ReadingFoxEin neues Leben

“Hey Merida, Sie haben Ihr Handy vergessen!”

Alexis hasste diesen Vergleich. Nur weil sie rote Locken hatte, machte sie das noch lange nicht zu einer Disney Prinzessin. Dennoch drehte sie sich um und schaute den Barkeeper leicht genervt an. “Das kann nicht sein, das habe ich … Oh!” Sie schaute in ihre Handtasche, doch dort war nichts zu finden. Also ging sie zur Bar zurück, nahm das Handy und schaltete es kurz an. Wie immer schaute ihr Mops Odin sie von ihrem Sperrbildschirm aus an. Ein kurzer Blick zu dem Mann hinter der Bar verriet ihr, dass er genau ihr Typ war. Dunkle Haare, blaue Augen und ein verschmitztes Lächeln. Doch in ihr aktuelles Leben passte einfach kein Mann. Eigentlich wäre nicht mal dieser Abend in ihrer Lieblingsbar drin gewesen, aber Lilli, Alexis’ beste Freundin, plagte der Liebeskummer. In so einem Fall konnte sie einfach nicht absagen. Nun musste sie allerdings dringend nach Hause. Morgen früh hatte Alexis einen sehr wichtigen Termin der über ihre ganze Zukunft entscheiden sollte.

Zu Hause angekommen, schmiss Alexis ihre Klamotten in die Ecke. Als auch die  hohen Schuhe endlich von den schmerzenden Füßen gestreift waren, legte sie sich auf die Couch. In dem Moment vibrierte das Handy und sie sah, dass Lilli anrief. “Hey, wir haben uns doch eben erst gesehen. Ist was passiert?”
Am anderen Ende hörte sie nur ein Rauschen und eine verzogene Stimme.
“… wo ich bin … helfen …“
Diese abgehackten Wortfetzen waren alles, was Alexis heraushören konnte. Dann brach die Verbindung ab.
“Was war das denn?”, fragte sie sich verwundert und machte sich Sorgen. Sie versuchte, zurück zu rufen, doch alles was am anderen Ende zu hören war, war das Besetztzeichen.
Gerade, als sie es nochmal versuchen wollte, traf eine Nachricht von ihrer Freundin ein.

“Lilli geht es gut. Aber was ist mit dir?”
Angehangen war ein abfotografiertes Bild. Es zeigte ein altes Krankenhauszimmer in dem eine Frau liegt. Trotz der schlechten Qualität erkannte sie ihre Mutter. Daneben ein Kinderbettchen in dem sie selbst lag.
“Ist das ein schlechter Scherz? Was soll das? Wo bist du und woher hast du das Bild?”
Doch es folgte keine Antwort mehr.

Schnell zog sie sich eine Jeans und Turnschuhe an und machte sich auf den Weg zu ihrer Freundin. Ihre Gefühle schwankten zwischen Sorge und Verärgerung. Doch was auch immer los war, Lilli wusste, dass morgen ein wichtiger Tag war. Sie würde sich daher nie solch einen Scherz erlauben. Es musste etwas passiert sein. Was Alexis allerdings nicht verstand: was sollte dieses alte Bild bedeuten?

