mögliche Verteidigungsmaßnahmen durch und schätzte meine Chancen ab, aus dieser Situation wieder heil herauszukommen. Erst als ich einen leichten Lufthauch spürte, fasste ich meinen gesamten Mut zusammen und drehte mich zu dem furchteinflößenden Mann um.

Du bist es.“

Seine Stimme klang tief und rau, als hätte er sein gesamtes Leben lang viel geraucht, doch vielmehr die Art wie er diese simplen Wörter betonte, löste in mir rasendes Herzklopfen aus. Er klang vollkommen entschlossen, als hätte er rein gar keinen Zweifel, dass er mich mit einer anderen Person verwechseln könnte. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass es kein Zufall sein konnte. Dieser Mann hatte mich bewusst angesprochen, hatte mich vermutlich sogar verfolgt und er war derjenige, der das Handy auf dem Marktplatz positioniert hatte, damit ich es fand und dieses Foto von mir darauf entdeckte.

Die Angst lähmte mich und ließ mich keinen klaren Gedanken fassen. Ich war von der gesamten Situation überfordert, war mir jedoch sicher, dass mir dieser Mann etwas antun wollte und dies auch tun würde. Niemand war da, der mir helfen könnte. Die Jugendlichen würden bei der ersten Gelegenheit das Weite suchen und mich meinem Schicksal überlassen, selbst wenn sie versuchen sollten mir zu helfen, wäre es für diesen Fremden garantiert kein großes Problem, mit ihnen fertig zu werden. Seine Statur sprach zumindest dafür und der eiserne Ausdruck auf seinem knochigen Gesicht.

Er durchbrach die letzten sicheren Meter zwischen uns und blieb dicht vor mir stehen. Sein ausgestreckter Finger drückte auf meine Brust und hinterließ ein Brennen auf meiner Haut.

Steh endlich zu dem was du getan hast!“

Der Ausruf durchschnitt förmlich die Luft und ließ mich verängstigt ein Stück zurückweichen. Noch nie hatte ich solch eine Angst um mein Leben verspürt.

W- Was hab ich denn getan?“, stotterte ich und traute mich kaum ihm dabei in die Augen zu sehen.

Ich hörte nicht mehr was er erwiderte, denn die U-Bahn fuhr polternd in den Bahnhof ein, doch der Zorn der in seinen Augen aufloderte, sprach für sich. So schnell ich konnte, flüchtete ich in den recht vollen Wagon, stellte mich zwischen eine Gruppe von Leuten und atmete erleichtert aus, als der Mann die Bahn nicht betrat. Sein Blick lag jedoch weiterhin auf mir, schwer und hasserfüllt starrte er mich von dem Bahngleis aus an. Selbst als wir die Haltestelle ein ganzes Stück hinter und gelassen hatten, hallten in meinem Kopf noch immer die Worte von dem Mann nach. Ich wünschte ich könnte verstehen was er meinte. Wahrscheinlich würde er so schnell nicht aufgeben und mich erneut nach der Arbeit aufsuchen. Mein Herz raste allein bei dem Gedanken daran wie verrückt. Dann würde ich nicht mehr alleine zu der Haltestelle gehen. Doch vielmehr musste ich mehr über diesen Unfall erfahren und meine Rolle darin verstehen. Noch imemr hoffte ich, dass es alles eine große Verwechslung war und ich gar nichts damit zu tun hatte. Doch der Blick des Mannes hatte etwas in mir ausgelöst, dass ich nicht zuordnen konnte. Ich hatte das Gefühl, den Mann von irgendwoher zu kennen, doch mir fiel es beim bloßen Willen nicht ein woher.

Fröstelnd stieg ich an meiner Station aus, zog mir den Mantel etwas enger um den Körper und eilte mit schnellen Schritten zu meiner Wohnung. Ich hatte mir vorgenommen, weiter zu recherchieren, mehr über das Geschehene von damals zu erfahren und womöglich somit herauszufinden, weshalb mir das Gesicht des Mannes so bekannt vorgekommen war.

