Andrea2406Ein langes Lebedn

Ein langes Leben

Vor meiner Tür habe ich ein Handy gefunden. Neugierig schalte ich es an. Mein Atem stockt. Bilder von mir tauchen aus den Tiefen dieses Gerätes auf. Der Krebs vernebelt meinen Verstand, aber das bin eindeutig ich. Ich habe mir die Bilder immer wieder angeschaut. Meine Erinnerungen begleiten mich jetzt jeden Tag. Eigentlich begann es schon in der Schule. Damals haben mich alle Hilde genannt.

Rachel Silbermann war das schönste Mädchen auf der Schule. Sie verdrehte jedem Jungen in der kleinen Stadt den Kopf. Jedes Mädchen wollte sein wie sie. Einmal hat Rachel mir ein Haarband geschenkt. Das war mein größter Schatz. Meine Eltern arbeiteten von früh bis spät. Sie waren Tagelöhner und arbeiteten beim größten Bauern in der Gegend. Rachels Eltern waren angesehene Geschäftsleute. Sie betrieben den Kolonialwarenladen in der Stadt.

Die Kopfschmerzen werden von Tag zu Tag schlimmer. Die Tabletten helfen nicht mehr. Das Handy liegt auf dem Küchentisch und ich werde es nicht mehr anfassen. Das muß ich auch gar nicht, denn die Bilder sind jetzt in meinem Kopf und werden immer lebendiger.

Rachel heiratete, da war ich 15 Jahre alt. Johannes Neumann und Rachel Silbermann waren sehr verliebt und ein schönes Paar. Als Rachel mich fragte, ob ich bei der Hochzeit helfen könne, war ich sehr glücklich. Die Mutter und der Vater stimmten zu, weil ich ein paar Groschen dazuverdienen konnte. An diesem Tag trug ich das rote Haarband. Es passte so gut zu meinen blonden Haaren. Rachel und Johannes übernahmen dann die Bäckerei seines Vaters. Sie fragten mich, ob ich bei ihnen arbeiten wolle. Und ob ich das wollte. Rachel war schwanger. Rosemarie wurde im Januar geboren. Sie war ein süßes Baby. In der Bäckerei gab es viel zu tun. Johannes und ich arbeiteten hart. Rachel kümmerte sich um das Baby. Sie zog es hübsch an, fuhr mit der Kleinen in der Stadt im Kinderwagen umher. Mutter und Kind waren reizend. Johannes las Rachel jeden Wunsch von den Augen ab.

Im Morgengrauen trinke ich meinen Kaffee in der Küche. Das Handy hat seinen Platz neben meiner Tasse. Ich schließe meine Augen. Die Nacht war lang. Der Schmerz in meinem Kopf bringt mich noch um den Verstand. Doch unerbittlich geht meine Leben im Kopf weiter. „Gnade, Gnade!“so rief meine Mutter als sie im Sterben lag. Gnade kann ich nicht erwarten.

Als ich 20 Jahre alt war, ging ich nach Berlin und suchte ich mir dort ein Zimmer. Für meinen Vater war ich ein Klotz am Bein. Das Zimmer war jetzt mein Zuhause. Später fand ich einen Arbeitsplatz in einer Fabrik. Ich nähte schöne Kleider. Dort lernte ich Heinrich kennen. Heinrich wärmte nicht nur meinen Körper und mein Herz, sondern auch meine Seele. Immer wieder sagte er, dass er mich liebt.

Während ich auf das Taxi warte, das mich zur Bestrahlung bringt, sitze ich wieder am Küchentisch. Es klingelt, ich steige in das Taxi. Heute sitzt eine andere Frau mit mir im Wagen. Ich steige ein und wir begrüßen uns. Die andere Frau plaudert, doch ich antworte nicht.

Heinrich wollte hoch hinaus, weg aus der Fabrik. Er nahm mich auf die Versammlungen mit. Die Nazis gaben uns Hoffnung. Händchenhaltend saßen wir unter den Zuschauern und hörten zu. Wir lächelten uns an. In meinem kleinen Zimmer schmiedeten wir Pläne für die Zukunft. Wir verteilten Flugblätter und jubelten. Ich gehörte zu Heinrich. Wir heirateten 1939. In Deutschland sollte nun alles besser werden. Auch für uns sollte alles besser werden. Noch immer wohnten wir in dem kleinen Zimmer. Bald konnten wir uns eine richtige Wohnung leisten. Heinrich fand Arbeit bei einem Parteigenossen. Ich war seine hübsche junge Frau.

