CeWeyEin Leben für ein Leben

Ein Leben für ein Leben

 

1     –   23.10.2009

Als sie
aufwachte, hörte sie nichts außer einem ohrenbetäubenden Piepen. Ihr Kopf
fühlte sich schwer an und nur langsam konnte sie ihn anheben. Ihr war
schwindelig, sogar noch mehr als eh schon. Sie sah sich um, soweit sie ihren
Kopf drehen konnte, doch alles was sie sah war verschwommen. Sie hob ihre Hände
an den Kopf, irgendetwas schmerzte an ihrer Stirn. Als sie auf ihre Hand sah,
erkannte sie Blut. Wo war sie und was war passiert? Sie blinzelte dutzende
Male, als wollte sie ihre Augen dadurch aufwecken. Mit jedem Mal wurde ihre
Sicht etwas deutlicher. Sie sah nach vorn auf die Straße hinaus. Es war dunkel,
außer der blinkenden gelben Ampel war keinerlei Licht weit und breit. Sie sah
die Umrisse des Autos vor ihr und schlagartig fiel es ihr wieder ein. Das Hupen!
Das letzte woran sie sich erinnern konnte war das lange laute Hupen. Sie wollte
sich weiter aufrichten, doch spannte etwas an ihrem Körper, das sie
zurückhielt. Benommen tastete sie ihren Oberkörper ab und erfühlte schließlich
den Gurt. Sie folgte ihm bis zum Öffner. Sie konnte ihn kaum erkennen, deshalb
dauerte es eine Weile, bis sie es geschafft hatte ihn zu öffnen. Sie fühlte
sich eingeengt und stickig war es auch. Sie musste aussteigen. Sie öffnete die
Fahrertür mit beiden Händen und zog sich daran hoch, bis sie endlich auf ihren
Füßen stand. Vor ihren Augen glitzerte alles und der Ton in ihrem Ohr war noch
stärker geworden. Einen Moment stand sie nur so da, die Hände auf den
Oberschenkeln abgestützt, und atmete die kalte Nachtluft ein. Als das Glitzern
verschwunden war, konnte sie das Auto erkennen, in das sie hineingefahren war.
Ihr Auto hatte es mittig in die linke Seite getroffen und eine riesige Beule
verursacht. Benommen ging sie auf das Auto zu. Sie konnte nur winzige Schritte
gehen, damit sie nicht hinfiel. Sie fühlte sich noch immer wie im Rausch, die
Wirkung hatte bisher nur wenig nachgelassen. Deshalb fühlten sich ihre Beine
und Hände auch so taub an, die Wunde an ihrer Stirn nahm sie nur minimal wahr.
Doch mit jedem Schritt näherte sie sich dem anderen Auto, bis sie etwa drei
Meter davor abrupt stehenblieb. Oh mein Gott. Angst stieg in ihr auf und Panik machte
sich breit. Die Frau, die in dem Auto hinterm Steuer saß, war blutüberströmt.
Die Fahrertür war so zerbeult, dass sie nicht wusste, ob man sie noch öffnen
konnte. Die Frau war dahinter völlig eingequetscht. Ihr Kopf hing schlaff herab
und ihre Augen waren nur noch halb geöffnet. Sie wusste sofort, dass sie tot
war. Sie traute sich kaum noch einen Schritt näher heran, doch irgendetwas in
ihr ließ ihre Füße weitergehen. Als sie direkt vor dem Auto stand, war sie
wieder bei vollem Bewusstsein. Sie erinnerte sich an die letzten Sekunden vor
dem Unfall. Sie war viel zu schnell gefahren und hatte zu spät gesehen, dass
ein Auto von rechts gekommen war. Sie starrte die Frau an, die sie getötet
hatte. Wie betäubt stand sie vor dem Auto, unfähig etwas zu tun. Sie war
betrunken und high mit dem Auto ihres Vaters gefahren, hatte einen Unfall
verursacht und dabei eine Frau getötet. Sie fing an zu schluchzen. Noch nie
hatte sie sich so elend gefühlt, wie in diesem Augenblick. Was hatte sie nur
getan. Man würde sie einsperren und ihr ihre Tochter wegnehmen! Bei diesem
Gedanken legte sich in ihr ein Schalter um. Sie ging ein paar Schritte rückwärts,
drehte sich dann um und hastete zu ihrem Auto zurück. Sie riss die Autotür auf
und zerrte ihre Tasche heraus. Sie war schon fast dabei wegzurennen, als ihr
einfiel, dass sie das Auto so nicht hier stehen lassen konnte. Also holte sie
den Benzinkanister aus dem Kofferraum, den ihr Vater für Notfälle immer
dabeihatte. Ohne sich wirklich bewusst darüber zu sein, was sie tat,
verschüttete sie den gesamten Inhalt in dem Auto. Aus ihrer Handtasche kramte
sie ihr Feuerzeug heraus. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

 

          heute (23.05.20)

Schon kurz nach halb vier. Sarah war spät
dran, weil Jule, eine neunjährige Beageldame, und ihr Herrchen kurzfristig zu
Sarah in die Praxis gekommen waren, kurz bevor Sarah schließen wollte. Sie hatte
Jule erst vor ein paar Tagen wegen einer eingerissenen Kralle untersucht aber seit
heute hatte sich die Wunde entzündet. Also hatte Sarah die Kralle gezogen, um
Jule weitere Schmerzen zu ersparen. Jetzt hastete sie zu ihrem Auto, in der
Hoffnung, innerhalb von 20 Minuten in ihrer Wohnung zu sein, damit sie noch genug
Zeit hatte, um sich umzuziehen. Dann würde sie wieder losmüssen, weil sie mit
ihren Eltern und ihrer elfjährigen Tochter Mia zum Kaffeetrinken verabredet
war.

Es war unangenehm schwül draußen und die paar
Meter zu ihrem Auto reichten aus, um Sarah den Schweiß auf die Stirn zu
treiben. Hektisch zog sie die Autotür auf und warf ihre Handtasche auf den
Beifahrersitz. Im Auto kramte sie in ihrer Handtasche nach einem 
Kaugummi, als ihr Handy vibrierte.
Sie überflog die Nachricht nur kurz, es war ein Geburtstagsgruß ihrer Freundin Rebecca
– heute war Sarahs 32. Geburtstag. Sarah hatte keine Lust, jetzt darauf zu
antworten und beschloss, auch diese Nachricht in Ruhe heute Abend zu
beantworten. Jetzt musste sie sich erst einmal auf den Heimweg machen. Rebecca war
Sarahs beste Freundin seit der vierten Klasse und außerdem auch die einzige
richtige Freundin, die sie je gehabt hatte.