Doch als ich die Haustüre langsam hinter mir schloss, wurde ich stutzig. Aus meiner Küche strahlte ein schwacher Lichtstrahl, aber ich war mir soweit sicher, heute morgen gar kein Licht angeschaltet zu haben. So leise wie möglich ging ich in Richtung der Küche, mein Handy in der einen Hand und für den Notfall den Schlüsselbund in der anderen. Etwas besseres zum Verteidigen hatte ich im Moment leider nicht greifbar. Der kalte Angstschweiß rannte mir allmählich den Rücken hinunter, während meine Hände unkontrolliert das Zittern anfingen und meine Beine drohten, einfach nachzugeben. Doch ich zwang mich stark zu bleiben und mutig zu wirken. Was auch immer in diesem Zimmer sein mochte, ich würde es herausfinden und mich nicht kampflos aufgeben.

Mit einem leichten Stoß öffnete sich die Küchentüre knarzend und gab den Blick in den Raum frei. Ich wusste nicht womit ich gerechnet hatte, doch niemals hätte ich tatsächlich geglaubt, dass ich nicht alleine in meiner Wohnung wäre. Erschrocken wich ich zurück, stieß an den Türpfosten und ließ vor Schreck mein Handy fallen. Vor mir saß der Mann von der U-Bahn Station, lehnte sich entspannt auf meinem Küchenstuhl zurück und starrte mich aus unergründlichen Augen an.

Du siehst überrascht aus“, meinte er dann und zog die Augenbrauen spöttisch hoch.

Wie? Sie waren-“, versuchte ich einen ganzen Satz zu formulieren, doch die Furcht und der Schock ließen es nicht zu.

Wie ich hierhergekommen bin? Ich weiß doch natürlich wo du wohnst? Wer meinst du denn war die Person, die in den letzten Tagen jede Nacht vor deinem Fenster gestanden hat? Du hast mich doch einige Male beobachtet, also wieso wundert es dich dass ich nun hier bin?“

Nun wurde mir bewusst, dass ich mir dies nicht nur eingebildet hatte. Ich hatte mehrmals das Gefühl, dass jemand vor meiner Wohnung stand und zu mir hinauf sah, doch ich dachte ich hätte es mir beim hinaussehen nur eingebildet und es auf die Müdigkeit geschoben. Für mich war es viel zu viel in diesem Moment. Ich stand nur da, ballte die Hände zu Fäusten und starrte diesen Fremden schwer atmend an. Ich hatte solch eine Angst, aber auch langsam eine Wut entwickelt, dass er einfach so in mein Leben kam und es so durcheinander brachte, ohne mir zu erklären was ich angeblich getan haben sollte.

Was wollen Sie von mir?“, fragte ich nach einigen Augenblicken des Schweigens, in denen er mich nur mit einem seltsamen Blick musterte.

Was ich von dir will? Soll das ein Scherz sein? Ich will Rache! Für das was du meiner Tochter angetan hast, dafür dass du unser Leben ruiniert und für immer zerstört hast! Ich will, dass du dafür büßt und werde dafür sorgen, dass du deine Tat endlich anständig bereust!“

Seine Stimme wurde immer lauter, bis er fast schon schrie.

Als er mich weiter nur mit einem panischen Gesichtsausdruck in der Tür stehen sah, ließ er sich wieder gegen die Lehen sinken und atmete laut aus.

Du erinnerst dich wirklich nicht oder? Dabei habe ich dir sogar einen Hinweis mit dem Zeitungsartikel gegeben. Wie kann man sich an solch eine Tat nicht erinnern!“

I- ich weiß es nicht, ich versteh nicht wovon Sie reden“, meinte ich rasch, bemüht nichts falsches zu sagen, was ihn unnötig reizen könnte.