Die Taxifahrerin und die Andere, so nenne ich sie bei mir, hören auf zu reden. Schnell öffne ich die Tür und steige aus. Die Andere hat den gleichen Weg wie ich. Ich schaue sie an. Ein kurzer Blick genügt. Sie ist jünger als ich, aber im Alter sind alle Katzen grau. Wir loggen uns in der Praxis ein, jeden Tag dasselbe Ritual. Ich gebe nicht auf. Diese Fahrten trösten mich. Die Andere redet nicht mehr mit mir. Im Wartebereich sitzen wir nebeneinander. Jeder hängt seinen Gedanken nach.

Eine Woche lang geht das so. Nachts die Bilder von damals in meinem Kopf, tagsüber die Fahrten zur Bestrahlung.

Heinrich starb im ersten Kriegsjahr in Polen. Mein Herz zerbrach. Aber ich wollte weiterleben. Ich redete kaum und nähte Kleider. In der Fabrik hatte ich Glück. Schon im ersten Kriegsjahr kamen Zwangsarbeiterinnen in die Fabrik. Man übergab mir die Aufsicht über die Frauen. Die Parteigenossen und der Direktor der Fabrik waren zufrieden mit mir. Bald bat man mir eine Stelle in einem Konzentrationslager an. Ich nahm an, denn diese Stelle wurde gut bezahlt. Dort im Konzentrationslager hatte ich nichts auszustehen. Die Kameradschaft war gut, die anderen Frauen waren umgänglich. Tatsächlich machte es mir sogar Spaß, obwohl es unter den Bedingungen dort eine harte Arbeit war. Das war mein Beitrag an der Heimatfront. Ich begleitete Arbeitskommandos und brachte sie wieder ins Lager zurück. Ich war effektiv und bestrafte diejenigen, die es verdient hatten. Bei mir sollte keiner versuchen, Brot zu stehlen oder Unfug zu machen. Die Frauen zogen es vor, von mir geschlagen zu werden. Sie hatten Angst vor den Schlägen der Männer. Ich war stolz auf meine Uniform. Sie stand mir gut und die bewundernden Blicke der Männer gaben mir recht.

An diesem Morgen redet niemand im Taxi. Mir ist kalt und ich ziehe meine Jacke enger um mich. Die andere Frau und ich gehen über die Straße, betreten die Strahlenpraxis, loggen uns ein und nehmen Platz. Heute warten wir länger als sonst. Wir werden gleichzeitig aufgerufen, jeder in eine andere Kabine. Wir betreten gleichzeitig den Flur und ich sehe den entkleideten Oberkörper dieser Frau. Brustkrebs denke ich. Stumm verlassen wir die Praxis und setzen uns wieder in das wartende Auto.

Nach dem alles vorüber war, heiratete ich 1955 noch einmal. Ich wollte den Krieg vergessen. Jetzt hatte ich einen anderen Namen. Niemand rief mich mehr Hilde oder Frau Aufseherin. Ich war jetzt Elisabeth Bergmann. Niemand sollte mich Hilde rufen. Während der Schwangerschaft blühte ich auf. Wir bauten ein Haus. Nacheinander bekam ich zwei wohlgeratene Kinder. Es ging wieder bergauf in Deutschland und auch bei uns. Hilfsbereit war ich immer. Dem Herrn Pfarrer habe ich sogar die Talare gebügelt. Unsere Familie war immer beliebt. Es war ein schönes Leben.

Nachdem ich mich von der Bestrahlung ausgeruht habe, kommt eine Freundin vorbei. Wir trinken Kaffee und essen Kuchen im Wohnzimmer. Abends schlafe ich früh ein.

Das KZ in dem ich arbeitete wurde evakuiert und ich musste eine Gruppe Frauen nach Bergen-Belsen begleiten. Der Weg nach Bergen-Belsen war schrecklich. Eine Woche lang waren wir mit Frauen unterwegs. Übernachtet haben wir auf verlassenen Bauernhöfen. Ich erinnere mich, dass wir eines Abends auf einen Bauernhof kamen. Die Kühe im Stall waren sehr laut, niemand hat sie gemolken. Die armen Tiere haben gelitten. Da bin ich gleich hin und habe das getan, was ich noch von früher vom Bauern kannte. Die Kühe gaben sofort Ruhe, als ich sie gemolken haben. Abends haben wir Wachleute uns Kakao und Suppe gekocht. Wir saßen gemütlich beisammen und der Kakao wärmte uns. Die Kameradschaft war schon immer gut. Am nächsten Morgen ging ich über den Hof und sah wie eine der Frauen von einem Wachmann ein Stück Brot bekam. Sie hatte ihre Tochter dabei. Die Drei hatten mich nicht gesehen. Ich erkannte Rachel und Rosemarie sofort. Schön war Rachel damals nicht mehr.