Früher hatte Sarah die meiste Zeit mit ihren
Freunden aus der Uni verbracht, doch als sie schwanger wurde und das Studium
ein Jahr unterbrechen musste, verlor sie immer mehr den Anschluss zu Maja,
Dennis und den anderen. Das lag hauptsächlich daran, dass Sarah sich auf einmal
um ein Baby kümmern musste und darauf ihre ganze Zeit verwendete. Sarah war
erst 21 gewesen, als sie Mia bekommen hatte und ihre Freunde waren auch kaum
älter. Deshalb hatte es Sarah auch nie verwundert, dass ihre Freunde kaum
Interesse an ihrem neuen Leben mit ihrem Baby zeigten und sich nach und nach
zurückzogen. Nachdem Sarah das achte oder neunte Mal hintereinander ein Treffen
dankend ablehnte und versicherte, dass sie nächstes Mal aber definitiv wieder
dabei wäre, fragten die anderen sie irgendwann gar nicht mehr, ob sie Lust
hätte etwas zu unternehmen. Oder waren es sogar zehnmal gewesen? Heute
spielte das schon lange keine Rolle mehr und wenn Sarah ganz ehrlich war, dann
war es ihr auch so recht gewesen. Sie hatte in den Gesprächen mit ihren
Freunden nur noch wenig beitragen können, hatte die Geschichten aus deren Unialltag
zwar lächelnd wahrgenommen aber nicht richtig verfolgen können und alles wovon
Sarah erzählen konnte, wie die schier unendlichen Möglichkeiten einen Schnuller
in der Wohnung zu verlieren ohne ihn je wiederzufinden, stieß bei ihren
Freunden auf eine ähnliche Reaktion. Die einzige Ausnahme war Rebecca.
Ohne Rebecca und ihre Eltern hätte es Sarah nie geschafft, Mia großzuziehen und
gleichzeitig ihr Studium zu beenden. Rebecca war immer für sie und auch
für Mia dagewesen und sie konnte ihr schon immer alles erzählen. Jedenfalls
fast alles.  

 

Mittlerweile war es Tradition geworden, Sarahs
Geburtstag bei einem Kaffeetrinken mit ihren Eltern und ihrer Tochter in immer
demselben, von ihr und Mia heißgeliebten Café an der Ecke zu feiern und abends
etwas beim Lieferservice zu bestellen. Ihre Mutter bot ihr jedes Jahr aufs
Neue an, sie könnte doch etwas für sie backen, wenn Sarah schon keine Lust dazu
hatte, doch lehnte Sarah das immer ab. Sie freute sich einfach jedes Mal auf
die große Auswahl in der Kuchenvitrine und den Luxus bedient zu werden, den sie
sich nicht sehr häufig leisten konnte.

 

Auf dem Weg zu ihrer Wohnung rechnete Sarah wie
viel Zeit sie zuhause zum Umziehen hatte und murmelte dabei vor sich hin. Wenn
sie gut durchkam, und danach sah es bisher aus, würde sie den Weg in etwas über
15 Minuten schaffen und hätte dann nochmal knappe fünf Minuten, bevor sie
wieder losmusste. Das war zwar nicht sehr viel Zeit, aber Sarah wollte auch
lediglich etwas anderes anziehen und dafür würde sie nicht lange brauchen. In
ihrer Freizeit trug sie fast ausschließlich Jeans und T-Shirts. Und bei der
Arbeit wurde ihr – zum Glück – die Frage nach der Kleiderwahl abgenommen. Sie
hatte sich nie für Mode interessiert. Sie besaß einige Lieblingsteile, die sie
fast jeden Tag trug, und aus viel mehr Teilen bestand ihr Kleiderschrank auch
nicht.

Sie bog gerade in den Dardanellenweg im
Stadtteil 
Mariendorf ein und war nun nur noch wenige Straßen von ihrer Wohnung
entfernt. Als sie an der nächsten Ampel zum Stehen kam, blickte sie in den
Rückspiegel, um sich ein Bild von sich selbst zu machen: Ihre Haare waren etwas
zerzaust, aber das konnte sie schnell ändern. Was ihr dagegen wesentlich
schlimmer auffiel, waren die dunklen Schatten, die sich unter Sarahs Augen
gebildet hatten. Die ständige Schlaflosigkeit hinterließ ihre Spuren und letzte
Nacht hatte Sarah gefühlt überhaupt nicht geschlafen. An manchen Tagen ging es
besser, doch in manchen Nächten hielten sie ihre Alpträume die ganze Nacht lang
wach. Und gestern war eine solche Nacht gewesen. Immer wieder fanden
Erinnerungen ihren Weg in Sarahs Träume und ließen sie nicht zur Ruhe kommen.

 

Plötzlich wurde Sarah durch lautes Hupen aus
ihren Gedanken gerissen. Die Ampel hatte längst auf grün geschaltet und der
Fahrer hinter ihr war langsam ungeduldig geworden. Sarah schrak so heftig
zusammen, dass sie für einen kurzen Moment vergaß, dass sie noch im vierten
Gang war und als sie anfuhr, würgte sie den Wagen sofort ab. Hektisch startete
sie den Motor neu und schob, immer noch leicht panisch, den ersten Gang ein und
brachte ihren kleinen Fiat zum Rollen. Ein paar Straßen weiter löste sich
langsam ihre Verkrampfung, die der Schock bei Sarah ausgelöst hatte. Sie begann
ruhig ein- und auszuatmen, um sich zu beruhigen. Das Geräusch der Hupe hatte
sie schlagartig in Panik versetzt. Es erinnerte sie jedes Mal wieder an diesen
einen Tag, den schlimmsten Tag ihres Lebens. Der Tag, an dem sie den größten
Fehler ihres Lebens begangen hatte und der sie bis heute verfolgte.

Ihr Herz schlug immer noch so heftig, dass sie
es in jedem Körperteil spüren konnte. Sie versuchte sich abzulenken, sich
ganz und gar auf die Straße vor ihr zu konzentrieren. Jetzt bloß keine Panik,
dachte sich Sarah. Bis zu ihr nach Hause waren es nur noch drei
Querstraßen. Sie blickte auf die Uhr, es war zehn vor vier. Okay, okay,
dachte Sarah. Etwas spät dran, aber auch nicht dramatisch. Alles ist in
Ordnung.

 

In ihrer Straße angekommen, fand Sarah zum
Glück einen Parkplatz direkt vor dem Haus, was in der schmalen Straße mit den
aneinandergereihten Mehrfamilienhäusern nur äußert selten vorkam. Als Sarah aus
dem Auto stieg, atmete sie tief durch und spürte beinahe wie eine Last von
ihr abfiel. Sie war froh, nun nicht mehr im Auto zu sitzen und hatte sich
insgeheim schon längst entschieden, zum Café zu laufen, auch wenn sie sich dann
noch etwas mehr verspätete. Im Haus angekommen nahm Sarah immer zwei
Stufen gleichzeitig bis sie im zweiten Stock vor ihrer Wohnung ankam. Schon auf
der Hälfte der obersten Treppe hatte sie den kleinen dunklen Gegenstand
gesehen, der mit einer Schleife umwickelt vor ihrer Haustür auf ihrer Fußmatte
mit der Aufschrift „Achtung Unordnung!“ lag. Die Fußmatte hatte ihre Mutter ihr
vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt, um sie scherzhaft darauf
hinzuweisen, dass Sarah etwas häufiger aufräumen könnte. 

