MalinLEin letzter Dienstag

Es war Dienstag. Schließlich schaukelte ihn die Fuchsstute mit rhythmischen Bewegungen über den Feldweg in Richtung Anhöhe. Er ritt sie jeden Dienstag.   Es kam nicht oft vor, dass er ein Pferd nur ein Mal pro Woche in Beritt hatte, meistens waren es zwei oder drei. Seine Kunden waren ungeduldig und schnelle Erfolge machten sie zufrieden. Bei Lale war das anders. Sie setzte auf eine solide Ausbildung für ihre sechsjährige Fuchsstute. Vielseitig wäre das richtige Wort, denn Carla hatte sich zu einem prächtigen Allrounder entwickelt. Grazil in der Dressur, kräftig am Sprung und mutig im Gelände. Lale bildetet sie fast alleine aus, nur Dienstags gab sie ihre Sportpartnerin in seine Hände.

Ein kurzer Impuls genügte und Carla galoppierte an. Sie hatten die Anhöhe erreicht als er merkte, wie sich der Rücken der Stute anspannte. Sekundenbruchteile nur bevor sie kurz zögerte, ihre Kraft bündelte und mit einem gewaltigen Satz nach rechts auswich. Kein Reiter hätte dieses Manöver aussitzen können, würde er später seinen Abgang vor sich selbst rechtfertigen. Eins konnte er schon immer; fallen. Noch in der Luft hatte er sich zusammengerollt, das Kinn auf die Brust gepresst und seinen rechten Arm schützend vor sein Gesicht gehalten um über den linken abzurollen. Carla stand fünf Meter von ihm entfernt und schnaubte nervös. Die Zügel hingen vor ihrer Brust, die Bügel hatten sich über dem Sattel ineinander verfangen. Er richtete sich auf und wollte sich dem Tier behutsam nähern. Er sah sich nach den Zügeln greifen und überlegte dabei, was die Stute so erschreckt haben könnte. Er sah sich um. Auf dem Weg war nichts zu erkennen. Er führte das Pferd zurück an die Stelle, an der es sich erschreckt hatte. Plötzlich scheute die Stute wieder, stemmte alle Hufe in den Boden und verharrte. Jetzt sah er es auch. Auf dem Weg blinkte etwas. Ein Blitzlicht. Er brauchte einen Moment, bis er realisierte, dass es ein Handy war. Es lag auf dem Display und der Kamerablitz kündigte geräuschlos einen Anruf an. Das iPhone vibrierte noch als er es aufhob; es verstummte als er es umdrehte. 10 verpasste Anrufe von unbekannter Nummer, die kurze Meldung hatte er eben erkennen können, als sich das Handy entsperrte. Er wunderte sich für einen Moment, wusste aber nicht genau worüber. Nachdem er das Handy grob vom Schmutz befreit hatte, steckte er es in seine Tasche, richtete Zügel und Bügel und saß behände auf. Er fühlte sich unverletzt. Das Pferd entspannte sich unter seinem Gewicht und schritt über die Lichtung in den dichten Nadelwald. Pferd und Reiter kannten den Weg und er nahm die Zügel in eine Hand und zog mit der anderen das Handy aus der Westentasche. Sah auf den Display und wusste, was ihn vorhin erstaunt hatte; das iPhone war zwar gesperrt, aber sein Gesicht ließ das weiße Schloss am oberen Displayrand aufspringen. Er öffnete die Kontakte. Nichts. Außer ApothekenNotfinder und Auskunft. Nachrichten gab es keine. Er öffnete die FotoApp und wollte, seinem ersten Impuls folgend, das Mobiltelefon mit aller Kraft aus dieser Welt schleudern. Doch seine Muskeln ließen es nicht zu. Sie weigerten sich, dem nicht zu Ende gedachten Befehl Folge zu leisten. Stattdessen übernahmen seine Augen das Kommando. Sie tauchten tief ein in dieses Foto. Sahen die Umrisse der beiden Männer, registrierten was sie trugen. Weiteten sich noch mehr und erkannten den Ort, die Stimmung und das fahle Licht am Abgrund. Seine Augen brannten, füllten sich mit Tränen. Er wollte laut schluchzen, es misslang.

