SaraBEin Fenster in die Vergangenheit

Schwungvoll platzierte Katharina ihre Handtasche auf dem Beifahrersitz, während sie elegant hinter das Lenkrad ihres Toyotas glitt. Trotz der dunklen Schatten unter ihren Augen, lächelte sie. Heute war ein guter Tag. Louis war wieder gesund. Sie hatten einen angenehmen Freitagmorgen verbracht, viel gelacht und der Zweijährige war wieder voll und ganz das gut gelaunte Kleinkind, das so oft ihr Herz aufgehen lies. Schon den ganzen Morgen lief alles wie am Schnürchen. Es gab keine Diskussionen über die Kleider- oder Frühstücksauswahl, keine Trotzszenen beim Zähneputzen und auch der Abschied in der Krippe war problemlos verlaufen. Sonntags würde ihr Mann Stephan von einer zehntägigen Dienstreise aus Neuseeland wiederkommen. Katharina blickte auf die Uhr am Armaturenbrett und sah, wie sie früh dran war und beschloss sich am Weg ins Büro noch einen Kaffee aus ihrer Lieblingskonditorei zu holen. Vielleicht würde ja auch eine süße Sünde den Weg in Ihre Handtasche finden, um mittags verspeist zu werden. Bei dem Gedanken lächelte sie wieder und fuhr los.

„Bitteschön, ein großer Brauner und eine Cremeschnitte für Sie zum Mitnehmen“, das freundliche Gesicht der Konditorei-Mitarbeiterin, die ihr zuzwinkerte, hinterließ abermals ein Gefühl der Zufriedenheit. Katharina verstaute das Dessert in ihrer großen schwarzen Leder-Handtasche, bevor sie sich wieder auf den Weg nach draußen machte. Die junge Frau hinter ihr bestellte einen Cappuccino mit Sojamilch und Katharina dachte bei sich, wie angenehm diese Stimme wäre. Es war nur einer von den vielen flüchtigen Gedanken, die jeden täglich so oft begleiten und so war er ihr auch schon wieder entglitten, als sie hinaus in die Sonne trat.

Während Katharina den letzten Bissen ihres Thunfischsalats in sich hineinschob, klopfte es an der Tür und sogleich trat ihr Chef ins Büro. „Gut gemacht, Katharina! War ein tolle Präsentation und ich denke du hast das Projekt im Sack.“ Sie schluckte hastig runter und dankte ihm für die netten Worte. „Ich habe viel Herzblut da hineingesteckt und ich bin mir sicher, es wird uns alle weiterbringen. Jetzt heißt es Daumen halten, dass wir den Auftrag auch bekommen.“

„Ich bin zuversichtlich“, versicherte er und verließ auch schon wieder Raum – nicht ohne den Daumen symbolisch nach oben zu strecken.

Mit der diebischen Freude einer siebenjährigen, die ihren geheimen Süßigkeiten-Vorrat plündert, öffnete sie ihre Handtasche, um an die Cremeschnitte zu kommen. Dabei fiel ihr Blick auf ein Handy, das ihr nicht bekannt vorkam.

‚Verdammt‘, dachte sie bei sich, ‚das muss ich versehentlich in der Konditorei eingepackt haben.‘ Sie nahm sich vor, sofort nach Arbeitsschluss dafür zu sorgen, es seinem rechtmäßigen Besitzer auszuhändigen, wie auch immer sie das anstellen wollte. Nachdem sie den Traum aus Blätterteig und Creme vor sich am Schreibtisch platziert hatte, griff sie nach dem Telefon. Sie wollte es zu ihrem eigenen legen, um nicht zu vergessen, sich darum zu kümmern. Zu oft waren zu erledigende Aufgaben bei ihr aus den Augen, aus dem Sinn. Aber auch Katharina war nicht vor der in den meisten Menschen wohnenden Neugierde gefeit und aktivierte den Screen, was ihr sogleich ein entzücktes Lächeln ins Gesicht zauberte; der Bildschirmschoner zeigte ein kleines Kind in einer Sandkiste, in etwa in dem Alter ihres Sohnes. Sie lachte kurz auf, als sie bemerkte, dass das Kind den gleichen roten Pulli trug, den sie auch neulich für Louis gekauft hatte. Als sie nun die sandige Hose mit dem Streifenmuster betrachtete, lachte sie nicht mehr. Der Bildschirm wurde schwarz und Katharina saß still und bewegungslos da während sie auf das kleine Gerät in ihren Händen starrte.