Jetzt erkannte sie, dass der Gegenstand ein
Handy war. Sie hob es auf und drehte es in der Hand umher. Nirgendwo war eine
Karte oder ein Zettel zu entdecken. Konnte das ein Geburtstagsgeschenk für sie
sein? Immerhin lag es direkt vor ihrer Tür, mit einer Schleife und gerade heute.
Es kam ihr unwahrscheinlich vor, dass jemand es direkt vor ihrer Tür vergessen
oder unabsichtlich liegen gelassen hatte. Aber wer würde das einfach hier für
sie vor der Wohnungstür ablegen? Soweit sie wusste, kannte keiner ihrer
Nachbarn ihren Geburtstag. Oder vielleicht doch? Aber das erklärte immer noch
nicht warum keine Karte dabei lag oder einer ihrer Nachbarn ihr so ein teures
Geschenk machen sollte. Während sie erst das obere und dann das untere
Türschloss entriegelte, drückte sie auf den seitlichen Knopf des Handys und ein
hellblauer Sperrbildschirm leuchtete auf. Das Handy war eingeschaltet. Datum
und Uhrzeit wurden mittig in der oberen Hälfte des Bildschirms angezeigt. In
der linken oberen Ecke leuchteten zwei von vier kleinen Balken – die Verbindung
hier im Treppenhaus war schon immer sehr schlecht gewesen – und in der
rechten Ecke verriet eine kleine Batterie, dass das Handy voll aufgeladen war.
Es gab keinen Pin-Code, mit dem man das Handy entsperren musste und als Sarah
über den Bildschirm wischte, entsperrte sich das Handy direkt. Auf dem gleichen
blauen Hintergrund leuchteten nun die vielen bunten Apps auf. Sie überflog die
Apps und bemerkte, dass bisher keine App zusätzlich heruntergeladen wurde,
sondern nur die Apps darauf zu finden waren, die bei jedem Handy dieser Marke
von vorneherein installiert waren. Also ein neues Handy? Dagegen sprach
allerdings, dass das Handy schon angeschaltet war, als sie es gefunden hatte
und es bereits eingerichtet wurde. Ansonsten hätte Sarah erst Einstellungen zur
Sprache, zum WLAN und anderen unzähligen Dingen vornehmen müssen. Das hatte sie
selbst erst vor einigen Monaten machen müssen, als sie sich von ihrem
Weihnachtsgeld ein neues Handy gekauft hatte.

 

In der Wohnung hatte Sarah ihre Handtasche auf
einem der Küchenstühle abgestellt und machte sich auf den Weg in ihr
Schlafzimmer, um ein paar Klamotten zusammen zu suchen. Dabei durchsuchte sie
das Handy nach irgendetwas, dass entweder klarstellte, dass es sich um ein
Geburtstagsgeschenk handelte, zum Beispiel eine kurze Notiz, oder etwas, das den
Besitzer verriet. Sarahs erste Idee war es, in der Kontaktliste nachzusehen, ob
bereits Telefonnummern eingespeichert waren. Dann wäre zumindest bestätigt,
dass es sich nicht um ein neues Handy handelte, sondern es jemandem gehörte.
Und sie könnte einfach eine der Nummern anrufen, um herauszufinden, wer der
Besitzer war. Oder sie wartete einfach ab, bis jemand auf dem Telefon anrief
und danach fragte. Aber die Kontaktliste war leer. Die Fotos! Wenn dieses Handy
einem ihrer Nachbarn gehörte, würde sie ihn sicherlich auf den Fotos erkennen.
Noch während sie auf das bunte Foto-Icon tippte kam ihr der Gedanke, dass sie
vielleicht nicht einfach in den Fotos einer fremden Person herumstöbern sollte,
doch dafür war es schon zu spät. Die App öffnete sich und im Gegensatz zu der
Kontaktliste war sie nicht leer. Es gab nur einen Ordner mit dem Titel „Ziel“.
Sarah konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie tippte den Ordner an und
konnte nicht fassen, was sie sah: sich selbst. Auf dutzenden Fotos.

 

Sarah hielt den Atem an. Sie scrollte die
Fotos durch und sah immer wieder sich selbst. Auf jedem einzelnen Foto, an
unterschiedlichen Tagen und Orten. In Sarah stieg Panik auf. Sie fing an zu
zittern und stand wie festgefroren im Türrahmen zwischen Wohnzimmer und
Schlafzimmer. Was ging hier vor? Sie tippte eines der Bilder an, um es sich
genauer anzusehen. Es zeigte eindeutig Sarah beim Einkaufen letzte Woche wie
sie den Einkaufswagen zu ihrem Auto schob. Sie wischte nach links und das
nächste Bild erschien. Vom selben Tag, wie Sarah nur einige Minuten später in ihrem
Auto vom Parkplatz fuhr.

Das kann nicht sein, dachte Sarah. Sie schloss
das Foto und scrollte noch etwas weiter nach oben. Es waren so viele Fotos.
Einige hundert mindestens. Sie zeigten Sarah beim Friseur, wie sie zur Arbeit
kam oder ging, vor ihrer Haustür, in der U-Bahn, bei der Bank. Praktisch
überall wo Sarah sich regelmäßig aufhielt. Zusammen mit tausend anderen
Menschen, unter denen ihr ihr Stalker nicht aufgefallen war. Ihr Kopf dröhnte
und ihr wurde schlecht, als sie realisierte, dass jemand sie über Wochen, wenn
nicht sogar Monate, beobachtet und fotografiert hatte. Instinktiv blickte Sarah
sich um, als wollte sie sich vergewissern, dass sie nicht auch jetzt
beobachtete wurde. Doch selbst wenn, auf all diesen Fotos hatte Sarah ja auch
nicht bemerkt, dass man sie beobachtet hatte.