Die Tränen waren zurück in seinen Kopf gelaufen, um seine Gedanken zu ertränken. Er wusste nicht, wie lange er schon durch den Wald geritten war. Die Umgebung schien sich zu wiederholen. Wie lange hatte er auf das Foto gestarrt? Sekunden? Stunden? Er traute sich nicht weiter zu wischen, konnte aber nicht anders. Sein Finger berührte den Display und glitt zitternd nach rechts. Das nächste Foto präsentierte sich seinen Augen. Abgeklärt, so als hätten sie nichts mit der Sache zu tun, begannen sie mit der Analyse. Wieder die beiden Männer, dieses Mal war die Stimmung eine andere. Jetzt erkannte er sich besser, gestand es sich ein. Die Situation war unverfänglich. Für ihn. Für Außenstehende vielleicht nicht, der andere Mann hielt ihm Geld hin, viel Geld. Fünfundzwanzigtausend Euro. Für Fantastico. Er hatte das dunkelbraune Fohlen im Auftrag vom Züchter verkauft. Alles mit rechten Dingen. Er hatte den Mann vorher noch nicht gekannt. Das Foto hatte er damals selbst aufgenommen, quasi als Quittung. Es war nicht ungewöhnlich, dass Bargeld floss. Leben und leben lassen. Fantatstico hatte sich längst für den Spitzensport empfohlen. Auf dem Sprung nach Olympia. Das Foto war über zwölf Jahre alt. Aus einem früheren Leben, genauer gesagt, das erste Foto daraus. Ein Leben, das er vergessen hatte. Jetzt war es wieder da. Er sammelte sich, fasste Mut und – wischte weiter.

Diesmal erkannten seine Augen zunächst nur zwei Menschen, um ihn zu schützen. Champagnergläser, Lachs und Kaviar. Die beiden prosteten sich zu. Im Hintergrund hatten sich Länderflaggen aufgereiht, die in heftiger Bewegung innegehalten hatten. Es war windig gewesen, an dem Tag. Das Foto hatte ein Passant aufgenommen. Die Menschen lachten. Sie waren glücklich. Einer war er. Fantastico hatte sein erstes großes Springen gewonnen.

Er ahnte, was als nächstes kam und kämpfte gegen die Warnung an, er wollte nicht weiterschauen und wünschte sich doch nichts sehnlicher. Das Pferd trug in sanft über die Wege. Das warme Gefühl von Geborgenheit stieg wie ein wohlig heißes Bad in ihm auf. Es nahm in gefangen und schenkte ihm die Kraft, das nächste Foto zu betrachten.

Eine Momentaufnahme. Weiße Laken, durchwühlt, durchliebt. Zwei Hände ineinander verschlungen, eine gehörte ihm. Es hatte ihn überrascht, wie sanft die andere Haut sich angefühlt hatte. Am Abend zuvor waren sie sich nach langer Zeit wieder begegnet. Unerwartet. Zufällig; oder nicht? Er konnte jetzt nicht weiter darüber nachdenken. Das Gefühl von damals nahm in gefangen. Er gab nach, sank zurück in die Laken und ließ los.

Der erste Kuss. Wut. Der zweite Kuss. Hingabe. Der dritte Kuss. Verlangen. Die Heftigkeit hatte ihn überrascht. Er dachte nicht mehr an seine Frau, seine Zwillinge, alle waren so weit weg. Nichts war mehr wichtig. Nur er und dieser Mensch. Zwei Körper, nein zwei Seelen, die sich endlich wieder gefunden hatten. Sie hatten nicht geredet. Es roch nach Eukalyptus in dem modernen Hotelzimmer. Die bodentiefen Fenster erlaubten heimliche Blicke auf die Stadt. Blicke auf die Welt, die sich nun wie eine einzige Illusion präsentierte. Er fühlte keine Wirklichkeit. Fühlte nur die Energie des Augenblicks. Sein Verstand nahm die Vernunft bei der Hand und verschwand. Jetzt war er nur noch.