Wenn ich von der Bestrahlung wieder zuhause bin, habe ich zu viel Zeit zum Nachdenken. Abends rufen entweder mein Sohn oder meine Tochter an. Sie haben mir auch so ein Handy geschenkt. Sie schicken mir immer süße Fotos von den Enkelkindern. Ich habe einmal gelesen, dass Schuld nicht von selbst verschwindet. Sie türmt sich auf, muss angenommen und abgetragen werden. Ich bin Elisabeth Bergmann. Ein schönes Leben liegt hinter mir. Das sage ich mir jeden Tag bevor ich ins Bett gehe. Meine wunderbaren Kinder lieben mich, ich bin beliebt und habe jedem geholfen, der meine Hilfe brauchte. Ich hatte Glück im Leben. Das ist heute mein Mantra.

Die Angeklagten damals 1945 im Bergen-Belsen Prozess wurden nicht individueller Morde beschuldigt.

Ihnen wurde vorgeworfen an einem „System von Mord, Brutalität, Grausamkeit und

verbrecherischer Vernachlässigung“ beteiligt zu sein.

Hilde Lohmann Angeklagte: Nicht schuldig

Ankläger: Haben Sie jemals einen Häfling geschlagen, bis er blutete oder bewusstlos zusammengebrochen ist?

Hilde Lohmann Angeklagte: Nie

Ankläger: Haben Sie jemals Häftlinge getreten, die auf dem Boden lagen?

Hilde Lohmann Angeklagte: Nie

Rosemarie Neumann Zeugin:

Für uns gab es nichts zu essen. Wir konnten uns selbst etwas besorgen. Doch viele Frauen starben daran. Unsere Mägen waren nicht daran gewohnt so etwas wie rohe Hühner oder rohes Gemüse zu essen. Wir kamen durch viele Dörfer. Niemand hat uns je Wasser oder etwas zu essen gegeben. Sie haben doch gesehen, was mit uns los war. Die Kälte war aber noch schlimmer als der Hunger. Die Frauen, die nicht mehr konnten, wurden erfrierend am Wegesrand zurückgelassen. Jede Nacht in irgendeiner Scheune. Immer versuchte sich jemand, im Stroh zu verstecken. Doch sie wurden jeden Morgen von den bellenden Schäferhunden gefunden. An diesem Morgen hatte ein junger Wachmann Mitleid mit mir und meiner Mutter. Er steckte uns Brot zu. Hilde Lohmann hat es gesehen und uns sofort erkannt. Keinen Moment zögernd schlug sie zornig auf Rachel und mich ein. Das war ein Vergehen, dass mit Stockschlägen geahndet werden sollte. Hilde konnte nicht mehr aufhören. Dabei kannte sie uns doch von früher. Rachel blieb still. Ich hörte keinen Laut, der über ihre Lippen kam. Zum Schluss hat Hilde auch noch mit ihren schweren Stiefeln Rachels ausgemergelten Körper getreten. Sie haben mich zu den Anderen getrieben. Ich schleppte mich weiter an diesem Tag und ließ Rachel zurück. Ich weiß nicht einmal, wo sie begraben wurde.

Richter: Drei Jahre Haft. Es konnte nicht eindeutig erwiesen werden, ob die Zeugin Rosemarie Neumann die Aufseherin Hilde Lohmann eindeutig erkannt hat.

 

Das Handy liegt auch heute auf dem Küchentisch. Ich habe eine schlimme Nacht hinter mir. Die Schmerzen und die Bilder lassen mich nicht mehr los. Die Andere sitzt jeden Tag mit mir im Taxi. Heute hat sie ihr Handy aus ihrer Tasche genommen. Sie hat ein Bild mit mir gemacht. Es gelingt mir sogar, für das Bild zu lachen. Zum Abschied hat sie mir die Hand geschüttelt. „Auf bald Hilde!“, hat sie gesagt. Hilde Lohmann, Rachel Silbermann, Rosemarie Neumann sind die Namen, die jeden Tag in meinem Kopf hin und her wirbeln. Das sind die Namen der Anderen. Ich hatte im Großen und Ganzen Glück im Leben. Wegen guter Führung wurde ich nach einem Jahr entlassen.

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