‚Das kann nicht sein‘, wischte sie den Gedanken weg und um den schwarzen Screen wieder Farbe zu geben, drückte sie den kleinen Knopf. Ihr Herz klopfte bei der genaueren Betrachtung des Fotos, der Junge war nicht nur wie ihr Sohn gekleidet, er sah auch aus wie er. Die Erkenntnis traf sie unvermittelt.

‚Das ist Louis‘, schoss ihr aus allen Richtungen durch den Kopf. Nicht nur das, sie erinnerte sich an den Tag. Vergangenen Sonntag war sie mit ihm auf dem Spielplatz ums Eck gewesen – da war er noch nicht krank, vielleicht hatte er sich im feuchten Sand verkühlt. ‚Das ist ja jetzt total wichtig‘, schalt sie sich in Gedanken selbst und studierte das Foto eingehender.

Sie war ebenfalls abgebildet, wenn auch nur ein Teil ihres Rückens, Hinterkopfs und Ohrs zu sehen war. In diesem Moment erinnerte sie sich ganz genau, wie sich die Holzumrandung der Sandkiste unter ihrem Po und ihren Oberschenkeln anfühlte, als sie auf ihr saß. Ihre Gedanken rasten als sie versuchte das Handy zu entsperren.

‚Kein Pin – gut so‘, dachte sie bei sich. Sie öffnete hastig die Galerie und da waren noch mehr Fotos von dem Nachmittag. Es mussten Aufnahmen aus verschiedenen Winkeln gemacht worden sein. Mal konnte man Louis‘ Gesicht sehen, mal ihres. Eilig scrollte sie durch die Bilder, Tränen standen ihr in den Augen.

Da waren mehr. Letzte Woche, letzter Monat, Skiurlaub im Februar, Weihnachten. Das schlimme war, die Fotos waren wunderschön. Man sah die Liebe in ihrer Familie aus dem Bildschirm geradezu herausströmen, das warme Lachen ihres Sohnes und ihres Mannes erschallte in Gedanken in ihrem Kopf – unter normalen Umständen würde sie diese Bilder lieben.

Als sie das Handy auf den Schreibtisch sinken ließ, stand ihr die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Der Bildschirm wurde wieder schwarz. Mehrere Minuten lang starrte sie in die Leere, sie fühlte nichts. Sie fragte sich, was sie eigentlich fühlen sollte, aber es kam nichts. Da war nichts. Sie blinzelte gegen die Sonne, die durch ihr Bürofenster fiel. Immer noch nichts.

Sie schloss die Augen und gab sich der Leere hin, um ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen, um wieder klar denken zu können. Das laute Piepsen, das den Eingang einer Kurznachricht begleitete, schreckte sie beim zweiten Mal einatmen so auf, dass sie fast vom Sessel gefallen wäre. Mit zitternden Fingern griff sie abermals nach dem Handy und öffnete die Nachricht des Absenders „Lies mich“ mit einem Tippen auf den Bildschirm:

Hey Katharina,

ich darf dich doch so nennen, oder? Egal, ich tu es einfach. 😉 Ich habe Louis wie geplant – also von mir geplant, nicht von dir – aber lassen wir das mal nebensächlich sein – von der Kinderkrippe abgeholt. So nette Betreuerinnen dort, wirklich. So voller Vertrauen. *hihi* Wir haben es spaßig miteinander. Aber auch du solltest jetzt ganz ruhig bleiben, deinen Tag normal weiterleben. Und, ich will ja nicht überdramatisch klingen, aber du wirst es dir sicher schon denken, keine Polizei, wenn du nicht willst, dass deinem kleinen Engel irgendwelche Grausamkeiten zustoßen. 😉 Ich melde mich wieder, also behältst du das Handy besser bei dir, ja? Bis dahin, wünsch ich dir noch einen schönen Tag und ich hoffe du konntest deine Cremeschnitte genießen <3. XOXO