 

Was hatte das zu bedeuten? Wem gehörte dieses
Handy und wieso hatte er es ihr vor die Haustür gelegt? Sarah scrollte zum
aller ersten Foto nach oben. Eben hatte sie nur auf die Fotos geachtet, aber
als sie das Foto nun antippte suchte sie nach etwas anderem: dem Datum. Über
jedem Foto wurden das Datum und die konkrete Uhrzeit angezeigt, zu der das Foto
aufgenommen wurde. 17. Januar. Das war über vier Monate her! Oh Gott, dachte
Sarah. Vier Monate! Seit mindestens vier Monaten hatte man sie verfolgt und
ihren Alltag mit Fotos festgehalten, wie in einem kranken Tagebuch. Bei diesem
Gedanken zog sich in Sarah alles zusammen. Sie rang nach Luft und spürte, wie
sie schluchzen musste doch war es, als würde ihr Körper ihr Schluchzen
ersticken. Sie hielt das Handy festumklammert in ihrer rechten Hand während sie
die linke wie elektrisiert auf ihren Bauch presste. Es fühlte sich an, als
würden ihre inneren Organe gerade durch den Fleischwolf gedreht werden. In
Wahrheit waren es nur einige Sekunden gewesen, vielleicht eine halbe Minute,
die Sarah so dagestanden hatte, doch für sie fühlte es sich an wie eine
Ewigkeit.

Das Klingeln ihres Handys ließ Sarah
schließlich so heftig aufschrecken, dass sie sich fast den Kopf an der Tür
anschlug. Wie hypnotisiert starrte Sarah zunächst auf das fremde Handy in ihrer
Hand, doch dessen Bildschirm hatte sich mittlerweile ausgeschaltet. Nur langsam
realisierte sie, dass es ihr eigenes Telefon war, das nun klingelte. Wie in
Trance ging Sarah in Richtung Küchentisch zurück auf ihre Handtasche zu. Sie
kramte das Handy unter ihrer Post und einigen Kassenzetteln hervor. Als sie es
endlich in der Hand hatte, klingelte es sicherlich schon zum zehnten Mal. Es
war ihr Vater. Als sie abnahm und sich das Telefon ans Ohr hielt, bekam sie
keinen Ton heraus. Es war als hätte sie vergessen, wie man spricht.

„Hallo? Sarah, bist du da?“, fragte ihr Vater
nach einem Moment.

Erleichterung überkam Sarah, als sie die
Stimme ihres Vaters hörte. Ein Teil in ihr hatte befürchtet, es könnte sich
eine fremde Stimme melden, wohlmöglich die Stimme von dem Irren, der sie
fotografiert hatte. Beruhige dich Sarah, sagte sie zu sich selbst. Vielleicht
gibt es für das alles eine einfache Erklärung.

So wirklich glauben, konnte Sarah sich selbst
zwar nicht, aber es war wichtig, jetzt nicht in Panik zu verfallen. Zumindest
nicht noch mehr.

„Hallo Sarah? Bist du dran?“, fragte ihr Vater
erneut.

„Ja“, stieß Sarah heraus, „ich bin dran.“

„Ah sehr gut, ich dachte schon etwas würde mit
meinem Telefon wieder nicht stimmen. Ist alles in Ordnung bei euch? Seid ihr
schon auf dem Weg?“

Verdammt, dachte Sarah. Diese Sache hatte sie
völlig vergessen lassen, dass sie verabredet war. Inzwischen war es 16:18 Uhr,
wie ihr die große Wanduhr über dem Kühlschrank verriet.

„Entschuldige, ich… ich habe völlig die Zeit
vergessen.“

Sarah überlegte, ob sie ihrem Vater erzählen
sollte, was sie gerade auf dem fremden Handy gefunden hatte, doch wollte sie
ihm auf keinen Fall Angst machen und außerdem wusste sie gar nicht, wie sie
hätte anfangen sollen.

„Ist alles in Ordnung?“ Sarah hörte die
Verunsicherung in der Stimme ihres Vaters. Sie musste sich jetzt unbedingt
zusammenreißen.

„Ja … ja alles in Ordnung. Es war nur … ein
stressiger Tag bisher und ich bin zu spät aus der Praxis gekommen.“ Sarah hatte
versucht ihre Stimme so normal wie möglich klingen zu lassen und ihrem Vater
die Panik, die nach wie vor in ihr hochkam wie in Wellen, als bloße Hektik zu
verkaufen.

„Ah ja, verstehe. Dann mach dich in Ruhe
fertig und dann sehen wir euch gleich im Café, richtig?“

„Äh ja, … ja dann bis gleich“, brachte Sarah
hervor, obwohl sie sich gerade nichts lieber wünschte, als sich in ihrem Bett
zu verkriechen und nie wieder heraus zu kommen. Sarah hörte, wie ihr Vater
schon dabei war aufzulegen, als ihr auf einmal auffiel, was ihr Vater da gerade
gesagt hatte.

„Warte! Wieso euch?“ Nun war Sarahs Stimme
wieder unkontrolliert panisch gewesen.

„Dich und Mia natürlich.“ Die Antwort klang,
als wollte er sie fragen, ob sie nicht mehr wüsste, wer ihre eigene Tochter
war.

„Nein, nein…“, stammelte Sarah. „Ihr solltet
sie doch heute von der Schule abholen, deshalb haben wir gestern doch noch
telefoniert!“

„Ja das dachten wir auch, aber wir haben
vorhin einen Anruf von der Schule bekommen, dass du Mia bereits abgeholt
hättest. Die Frau am Telefon war ziemlich unhöflich, aber das lag wohl daran,
dass du sie gebeten hast uns zu informieren, anstatt selber kurz bei uns
anzurufen. Heißt das, du hast Mia gar nicht abgeholt?“

Sarah wurde schwindelig. Ihre Panik hatte sich
ins Unendliche gesteigert und jede Kraft hatte ihren Körper verlassen. Entfernt
hörte sie, dass ihr Vater noch weitersprach, aber davon bekam sie kaum noch
etwas mit. Ihr Kopf dröhnte, als würde eine riesige Glocke von innen immer und
immer wieder dagegen schlagen.

„Sarah was ist denn los? Hast du Mia nicht
abgeholt?“ Ihr Vater schrie beinahe durchs Telefon, doch konnte sie nach wie
vor nicht antworten. Zu viele Bilder und Gedanken schwirrten durch Sarahs Kopf,
der sich noch immer anfühlte, als wäre eine Bombe direkt darin eingeschlagen.
Irgendjemand hatte dafür gesorgt, dass Sarahs Eltern Mia nicht abgeholt hatten.
Und dieser jemand hatte sich für sie ausgegeben.