Vor Zehn Jahren war ich mit meiner damals Vierjährigen Tochter bei der nächsten U-Bahn Station von hier aus. Wir wollten die Linie U5 nehmen, uns einen schönen Tag im Zoo machen, die Tiere ansehen, in das Streichelgehege gehen.“

Für einen kurzen Augenblick stoppte er seine Erzählung, sah zum ersten Mal seit dem ich den Raum betreten hatte, von mir weg und blinzelte mehrmals schnell. Als er wieder etwas gefasster schien, sprach er weiter: „Wir waren gerade auf dem Weg die Treppe hinunter, als ein Verrückter angelaufen kam, sich immer wieder panisch umsah und dann die Treppe hinaufgerannt kam. Er schrie um Hilfe und dass ihn jemand verfolgen würde, wobei niemand hinter ihm herlief. Doch als er sich erneut umdrehte, rannte er direkt auf mich und mein kleines Mädchen zu und übersah sie. Ich wurde nur zur Seite gestoßen, Lucia hingegen stürzte und fiel die Treppe hinunter. Sie konnte mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht werden und hat noch heute Probleme beim Gehen wegen des Unfalls. Deshalb will ich Rache. Weil du ihr Leben zerstört hast. Du ganz alleine. Dafür musst du büßen!“

Meine Gedanken überschlugen sich, als ich ihm zuhörte und versuchte, das alles zu verstehen.

Hast du etwa gar nichts dazuzusagen? Keine Entschuldigung? Zeig gefälligst Reue und steh zu deiner Tat!“

Ich versuche das alles zu verstehen. Es tut mir wahnsinnig leid, dass euch so etwas schlimmes passiert ist. Doch ich kann mich nicht erinnern, dass ich so etwas getan hätte. Das wüsste ich“, erklärte ich langsam, doch ich bereute meine Worte zugleich.

Du willst dich nur nicht daran erinnern, denn dann müsstest du dir eingestehen was du schlimmes getan hast. Doch ich werde dich nicht so leicht damit davonkommen lassen. Hier, sie dir das an! Das ist meine Tochter und hier, das Bild, so sah sie an diesem Tag aus.“

Er zeigte mir mehrere Bilder auf seinem Handy und bei dem letzten passierte etwas in mir. Das glückliche Lächeln des Mädchens auf dem Foto löste etwas in mir aus, einen Funken der Erinnerung, der plötzlich wieder aufblitzte.

Ich versuchte mich an weitere Details zu erinnern und Stück für Stück gelang es mir. Auch wenn ich mir innerlich wünschte, es nicht zu tun, denn diese Erinnerungen waren schrecklich und rissen längst vergessene Wunden wieder auf.

Moment, ich glaube ich erinnere mich an deine Tochter. Du sagtest es wäre vor zehn Jahren passiert?“

Ja, genau. Vor zehn Jahren hast du meiner Tochter diese furchtbare Tat zugefügt!“

Ich atmete tief durch, war mir bewusst, dass ich ihm dies nun nicht mitteilen sollte, doch ich konnte es nicht für mich behalten. Dieser Mann hatte das Recht, die Wahrheit zu erfahren, auch wenn dies hieß, dass er mir womöglich, gleich etwas antun würde. Doch ich musste für meine Taten einstehen.

Vor zehn Jahren litt ich an einer schweren schizophrenen Psychose. Ich war in Behandlung, doch ich hatte immer wieder akute Schübe, in denen ich fast komplett die Kontrolle verlor. Ich erinnere mich, dass es an diesem Tag an der U-Bahn Station passiert war. Ich bekam das panische Gefühl verfolgt zu werden, wahnsinnige Angst und musste aus dieser Situation fliehen. In solchen Momenten habe ich meine Umgebung nicht mehr richtig wahrgenommen, deshalb ist vermutlich dieser Unfall passiert. Doch es rechtfertigt nicht, was ich deiner Tochter ungewollt angetan habe. Ich wünschte ich könnte es rückgängig machen, doch das geht leider nicht. Ich kann verstehen, dass du Rache dafür nehmen willst, was deiner Tochter wegen mir zugestoßen ist.“

Stille legte sich über uns und ließ nur noch das Ticken der Uhr hören. Meine Angst wuchs noch weiter, doch ich fühlte mich ein klein wenig befreiter, da ich nun wusste, weshalb er mich verfolgt und aufgesucht hatte.