Ein lautloser Schrei entwich ihrer Kehle und nun wusste Katharina was sie fühlte: Horror. Er erfasste jede Faser ihres Körpers, in ihrem Kopf raste es. Ihre Sorge galt allein ihrem kleinen Sohn. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ihm etwas zustoßen würde. Dass ihm etwas zugestoßen war. Aber wie man auch Fahrradfahren nicht verlernt, wich die kurze äußere Entgleisung einer Art erzwungener Gelassenheit. Ihre Tränen waren getrocknet und ihr Kopf funktionierte wieder. Ein kurzer Blick in den Taschenspiegel, den verronnenen Eyeliner korrigiert und etwas mehr Rouge gegen die soeben aufgetretene Blässe. „Schaut ja wieder fast normal aus“, bestätigte sie sich selbst in ihr sonst leeres Büro. Sie kramte ihre Unterlagen für das nächste Meeting zusammen und machte sich auf den Weg in das Konferenzzimmer – nicht ohne die unberührte Cremeschnitte energisch in den Müll zu werfen. „Ich dachte, dieser Scheiß läge hinter mir.“, murmelte sie, während sie zur Tür schritt um an diesem Tag, wie geheißen, normal weiter zu machen.

In ihrer Küche fiel die warme Nachmittagssonne auf den Esstisch, an dem Katharina seit geraumer Zeit saß und das Handy durchsuchte. In jedem kleinsten digitalen Winkel hatte sie gestöbert. Nichts, außer die makaber-schönen Familienfotos und ein einziger Kontakt – „Lies mich“ – von dem auch die eine Nachricht war. Keine Apps außer die standardmäßig installierten. Die Sim-Karte war Prepaid und natürlich waren auch die Telefonnummern in keinem Verzeichnis zu finden. Ungeduld stieg in ihr auf, aber sie wusste, wenn sie ihren Sohn unversehrt wiederhaben wollte, musste sie jetzt ruhig bleiben. Ebenso musste sie bei Kräften bleiben, und obwohl sich ihr Magen sträubte, verzehrte sie widerwillig einen Teller Spaghetti Carbonara.

Katharina wechselte, ohne die Programme wahrzunehmen, alle paar Minuten den Sender ihres Fernsehers, als das laute Piepsen sie abermals aus ihrer erzwungenen Ruhe riss. Die Keramik-Wanduhr zeigte bereits halb neun an. Mit einem Griff zum Couchtisch nahm sie das Handy und öffnete gleichzeitig die Nachricht von „Lies mich“:

Hey Katharina,

boah, dein Zwerg ist ganz schön anstrengend – Mama hier, Mama da, heulen und jammern. Undankbar. Wirklich undankbar. Dabei hab ich mir so viel Mühe gegeben.

Aber ich denke, es würde ihn freuen, dich zu sehen – also werde ich ihm diese Chance geben.

Ich erwarte dich heute um 23:00 Uhr an den Koordinaten, die ich dir noch senden werde. Das am Handy installierte Navi wird dich hinbringen. Komm allein. Informiere niemanden. Keine Polizei. Bis dann, Katharina.

An der äußeren Gelassenheit, die sie schon den ganzen Tag begleitete, änderte auch diese Nachricht nichts. Katharina legte das Handy wieder auf den Tisch und machte sich auf den Weg in ihren Schrankraum. Die bequeme, enganliegende Kleidung, die sie bereits am Nachmittag herausgesucht hatte, hing wie ein Mahnmal des kommenden Unheils über ihrem stummen Diener. Doch bevor sie hineinschlüpfte, wandte sie sich an die Rückwand des Abteils hinter ihren Blusen. Mit dem korrekten Druck an drei verschiedenen Stellen, schwang die Wand auf und legte den Blick auf einen kleinen Wand-Safe frei. Ihr Fenster in die Vergangenheit. Langsam und begleitet von dem vertrauten Klicken der Mechanik drehte sie das kleine Rad an die erste Stelle der Kombination.

Den ganzen Tag waren Katharinas Gedanken bereits darum gekreist, wer hinter dieser grausamen Aktion stecken könnte. Seit sie vor vier Jahren die Zeitung aufschlug und vom Tod ihres Vaters las, dachte sie nicht, dass diese Welt sie wieder einholen würde. Während sie das Gaspedal ihres Toyotas gerade so weit belastete, um nicht von der Polizei aufgehalten zu werden, ging sie im Kopf wieder und wieder die „Geschäftspartner“ ihres Vaters durch – welcher dieser miesen Kerle hätte ein Interesse daran ihr zu schaden?