 

 

 

 

 

 

Derek

Es war sogar noch schöner gewesen, als er es
sich vorgestellt hatte. Wie die dumme Kuh zusammengebrochen war und auf dem
Boden geheult hatte. Sie hat ja keine Ahnung, dass das nur der Anfang war. Es
war eine gute Idee gewesen wieder hierher zu kommen, um sie in diesem
entscheidenden Moment zu beobachten. Eine größere Befriedigung als jetzt hatte
er noch nie empfunden. Das hätte er um keinen Preis der Welt verpassen wollen.
Und gesehen hatte ihn diesmal auch niemand. Doch jetzt musste er sich wieder
konzentrieren. Sein Plan war noch nicht beendet, das Ziel noch nicht erreicht. Am
Ende würde er seinen Triumph ausgiebig genießen, aber jetzt musste er zurückfahren
und alles vorbereiten. Der erste Schritt war, Sarah die Anweisungen zu schicken
oder Spielregeln, wie er sie gern nannte, und dann sein Handy zu entsorgen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sarah

Sarah starrte auf den Bildschirm des Handys. Happy
Birthday Sarah, 
lautete die Nachricht, die vor zwei Sekunden mit einem
leisen Bing auf dem Sperrbildschirm erschienen war. Die Nachricht war
von einer anonymen Nummer auf das Horror-Handy verschickt worden. Bing.
Eine neue Nachricht!

 

Du tust genau das, was
ich dir sage und du wirst meine Spielregeln genau befolgen.

 

Sarah hatte sich auf einen der Küchenstühle
fallen lassen, weil sie glaubte keine weitere Sekunde mehr stehen zu können.
Doch war es im Sitzen auch nicht besser. Sie starrte auf den Satz, las ihn
immer und immer wieder, als würde sich dadurch sein Inhalt ändern. Oder die
Situation in der sie sich befand.

 

Ansonsten kannst du
deine Tochter das nächste Mal im Leichenhaus besuchen.

 

Sarah drohte ohnmächtig zu werden und damit
vollständig die Kontrolle über ihren Körper zu verlieren, doch nur wenige
Sekunden später erschien eine weitere Nachricht. Das Bing, das dabei
jedes Mal erklang, brannte mittlerweile in Sarahs Ohren und sie konnte sich
kein widerlicheres Geräusch vorstellen.

 

Komm in 30 Minuten zu
dieser Adresse: Theodor-Echtermeyer-Weg 4. Kein Wort zu irgendjemandem. Keine
Polizei. Kein Handy.

 

Und ich würde dir
raten dich zu beeilen, denn ich bin nicht gerade geduldig. Und warum sollte die
süße Mia darunter leiden?

 

Sarah hatte nicht gedacht, dass sich ihre
Übelkeit noch hätte steigern können. Sie hatte ihre Lippen fest
aufeinandergepresst, weil sie drohte sich übergeben zu müssen. Doch sie zwang sich,
sich zu konzentrieren und ihre volle Aufmerksamkeit auf die Spielregeln,
wie der Irre sie nannte, zu lenken. Was sollte sie jetzt tun? Doch zur Polizei gehen?
Nochmal ihren Vater anrufen, nachdem sie eben wie vom Blitz getroffen aufgelegt
und ihr Handy ausgeschaltet hatte? Nein. Das konnte sie nicht riskieren. Sollte
Mia irgendetwas zustoßen, wusste Sarah nicht, wie sie damit leben sollte. Welche
Chance hatte sie also, wenn sie sich einfach so in die Hände des Entführers
ihrer Tochter begab, der gleichzeitig auch noch ein Erpresser und ein Stalker
war? Je öfter sie die Nachrichten las, desto bewusster wurde ihr, wie
aussichtslos ihre Situation war. Sie hatte keine andere Möglichkeit, als sich auf
dieses kranke Spiel einzulassen. Sie fühlte sich, als wäre sie in ihrem
schlimmsten Alptraum gefangen, ohne Chance zu entkommen.

 

Nach einem Moment zwang Sarah sich aus ihrer
Starre. Sie stand auf und holte den Laptop aus ihrem Schlafzimmer, weil sie dem
Horror-Handy nicht vertraute und sie ihr eigenes Handy ausgeschaltet lassen
wollte. Sie öffnete Google Maps und gab die Adresse ein, die der Entführer
genannt hatte. Den Straßennamen hatte Sarah nie zuvor gehört und nun entdeckte sie
auch wieso. Die Adresse, zu der sie fahren sollte, war ein Stück außerhalb der
Stadt gelegen, etwa 20 km südlich der Stadtgrenze zwischen Großbeeren und
Ludwigsfelde. Dort war Sarah noch nie gewesen.

Sie ließ sich die Route von ihrer Wohnung zu
der Adresse anzeigen. Etwa 22 Minuten Fahrzeit. Scheiße, dachte Sarah. Sie
durfte keine weitere Minute mehr vergeuden! Mit ein paar Klicks ließ sie den
Drucker die Wegbeschreibung ausdrucken, stopfte sich die erste Kopie und ihre
Autoschlüssel in die Hosentasche und legte die zweite Kopie und das Handy des
Erpressers beim Hinausgehen auf ihre Fußmatte. Genau dorthin, wo das alles
angefangen hatte, dachte Sarah mit bitterem Beigeschmack. Sie hastete das
Treppenhaus hinunter und saß nur wenige Sekunden später in ihrem Auto und war
auf dem Weg zu ihrer Tochter. Und deren Entführer.

 

Die Route führte Sarah, nachdem sie die
Autobahn an der Ausfahrt Richtung Großbeeren verlassen und mehrere
Kreisverkehre passiert hatte, nun durch zahlreiche Kleinstraßen. Bis gerade
eben waren es kleine holprige Straßen mit Einfamilienhäusern an den Seiten
gewesen, die in großen Abständen zu einander standen und große dazugehörige
Gärten versprachen. Straßen wie die, in der auch ihre Eltern in einem kleinen
gemütlichen Haus wohnten. Zwar an einem anderen Ende Berlins aber in gewisser
Weise ähnelten sich die Gegenden. Nun aber fuhr Sarah auf einem schmalen
Kiesweg, seit sie das letzte Mal links abgebogen war. Mit jedem Meter, den sie
fuhr, steigerte sich ihre Nervosität. Ihre Hände schwitzten und ihr Kopf
dröhnte nach wie vor, wie ein innerer Alarm.

Sie brach während der Fahrt immer wieder
flutartig in Tränen aus, wenn sie daran dachte, wie jemand ihr kleines Mädchen
entführt, misshandelt oder sonst was getan hatte. Was, wenn sie zu spät kam und
dieser Irre Mia etwas angetan hatte? Oder schlimmer, was wenn Mia bereits tot
war? Sarahs Gedanken trieben sie in eine neue Verzweiflung. Sie zwang sich,
sich zu konzentrieren, wie sie es heute schon mehrmals tun musste. Nur so
konnte sie Mia helfen.