Der andere Körper war klarer, erfahrener, wissender. Unverhohlene Geilheit, Begierde und Lust füllten den Raum. Füllten ihn. Es war überflüssig den anderen Menschen zu betrachten, er wollte ihn fühlen. Die schmale Taille, die breiten Schultern, die harten Muskeln unter der erstaunlich weichen Haut. Die anderen Hände, die ihn berührten, so kraftvoll und so präzise. Der Körper hinter seinem. Die Arme, unter seinen Achseln hindurchgeschoben, die Hände, seine Haare und sein Gesicht erobernd. Die Finger seine Lippen nachzeichnend. Er hatte den großen harten Schwanz an seinen Pobacken gespürt und war noch geiler geworden. Die fremden Hände griffen um seinen Hals, packten seine Brust und wanderten weiter über seinen Bauch zu den Lenden. Kraftvoll zog ihn  der andere Mann an sich, wand sich und ließ das Glied über seine Haut gleiten. Der Mann lockerten den Griff und wurde sanfter. Die rechte Hand glitt durch seine Leiste, machte kurz Halt und ließ ihn stöhnen, bevor sie seinen Schwanz umschloss. Seine Muskeln zuckten, er kontrollierte nichts mehr. Er ließ die Hand gewähren, presste ihr sein Glied entgegen und kam – die ganze Nacht lang.

Irgendwann waren sie wieder da gewesen – die Vernunft und der Verstand, Hand in Hand. So hatten sie ihn wieder mitgenommen. Zurück ins richtige Leben, welches sich so falsch anfühlte. Zum Glück hatte er die Pferde und seine Frau und die Zwillinge. Der andere Mann war nicht mehr da.

Ein Video. Perspektivwechsel. Wieder die Umrisse der beiden Männer. Wieder das fahle Licht am Abgrund. Einer trug einen hellen Trenchcoat. Den Gürtel eng um die schmale Taille gebunden. Er hatte Reitsachen an. Parka, dunkelgrüne Hose, braune Stiefel. Er erinnerte sich nicht an den Vorwand, unter dem der anderen Mann ihn hierher gelockt hatte. Dafür war kein Platz. Die Präsenz der nahenden Tragödie war zu groß. Alles was zählte und nichts mehr zählen durfte. Der andere Mann griff mit der Hand in die Manteltasche. Zog etwas heraus, es verschwand in seiner Hand. Dann löste er den Gürtel, öffnete die Knöpfe, wollte ihn ausziehen, überlegte es sich anders. Es war wieder windig. Die Lippen des Mannes bewegten sich, er hörte nichts. Brauchte er auch nicht. Er konnte sich an jedes einzelne Wort erinnern. Der Mann hatte sich hingekniet, seine Hand geöffnet und ihm den goldenen Ring präsentiert. Er hatte gelacht, laut, fast schrill. War auf ihn zugegangen, forsch, fast wütend. Hatte ihn aufhalten wollen. Jetzt hörte er auf der Tonspur die herannahende Windböe genau. Der Mann wollte gerade aufstehen, als die Luft seinen Mantel im Sturm eroberte. Überrascht von der kraftvollen Wucht strauchelte der Mann, verlagerte das Gewicht und suchte Halt, griff nach seiner starken Hand – ins Leere. Aufgerissene laute Augen, ein Mund, der keinen Schrei preisgab. Der Abgrund erkannte seine Chance und riss den Mann in die Tiefe. Sein eigenes, von Verblüffung entstelltes Gesicht, war das letzte, was das Video preisgab, ehe es endete.

Sollte er weiterwischen? Wozu? Das war das Ende. Er warf das Handy ins Dickicht. Jetzt wollte er zurück zum Stall reiten. Er nahm die Zügel auf und ritt immer weiter auf den Abgrund zu. Der Wind hatte aufgefrischt.

Es war ein Dienstag, als die Fuchsstute reiterlos mit zerrissenem Zaumzeug auf den Hof trabte. Lale hatte sich schon gewundert, dass der Bereiter nicht längst zurück war und ihre Stute zufrieden in der Box stand. Ein Suchtrupp war schnell gefunden und die Auswahl der Reitwege nicht groß. Sie teilten sich die Routen, immer zwei gingen zusammen. Lale mit Georg. Der Bereiter ging nicht an sein Handy. Orten konnte es nur die Polizei, sie war informiert. Ein Krankenwagen auch. Als hätte Lale ahnen können, wo ihr Pferd zuvor langgegangen war, kam sie gemeinsam mit Georg zur Anhöhe. Noch bevor sie vor ihm standen hatte Lale die grüne Reitweste erkannt. Sie beugte sich über ihn, riss die Augen auf und sank auf die Knie. Ein hilfesuchender Blick in Georgs Richtung war vergebens. Der Bereiter war tot.

Georg sah nicht hin. Er wandte das Gesicht ab, bückte sich, griff nach dem Handy im Gebüsch und steckte es ein. Er lächelte beinahe, als er an seinen Bruder dachte.

Lale hatte schon den Notruf gewählt.

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