Keiner. Auch der Stil in dem die Kurznachrichten verfasst wurden, passte nicht in dieses spezielle Geschäftsleben. Und auch wenn die zweite Nachricht deutlich unfreundlicher formuliert war, und ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend hinterließ, passten sie einfach nicht. Allerdings war es bereits über 16 Jahre her, dass sie den Entschluss fasste jenem Leben den Rücken zu kehren.

Gelernt hatte sie damals genug. Vorsichtig legte sie ihre Hand auf den Schal, der sich auf ihrem Beifahrersitz befand und erfühlt darunter die Konturen ihrer Glock 29 – ein Relikt aus jener Zeit – und seufzte tief. Das war ihre Art geworden, damit umzugehen, was damals passiert war. Die positiven Dinge sehen, sich darauf konzentrieren, was sie von damals mitnehmen konnte. Denn würde sie ihre Gedanken zu den dunklen Orten ihrer Jugend lassen…

Mit heftigem Kopfschütteln brachte Katharina ihre Aufmerksamkeit wieder in die Gegenwart.

‚Viel kann sich in 16 Jahren ändern – auch wie Geschäfte gemacht werden.‘ Das Navi zeigte noch 10 Minuten bis zur Ankunft an. „Wir werden schon sehen, wer du Mistkerl bist. Ich werde mein Leben sicher nicht kampflos aufgeben!“ Ihre Worte hingen in der Fahrerkabine, während sie die letzte Abbiegung nahm und nun eine ruhige Landstraße entlang in Richtung Kläranlage steuerte.

Neben entferntem leisen Motorensummen waren Katharinas Schritte das einzig wahrnehmbare Geräusch. Langsam und vorsichtig ging sie über den geschotterten Weg. Soweit es ihr möglich war, hielt sie sich im Schatten zwischen den nicht besonders hell leuchtenden Laternen auf und immer nahe an den Gebäudewänden. Sie kannte das Gelände nicht, jedoch hatte sie sich Bilder auf Google Maps angesehen, nachdem sie die Koordinaten erhalten hatte. Das genaue Ziel lag noch etwa 100 Meter vor ihr, auf absolut freier Fläche direkt neben dem Belebungsbecken – in wenigen Augenblicken würde sie freie Sicht darauf haben. Ihre Gelassenheit drohte zu zerbrechen. Die Angst um ihren Sohn, schnürte ihr die Kehle zu und Schweiß stand ihr auf der Stirn. Das Adrenalin, das ihren Körper gerade zu überschwemmte, ließ ihren Herzschlag laut in ihren Ohren pochen. Der intensive Geruch des Klärschlamms nach Fäkalien und Fäulnis trug seinen Teil zu ihrem Unwohlsein bei. An der Gebäudeecke machte sie halt, atmete tief durch. Sie legte ihre Hand an den Griff ihrer Waffe, die in ihrem Hüftholster ruhte, und wischte sich mit dem anderen Ärmel übers Gesicht und gab dabei den Blick auf ihre digitale Armbanduhr frei. Die schwach bläulich leuchtenden Ziffern zeigten 22:58 Uhr.

Ein letzter tiefer Atemzug um ihr Blut mit ausreichend Sauerstoff zu versorgen und Katharina schritt um die Ecke. Das Motorengeräusch war lauter hier, das Becken lag vor ihr. Sie riss die Augen bei dem Anblick auf. In 30 vielleicht 40 Meter Entfernung leuchtete spärlich eine einzelne Laterne auf dem Beckenrand. Sie setzte einen Fuß vor den anderen. Im schwachen Schein des Laternenkegels stand ein Hochstuhl. Ihr Gang beschleunigte sich mit jedem Aufsetzen der Fersen. Im Hochstuhl war eine kleine zusammengesackte Gestalt zu erkennen. Sie kniff die Augen gegen die aufkommenden Tränen zusammen. Die Kleidung, die sie Louis heute Morgen angezogen hatte, schrie ihr geradezu entgegen. Vergessen war die Ruhe, sie rannte auf ihren Sohn zu.

„HALT!“ erschallte es laut und unmissverständlich aus der Dunkelheit, dicht gefolgt von dem markanten Klicken einer Waffenentsicherung. Katharina brauchte all ihre Kraft und Überwindung, aber sie blieb stehen und wandte sich in Richtung der Stimme. „Er lebt. Ich habe ihn nur etwas ruhiggestellt. Er war schon etwas lästig.“

Etwas klingelte in ihrem Kopf. Die Worte beruhigten sie nur bedingt, aber sie bildete sich zumindest ein, aus dem Augenwinkel ein leichtes Heben und Senken seines winzigen Brustkorbs zu erkennen, während sie weiter den Schatten fixierte, aus dem die Stimme kam. Durch die nahe Lichtquelle war es schwierig, die Augen ausreichend an die Dunkelheit zu gewöhnen, um etwas zu erkennen.