 

Der Route zufolge konnten es nur noch einige
Meter sein, die Sarah von ihrem Ziel trennten und tatsächlich konnte sie vage das
Ende des Weges erkennen. Sie hielt an und lauschte einen Moment, ob irgendetwas
zu hören war. Konnte sie hier richtig sein? Sie stellte den Motor ab und stieg
aus. Ihre Knie zitterten. Ein leichter Wind wehte ihr entgegen. Es war deutlich
kühler als in der Stadt und die Sonne wurde von den Bäumen verdeckt. Vor ihr
lag ein weites Feld ohne einen Weg oder ein einziges Haus in Sicht. Links von
ihr stand eine winzige Hütte nur ein paar Meter entfernt. Sie war nicht größer
als ein Hühnerstall und nur aus ein paar Holzbrettern zusammengebaut. Um das
Feld herum waren überall Bäume zu sehen. Sonst nichts. Gerade als Sarah wieder
zum Auto zurückgehen wollte, um noch einmal auf den Ausdruck der Routenplanung
zu gucken, hörte sie Schritte. Hinter der Hütte kam ein junger Mann hervor,
nicht älter als zwanzig, schätzte Sarah. Er trug Jeans, dunkle Sneaker und eine
abgewetzte Lederjacke.

„Hallo Sarah!“ Seine Stimme klang rau, doch
sah Sarah, als er näherkam, dass er jünger war als sie zunächst gedacht hätte. Der
Mann, der auf sie zukam, war eher ein Junge.

Es war nicht sein Äußeres an sich, dass in
Sarah Angst aufsteigen ließ, sondern die Art, wie er sie ansah. Und die
Pistole, die er auf sie gerichtet hatte.

Seine Augen waren so dunkel, dass Sarah fast
glaubte sie wären schwarz. Und darin war ein Funkeln, das ihm etwas
Unberechenbares verlieh. Er ging mit großen Schritten auf sie zu, schlenderte
beinahe. Er lächelte sie mit dem bedrohlichsten Lächeln an, dass Sarah je
gesehen hatte und ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Er blieb ein paar
Meter vor ihr stehen. Er wirkte gelassen, selbstsicher.

„Wir haben schon auf dich gewartet.“

Etwas von Sarahs Mut kehrte zurück, als Sarah
sich ins Gedächtnis rief, weshalb sie hier war.

„Wo ist Mia?“ Ihre Stimme klang schrill und
zittrig.

Ihr Gegenüber gab ein verächtliches Geräusch
von sich, als wäre diese Frage geradezu lächerlich. Doch dann lächelte er Sarah
erneut an. Ein Lächeln bei dem Sarah eine Gänsehaut bekam.

„Keine Angst, Mia geht es gut. Sie ist
wirklich ein liebes Kind und so gutgläubig.“ Er lächelte sie böse an und
wartete ein paar Sekunden bevor er weitersprach. „Aber wenn ich es mir recht
überlege, solltest du vielleicht doch lieber Angst haben.“

Sarah sah, wie er jedes Wort von dem was er
sagte genoss. Die Art wie er sprach ließ ihn älter wirken, als er aussah. Er
ließ die Waffe in seiner rechten Hand einmal um seinen Finger kreisen, als wäre
sie ein Spielzeug, dann richtete er sie wieder auf Sarah.

„Was willst du von mir?“ Sarahs Zähne
klapperten vor Angst während sie sprach. Sie wusste nicht was sie tun sollte,
außer ihm Fragen zu stellen und zu hoffen, dass sie bald jemand retten würde.

„Was ich will?“ Der Blick von dem Jungen hatte
sich verändert. Das Lächeln war verschwunden und dafür zeigte sein Gesicht
unverfälschte Wut.

„Ich will Gerechtigkeit für das was du getan
hast, für das was du mir genommen hast! Ich will, dass du leidest, genauso wie
ich.“ Seine Stimme war laut und aggressiv geworden, sein Blick finster und
ernst.

Damit hatte Sarah nicht gerechnet. Was konnte
er meinen? Langsam und vorsichtig sprach sie ihre nächsten Worte.

„Wer bist du?“

Nun kehrte das Lächeln auf sein Gesicht
zurück, wenn auch nicht in solchem Umfang, wie davor. Als hätte er nur auf
diese Frage gewartet.

„Ich habe erwartet, dass du mich nicht
erkennen würdest. Deshalb helfe ich dir auf die Sprünge. Mein Name ist Derek und
wir beide sind uns schon einmal begegnet, vor elf Jahren.“ Er wartete, ob Sarah
irgendwie reagieren würde. Doch das tat sie nicht. Sie stand einfach nur da,
völlig irritiert und überfordert mit dem Rätsel, das diese Situation noch immer
für sie war.

„Du bist anscheinend etwas schwer von Begriff.
Oder du bist so arrogant, dass mein Name einfach keine Bedeutung für dich hat.“
Den letzten Satz brüllte Derek Sarah beinahe ins Gesicht, so laut, dass sie vor
Schreck einen Schritt zurücktrat und beinahe gestolpert wäre. Und auch er
selbst war überrascht von sich selbst, dass er so die Fassung verloren hatte.

„Vielleicht hilft es dir ja,“ sagte Derek
jetzt ruhiger, „wenn ich dir den Namen meiner Mutter sage: Nicole Thiele.“

Sarah fuhr zusammen, als sie den Namen hörte. Sie
hatte mit allem Möglichen gerechnet, doch nicht damit. Dieser Name verfolgte
sie seit Jahren. Niemals wird sie ihn vergessen können.

„Und vielleicht sagt dir ja auch der 23.
Oktober 2009 etwas?“

Nein, dachte Sarah, das kann nicht sein. Er
weiß es. Er weiß was damals passiert ist, was ich getan habe! Als Sarah Derek
nun ansah wurde ihr alles klar. Ja natürlich, Derek. Er ist ihr Sohn, das
kleine Kind, das Sarah am Tag des Unfalls auf dem Rücksitz übersehen hatte,
weil sie zu geschockt vom Anblick seiner Mutter gewesen war. Erst am nächsten
Tag in den Nachrichten hatte sie gehört, dass ein kleiner Junge den Unfall
überlebt hatte. Sie hatte Gott dafür gedankt, dass dem Jungen nichts passiert
war und sich selbst dafür verflucht, einen solchen Brand in der Nähe eines
Kindes angefacht zu haben.

Triumphierend blickte Derek auf sie herab. Als
hätte er gehört, was Sarah gedacht hatte, bestätigte er ihre Vermutung.

„Ja, ganz genau. Ich weiß was damals passiert
ist. Ich weiß, dass du meine Mutter umgebracht hast!“ Er hatte die Waffe noch
ein Stück angehoben und richtete sie jetzt direkt auf Sarahs Kopf. Sarah konnte
ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Jede unterdrückte Emotion drang jetzt aus
ihrem Körper hervor und sie fing an zu schluchzen.