Hast du dich all die Jahre nicht daran erinnert? Und hast du noch immer solche Phasen?“, fragte er schließlich und betrachtete mich mit in Falten gelegter Stirn und nachdenklichem Blick.

Ich schüttelte den Kopf.

Nein, solche Schübe sind seit damals nicht mehr aufgetreten. Ich habe mein Leben wieder fest unter Kontrolle und versuche alles, um eine erneuter Psychose zu verhindern. Nur durch das Bild deiner Tochter wurde in mir wieder die Erinnerung geweckt. An das Meiste, dass während dieser Zeit geschehen war, habe ich keine klaren Erinnerungen.“

Langsam nickte er und ließ dann den Kopf sinken.

Ich wollte so gerne Rache nehmen, weil ich all die Jahre davon ausging, dass es pure Absicht war. Ich hatte solch einen Hass auf die Person, doch nun verstehe ich es ein wenig besser. Ich kann dir nichts antun, denn du hattest es damals schon schwer genug. Doch verzeihen kann ich dir dennoch nicht.“

Das kann ich komplett nachvollziehen. Und ich danke dir, dass du dich gerade nicht von deinen Gefühlen und deiner Wut hast leiten lassen. Ich wünschte nur, ich könnte es auf irgendeine Art wieder gut machen“, sagte ich aufrichtig und meinte jedes meiner Worte ehrlich.

Vielleicht kannst du tatsächlich etwas für meine Lucia tun. Sie muss momentan wieder wöchentlich zu einer speziellen Physiotherapie, die einige Kilometer entfernt ist. Wenn du bereit wärst, sie dorthin zu bringen, gut auf sie aufzupassen und wieder heile und unverletzt zurückzubringen, wäre es ein Anfang deinen Fehler wieder zu entschuldigen“, meinte mein Gegenüber dann plötzlich.

Ein kleines Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus.

Natürlich. Das würde ich selbstverständlich übernehmen. Ich verspreche, auf Ihre Tochter gut aufzupassen, darauf haben Sie mein Wort.“

Gut, du weißt du hast nur diese eine Chance, nutze sie gut. Und du kannst mich Bernd nennen.“

Simon“, meinte ich schmunzelnd und streckte ihm die Hand entgegen. Sein fester Händedruck passte genau zu seinem äußeren Erscheinungsbild. Es war ein bedeutender Händedruck. Ein Händedruck zwischen zwei Männern, die sich nicht von ihren Gefühlen haben leiten lassen, sondern erst mit ihrem Verstand gehandelt und nachgedacht haben. Womöglich der Beginn einer neuen Freundschaft, oder zumindest der Anfang einer Versöhnung nach langer, viel vergangener Zeit.

Doch auf jeden Fall war es ein bedeutsamer Moment für beide dieser Männer, denn jeder von ihnen, konnte mit einem Teil aus seiner Vergangenheit Frieden schließen.

 

2 thoughts on “Ein bedeutsamer Händedruck

  1. Hallo,

    Ich bin immernoch total überrascht, dass deine Geschichte so positiv endet. Da das so ungewöhnlich hier ist, kommt es mir irgendwie auch so unrealistisch vor.
    Leider löst sich dadurch die Spannung auch so schnell auf und ich habe noch den großen Knall erwartet.
    Nichtsdestotrotz finde ich, dass du ein interessantes Thema gewählt hast, das leider ja auch sehr real ist.
    Es gibt ein paar Rechtschreibfehler und Wortwiederholungen, aber die hat man ja schnell abgeändert.
    Ansonsten gebe ich dir gerne noch mit auf den Weg, dass mir manche Gedankengänge sehr konstruiert vorkamen und du das etwas lockerer beschreiben könntest… Ich glaube, es ist da immer gut, sich selbst zu überlegen, wie man etwas sagen oder denken würde. Aber ich bin da auch kein Fachmann…es gibt aber viele Geschichten hier, die das toll gelöst haben.

    Ich wünsche dir noch viel Erfolg und alles Liebe,

    Jenny /madame_papilio

    Vielleicht magst du ja auch meine Geschichte lesen: https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/nur-ein-kleiner-schluessel

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