„Was willst du von mir?“, fragte Katharina in den Schatten, weit weniger selbstsicher, als sie eigentlich klingen wollte. Die dunkle Gestalt trat näher an den Lichtkegel und so konnte Katharina einen dunkelgrauen Kapuzenpulli erkennen, in der rechten Hand eine Waffe, die zielsicher und ohne Zittern auf sie gerichtet war, in der linken das Ende eines gespannten Seiles. Katharinas Blick folgte dem Seil bis zu dem Hochstuhl, von dem sie erst jetzt wahrnahm, wie schräg nach hinten geneigt stand. Nur der feste Griff der Gestalt im Schatten hielt ihn vom Becken fern. Sie schluckte.

„Ah, du hast verstanden, wie ich sehe. Wenn du mich erschießt, und ich das Seil loslasse, wird dein Sohn ins Belebungsbecken fallen und dir ist klar, dass du ihn dort nicht retten kannst.“ Katharina wusste nur zu gut, dass das Gesagte stimmte. In einem Belebungsbecken zu schwimmen, war aufgrund der eingewirbelten Luft, und des damit verbundenen fehlenden Auftriebs nicht möglich. Im schlimmsten Fall würde Louis hinabsinken wie ein Stein, und sie ihm hinterher.

Die Waffe, die ihr so viel Sicherheit gegeben hatte, war also nutzlos. Vorerst zumindest. Ein anderer Gedanke versuchte sich in Katharinas Kopf Platz zu verschaffen, aber sie konnte ihn nicht fassen. Die Gestalt kam noch einen Schritt weiter auf Katharina zu, und etwas Licht fiel auf ihr Gesicht.

Jung war sie. So jung.

„Jetzt wo klar ist, dass ich hier keine Späßchen mache …“ Plötzlich machte es Klick in Katharinas Kopf und es brach aus ihr heraus: „Du bist das Mädchen aus der Konditorei, mit dem Soja-Cappuccino!“ So also war das Handy in ihre Handtasche gelangt. So einfach war es, ihr etwas unterzujubeln.

„Bitte?“ erwiderte die junge Frau, mit keineswegs gespielter Entrüstung. „Das bin ich für dich? Ein Soja-Cappuccino? Das ist alles, woran du dich erinnern kannst?“ Bedrohlich wurde die Stimme der jungen Frau immer lauter. „So lange habe ich auf diesen Moment hingearbeitet, so viel Zeit darauf verwendet dir in die Augen zu sehen. Darauf gewartet dich ebenso leiden zu sehen, wie du mich hast leiden lassen die letzten 16 Jahre.“ Gedanken und Gefühle rasten in Katharinas Kopf. „Du hast Opa und mich verlassen!“, spie ihr die junge Frau geradezu entgegen. „Du hast mich verlassen. Als er starb, kam ich von einer furchtbaren Pflegefamilie zur nächsten. Und heute werde ich dir nehmen, was du mir genommen hast.“ Mit diesen Worten riss sie sich mit der Hand, in der sie die Waffe hielt, die Kapuze vom Kopf. Der Hochstuhl wackelte bedrohlich aber das Seil war nach wie vor fest in ihrem Griff.

Katharina war wie erstarrt. Sie blickte in das jetzt entblößte und von der Laterne erhellte Gesicht der jungen Frau und traute ihren Augen nicht.

„Leni?“

Die Zeit schien still zu stehen in diesem Moment. Das letzte Mal, dass sie ihre Tochter im Arm gehalten hatte, war jene Nacht, in der sie ihren Vater, und all seine Machenschaften, hinter sich gelassen hatte. Ein Junkie war auf der Suche nach Nachschub bei ihnen eingebrochen und hatte Katharina schwer verprügelt und den Säugling zu Boden geworfen. Die Stimme ihres Vaters, die sie so viele Jahre erfolgreich verdrängt hatte, war plötzlich klar in ihrem Kopf. Als stünde er neben ihr, schallte es in ihren Ohren: „Eine Dealerin, die so dumm ist, sich von einem dreckigen Junkie verfolgen zu lassen, muss wohl damit Leben, jetzt eine tote Tochter zu haben.“

Schwindling sank Katharina auf die Knie. „Leni, bist das wirklich du?“ Ihre Stimme bebte und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Der Blick der jungen Frau funkelte. „Wer soll ich denn sonst sein? Oder hast du noch andere Töchter in deinem Leben im Stich gelassen?“ Der Hass in ihrer Stimme schnitt Katharina tief ins Herz.