„Bitte…“, stammelte Sarah unter Tränen. „Es…
es war ein Unfall. Ich habe das nicht gewollt.“

„Das spielt keine Rolle“, sagte Derek kalt.
„Du hast sie getötet und wurdest nicht mal dafür bestraft! Ich habe an diesem
Tag meine Mutter verloren und damit alles, was ich hatte! Aber du, du bist
einfach nach Hause gegangen und hast dein Leben weitergelebt, als wäre nie
etwas passiert.“ Die Aggression in seiner Stimme steigerte sich mit jedem Wort.

„Nein, bitte…“ versuchte Sarah sich panisch zu
erklären, „du verstehst nicht, ich -“

„Oh und wie ich es verstehe“, schnitt Derek
ihr das Wort ab. „Du hast mich und meine Mutter einfach in dem Auto
zurückgelassen, hast sie da sterben lassen! Aber wie du siehst, bin ich noch am
Leben und das Schicksal will, dass ich mich dafür an dir räche.“ Seine Stimme
war ganz ruhig geworden, was fast noch beängstigender klang als die rohe Wut.

Irgendetwas musste Sarah tun, alles an Derek ließ
sie glauben, dass er jede Sekunde abdrücken würde. Hoffentlich hatte jemand
ihre Nachricht entdeckt und war schon auf dem Weg hierher.

„Wie hast du mich gefunden?“ Sarah hatte
damals damit gerechnet, dass man trotz des ausgebrannten Autos irgendwelche
Spuren finden und sie überführen würde. Doch hatte man sie nie lange
verdächtigt und sich abgesehen von einer kurzen Befragung der Polizei nicht
weiter für sie interessiert. Es kam nie heraus, dass Sarah schuld an dem verheerenden
Unfall gewesen war. Viele Umstände hatten dagegengesprochen: Ihr Vater hatte
das Auto als gestohlen gemeldet und ihre Eltern hatten bestätigt, dass Sarah
die ganze Nacht bei ihnen gewesen war. Zudem hatte sie mit der kleinen Mia im
Arm damals sehr unschuldig ausgesehen und außerdem hatte Sarah damals gar
keinen Führerschein gehabt.

„Ironischerweise“, Derek lächelte, als käme
nun sein Lieblingsteil der Geschichte, „hast du dich selbst verraten, als du
dieses kleine Foto am Tatort verloren hast.“ Derek holte mit der linken Hand
ein Foto aus seiner Hosentasche heraus, das nicht viel größer war als eine Kreditkarte.
Nun hielt er es hoch, damit Sarah es sehen konnte. Sie erinnerte sich an dieses
Bild. Es zeigte sie und Mia nur ein paar Wochen nach Mias Geburt im Wohnzimmer
ihrer Eltern. Ihr Vater hatte es mit seiner Kamera fotografiert und ihr zwei
Abzüge davon ausgedruckt. Das eine hing noch immer bei ihr zu Hause im Flur und
das andere hatte Sarah immer in ihrer Handtasche dabeigehabt, bis sie vor
einigen Jahren gemerkt hatte, dass es nicht mehr da war. Und jetzt wusste sie
auch wieso.

„Wieso hast du es behalten?“

Sarah versuchte ihn so lange wie möglich am
Reden zu halten, damit sie sich etwas ausdenken konnte. Irgendeinen Ausweg aus
dieser Situation. „Du hättest es der Polizei geben können, hättest mich
ausliefern können. Wieso hast du es nicht getan?“

„Das habe ich überlegt“, gab Derek zu. „Nachdem
du abgehauen warst und nichts als Feuer zurückgelassen hattest, bin ich aus dem
Auto geklettert, um Hilfe zu holen. Da habe ich dann das Foto auf der Straße
gefunden. Ich habe damals nicht verstanden, was das Foto bedeutet, ich war ja
erst sieben, und habe es einfach in meine Hosentasche gesteckt. Und dann dort
vergessen. Bis ich es vor einem halben Jahr zufällig zwischen alten Sachen wiedergefunden
habe und mich erinnert habe, dass ich an diesem Tag eine Frau neben unserem
Auto gesehen habe. Dich. Du bist aus deinem Auto gestiegen, hast uns angesehen
und dann einfach dort gelassen.“ Sarah hätte ihm zu gern widersprochen und
gesagt, dass das alles ganz anders gewesen war, doch traute sie sich nicht.

„Und seitdem hast du das alles geplant“, sagte
Sarah stattdessen. Sie starrte ihn an. Sie bildete sich ein, allen Schmerz in
seinen Augen sehen zu können, den er ihretwegen erlebt hatte. Und sie hatte
Mitleid mit ihm.

Derek nickte. Einen Moment war es totenstill,
nur der Wind in den Bäumen war zu hören.  

„Ich habe entschieden, selbst über dein
Schicksal zu entscheiden, anstatt diese Entscheidung der Polizei oder einem
Gericht zu überlassen.“

„Und was hast du jetzt mit mir vor?“ Sarah
fürchtete sich zwar vor der Antwort, aber sie wusste auch nicht, was sie sonst
noch fragen sollte. Zu Sarahs Überraschung ließ Derek die Waffe sinken.

„Komm mit“, befahl er.

Er deutete Sarah mit der Waffe an, ihm zu
folgen, während er sich umdrehte und auf die Hütte zuging. Sarah folgte ihm
langsam und blickte sich dabei nach irgendetwas um, dass sie als Waffe gegen
ihn verwenden könnte. Außer ein paar kleinen Steinen konnte sie nichts
entdecken. Derek war mittlerweile hinter der Hütte verschwunden, an der Stelle,
an der er vorhin aufgetaucht war. Sarah folgte ihm nur widerwillig, aber sie
wusste immer noch nicht, wo Mia war. Also ging sie ihm nach. Jetzt konnte sie auf
die Rückseite der Hütte blicken und den Eingang zu dieser erkennen. Es war eine
schmale Tür auf der rechten Seite, die nach innen offenstand. Derek stand außerhalb
der Hütte direkt neben dem Eingang. Er deutete ihr an, näher heran zu kommen. Als
sie fast am Eingang war, bemerkte Sarah einen stockähnlichen Gegenstand, der
hinter Derek auf dem Boden lag. Er guckte nur ein kurzes Stück hinter der Ecke
der Hütte hervor, aber von dem was Sarah sah, hielt sie es für einen Besenstiel
oder etwas Ähnliches. Sie hätte den Gegenstand gern genauer untersucht, doch
wollte sie nicht riskieren, dass Dereks Aufmerksamkeit ebenfalls darauf fiel. Stattdessen
blickte sie wieder zu ihm, voller Angst was nun passieren würde. Sie spürte,
dass er ihre Angst fühlen konnte und erneut zeigte er sein furchteinflößendes
Lächeln. Mit einer einladenden Geste hob Derek seine Hand und zeigte auf das
Innere der Hütte.

Aus Sarahs Kehle löste sich ein Schrei, als
sie Mia in der Mitte der Hütte am Boden sitzend an einen Pfeiler gefesselt sah.
Ihr kleines Gesicht war blass, ihre Augen rot vor lauter Tränen. Ihr Mund war
geknebelt und sie konnte nur dumpfe Geräusche von sich geben. Sarah wollte auf
sie zustürzen, sie in den Arm nehmen und nie wieder loslassen, doch fing Derek
sie ab. Er hatte sie an der Schulter zurückgehalten und herunter auf die Knie
gedrückt. Sie kauerte nun vor dem Eingang der Hütte auf dem Boden, weinend
wegen des Anblicks ihrer Tochter. Auch Mia hatte erneut angefangen zu weinen. Derek
stand zwischen Sarah und dem Eingang der Hütte und damit zwischen ihr und Mia.
Er hatte die Waffe direkt auf Sarahs Kopf gerichtet.

„Jetzt ganz ruhig Sarah, oder hast du etwas
vergessen?“ Er wedelte mit der Waffe in der Luft, um Sarah klar zu machen, dass
er die Regeln bestimmte.

„Bitte…“, flehte Sarah noch immer auf Knien.
„Bitte lass sie gehen. Ich tue alles, was du willst nur bitte lass sie gehen.“
Sie schluchzte und wimmerte und auch Mia machte schmerzvolle Geräusche.

„Oh nein, ganz sicher nicht.“ Derek ging ein
paar Schritte auf und ab, immer zwischen Sarah und dem Eingang. Er ließ Sarah
nie aus den Augen, die Waffe permanent auf sie gerichtet. „Weißt du, ich habe
mir lange überlegt, wie ich mich am besten an dir rächen würde.“ Er sprach
langsam und ruhig, als würde er eine alte Geschichte erzählen. „Meine erste
Idee war, dich umzubringen. Das wäre ziemlich einfach. Du hättest für den Tod
meiner Mutter mit deinem eigenen Leben bezahlt und Mia hätte ihre Mutter
verloren, genauso, wie ich meine.“ Sarah war sprachlos über die Einfachheit,
mit der Derek all diese Dinge sagte. Sie blickte zu ihm auf. Gleichzeitig
bewegte sie ihre rechte Hand langsam hinter sich und hinter die Ecke der Hütte.

„Aber dann“, fuhr Derek fort, „dachte ich, das
wäre nicht ganz fair. Immerhin sollst du genauso leiden, wie ich.“

Sarah tastete nach dem Gegenstand, den sie
eben kurz erblickt hatte und der jetzt, hinter ihrem Körper versteckt, für
Derek nicht zu sehen war. Als sie ihn in der Hand hatte hob sie ihn testweise
an. Es fühlte sich an, als wäre der Stiel etwa einen Meter lang. Perfekt,
dachte Sarah.

„Ich habe erkannt, dass es keine echte
Bestrafung ist, wenn ich dich töte.“

Während der letzten Worte war Derek
stehengeblieben. Er schaute Sarah an und wartete die Reaktion in ihrem Gesicht
ab. Ihre Augen wurden größer und ihr Mund öffnete sich ein Stück, als Sarah
begriff. Sie wollte nicht glauben, was sie da eben gehört hatte, wollte nicht
glauben, was es bedeutete. Er würde sie nicht umbringen! Er würde Mia töten und
sie selbst am Leben lassen, damit sie für den Rest ihres Lebens darunter leiden
musste. Genauso, wie er…

 

Ein letztes Mal lächelte Derek Sarah
triumphierend an und drehte sich zur Hütte. Er richtete die Waffe weg von Sarah,
auf Mia. Blitzartig schloss Sarah ihre Hand fester um den Stiel und schlug
damit so fest sie konnte in seine Richtung. Zu Sarahs Glück, war der Stiel lang
genug und sie traf ihn damit am Hinterkopf. Ein Schuss löste sich und ein
lauter Knall ertönte. Der Knall hallte in Sarahs Ohren nach, doch glaubte sie,
noch ein anderes Geräusch zu hören – Polizeisirenen -. Gott sei Dank, dachte
Sarah. Derek taumelte von dem Schlag und drückte seine linke Hand auf die
Stelle, an der Sarah ihn getroffen hatte. Sarah war mittlerweile wieder auf den
Beinen und wollte zu einem erneuten Schlag ansetzen doch fing er ihren Schlag
ab und riss ihr den Stiel aus der Hand. Er war viel kräftiger als Sarah und
schleuderte sie dabei zu Boden. Das letzte was sie sah, war Derek, wie er über
ihr stand und die Waffe auf sie gerichtet hatte. Das letzte, das sie hörte
waren zwei kurzaufeinanderfolgende Schüsse. Danach wurde alles schwarz.

 

3

 

Sarah wachte am nächsten Morgen in einem
hellen Krankenzimmer auf. Zwei Polizisten waren bei ihr und auch ihre Eltern. Sie
waren zu Sarahs Wohnung gefahren, nachdem Sarah aufgelegt und ihr Handy
ausgeschaltet hatte. Dort hatten sie den zweiten Ausdruck der Route und das
Handy auf der Fußmatte gefunden, wie Sarah es gehofft hatte. Damit waren sie
zur Polizei gegangen. Nachdem Sarah zu Boden gestürzt war, hatte Derek versucht
auf sie zu schießen, aber die Kugel hatte sie verfehlt, weil einer der
Polizisten auf Derek geschossen hatte. Man hatte sie und Mia ins Krankenhaus
gebracht, Derek war tot. Die Polizei hatte in seiner Wohnung einen Brief
gefunden, in dem er sein Vorhaben festgehalten und erklärt hatte, er würde sich
selbst töten, nachdem er Mia getötet hatte. Er hatte nie vor, mit seiner Tat
durchzukommen. Deshalb hatte er auch nicht sehr professionell gehandelt. Zwei
Nachbarn bestätigten, dass sie Derek mehrmals in ihrem Hausflur gesehen hatten,
von dessen Fenster aus, wie sich herausstellte, man in Sarahs Wohnung sehen
konnte. Und Derek hatte die Umgebung der Hütte anscheinend nicht überprüft,
oder den Stiel, mit dem Sarah ihn getroffen hatte, übersehen.

 

Mia hatte zugegeben, dass nicht Sarah sie von
der Schule abgeholt hatte, sondern Derek. Er hatte sich ihr ein paar Wochen vorher
angenähert und ihr Vertrauen gewonnen, was Sarah es noch immer kalt den Rücken
hinunterlaufen ließ. Mia ging es mittlerweile wieder gut, sie hatte nur ein
paar blaue Flecken und einen riesigen Schock zu verarbeiten. Sarah hatte
ebenfalls keine schweren Verletzungen erlitten, doch dieses Erlebnis hatte ihr
gezeigt, dass sie nicht länger mit ihrem Geheimnis leben wollte.

 

 

 

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