„Er sagte du bist tot.“ Ihre Stimme wandelte sich in ein verzweifeltes Schluchzen. „Ich wäre nie ohne dich gegangen…“

Die beiden Frauen starrten sich an, die Eine auf den Knien, gebrochen, verzweifelt und voller Angst. Die Andere mit erhobener Waffe, in einer mittlerweile zitternden Hand und einem Seil in der anderen, als ein leises Wimmern aus der Richtung des Hochstuhls die Stille durchbrach.

Die Jüngere der beiden fand als erstes ihre Stimme wieder. „Und das soll ich dir glauben?“ Aber die Worte waren längst nicht mehr so voller Sicherheit wie zuvor.

„Er sagte mir, dass du tot bist, und dann hielt mich dort nichts mehr. Er war ein fürchterlicher Mensch. Niemals hätte ich dich bei ihm gelassen, wenn ich geahnt hätte, dass du noch am Leben bist“, schluchzte Katharina. „Niemals hätte ich dich verlassen, mein Kind.“ Ihre Stimme wurde wieder fester. „Aber bitte, bitte, ich flehe dich an, lass mich Louis von dort runterholen. Bitte!“ Die Sekunden zogen sich in beinahe unerträgliche Länge, während Leni nach einer Antwort suchte.

„Okay.“ Es war mehr ein Hauch als ein Wort aber sie gleichzeitig ließ die Waffe sinken und Katharina erhob sich blitzschnell und legte mithilfe eines neuerlichen Adrenalinstoßes die verbleibende Distanz und die wenigen Stufen bis zum Hochstuhl zurück. Sie griff ihren Sohn fest am Oberkörper und sah, wie unter ihm der Sitz nach hinten rutschte und sofort im Becken verschwand. Freudentränen liefen ihr über die Wangen, während sie ihren Sohn fest an ihre Brust drückte. Sein Körper war schlaff aber seine Atmung kräftig und sein Herzschlag nicht minder stark. Liebevoll strich sie dem Jungen die feinen Haare aus dem Gesicht und hauchte ihm einen Kuss auf die Stirn. Ein letztes kleinen Platschen begleitete das Verschwinden des Seilendes im dunklen Wasser.

Langsam drehte sie sich zu ihrer Tochter um.

In sich zusammen gesackt saß sie im feuchten Gras, ihre Schultern bebten, während sie geräuschlos weinte. 16 Jahre versagte Mutterliebe. Langsam ging Katharina auf Leni zu und hockte sich neben sie. Sie griff nach der Waffe, die nun unbeachtet am kalten Boden lag, sicherte sie und steckte sie weg.

„Ich denke, wir haben sehr viel zu besprechen und ich denke hier ist nicht der richtige Ort dafür.“ Sie lege vorsichtig ihre Hand auf die ihrer Tochter, die zwar kurz zuckte, es aber geschehen ließ.

Als Stephan am Sonntagvormittag seine Haustüre aufschloss, begrüßte Katharina ihn bereits im Vorraum. „Ich danke dir, dass du mich nie bedrängt hast, über meine Vergangenheit zu sprechen, aber ich denke heute ist der Tag gekommen.“ Sie begleitete ihn ins Esszimmer, in dem eine junge Version ihrer selbst am Tisch saß. „Aber vorher möchte ich dir noch jemanden vorstellen.“

One thought on “Ein Fenster in die Vergangenheit

  1. Super Geschichte! Besonders das Ende hat mir wirklich gut gefallen. Leider kam es hin und wieder einmal zu Missverständnissen für mich, weswegen ich deiner Geschichte nicht immer ganz so gut folgen konnte. Vielleicht versuchst du nochmal selbst alles genau zu hinterfragen und ggf. dann noch etwas auszubauen. Denn du hast wirklich Talent! Hat wirklich Spaß gemacht zu lesen!:)

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