An Lillis Wohnung angekommen, klingelte Alexis Sturm. Niemand öffnete, doch davon ließ sie sich nicht abhalten. Für Urlaube hatte sie den Schlüssel zur Wohnungstür ihrer Freundin dabei. Zum Glück hatte sie diesen geistesgegenwärtig eingesteckt.
Hastig hetzte sie die Treppe nach oben in den zweiten Stock. In Lillis Wohnung angekommen, rief Alexis nach ihrer Freundin und kurz darauf kam Lilli aus ihrem Schlafzimmer. Völlig verschlafen grummelte diese: “Was zur Hölle machst du denn um diese Uhrzeit hier? Ist was passiert? Warum hast du nicht angerufen, dass du herkommst?” “Du hast doch mich angerufen und mir wirre Nachrichten geschickt.”, platzte es aus Alexis, bei der die Verärgerung aufgrund dieser Aussage langsam überwog. “Nein, habe ich nicht. Als ich zu Hause angekommen bin, habe ich noch ein Glas Wein getrunken und bin direkt ins Bett.” “Hier!” Alexis hielt Lilli ihr Handy vor das Gesicht und zeigte ihr den gemeinsamen Chat. Lilli schaute Alexis an und sagte dann verwundert “Da steht nix. Also nichts Neues seit unserer Verabredung heute Nachmittag.”
Alexis drehte das Handy zu sich und schaute nach. Tatsächlich war die Konversation von vorhin verschwunden. “Das kann doch nicht möglich sein. Du hast mich zuerst angerufen und gesprochen als wärst du in einem Funkloch. Danach hast du mir geschrieben, dass bei dir alles ok ist, aber wohl bei mir nicht. Zudem hast du noch ein altes Bild von mir und meiner Mutter aus dem Krankenhaus mitgesendet.” “Woher sollte ich denn so ein Bild haben? Wir kennen uns zwar schon lange, aber so lang auch wieder nicht. Lexi, bitte fahr wieder nach Hause, leg dich in dein Bett und versuche, zu schlafen. Deine Nervosität wegen morgen scheint dir fiese Streiche zu spielen.” “Vermutlich hast du Recht.” So ganz wollte Alexis nicht daran glauben. Doch sie konnte jetzt nichts an der Situation ändern. Also setzte sie sich wieder in ihr Auto und fuhr nach Hause.

Dort angekommen, legte sie sich komplett angezogen ins Bett. Sie war viel zu fertig, um sich jetzt noch umzuziehen und abzuschminken. Nur das Handy holte sie nochmal aus der Jackentasche. Erstens, um den Wecker für morgen früh zu stellen und um einen Blick in ihre Nachrichten zu werfen. Die Nachricht plus Bild blieben verschwunden. Es gab auch keine neuen Mitteilungen. Den Wecker hatte sie auf 5.30 Uhr gestellt und es schon fast auf den Nachttisch gelegt, da klingelte es erneut. “Nicht schon wieder.”, dachte Alexis und wollte das Klingeln im ersten Moment ignorieren, doch die Neugier war größer. Diesmal stand kein Name da, nur – Unbekannte Nummer. “Hallo? Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist? Rufen Sie morgen wieder an und zwar zu einer vernünftigen Zeit!”, grummelte sie in das Telefon. Bevor Alexis auflegen konnte, hörte sie die Stimme ihrer Mutter “Komm zur Lessingstraße 12” Völlig geschockt ließ sie das Handy fallen. Ihre Mutter starb vor zwei Jahren bei einem Autounfall. Wie konnte das sein? Wer wollte sie mit den Anrufen und Nachrichten nur so aufregen? Oder hatte sie sich die Stimme nur eingebildet? Schließlich jährte sich der Todestag bald wieder.
Als sie das Handy wieder in die Hand nahm, war die Leitung tot und der Anruf beendet. Sie schaute auf ihren friedlich schlafenden Hund und überlegte, was sie nun machen soll. Schlussendlich nahm sie ihre Handtasche, ging raus und stieg in ihr Auto.

An der Lessingstraße angekommen, sah sie, dass sie an einer alten, schon vor Jahren geschlossenen Feuerwehr stand. “Was soll das nur alles?”, fragte sie sich noch immer und stieg aus.
Auch wenn es in dieser Aprilnacht recht warm war, war Alexis kalt und sie begann zu zittern. Teils aus Angst, teils weil sie furchtbar wütend war. Sie wusste in diesem Moment nicht, wohin mit all ihren Gefühlen. Doch trotz ihrer großen Anspannung, konnte sie nicht einfach wieder nach Hause fahren. Sie wollte wissen, was das alles sollte, wer dafür verantwortlich war und was sie mit all dem zu tun hatte. Alexis schaute sich kurz um und lief auf den Eingang zu. Die Eingangstür ließ sich nicht öffnen. Also ging sie um das Gebäude herum. Zwischendurch schaute sie immer wieder auf ihr Telefon, um sich zu vergewissern, dass sie keinen weiteren Anruf verpasst hatte. Am Hintereingang angekommen, sah sie das dieser einen kleinen Spalt offen stand. Sie griff zur Türklinke um sie weiter zu öffnen. Plötzlich raschelte es hinter ihr. Erschrocken drehte sie sich um und sah, dass es lediglich eine kleine Katze war, die sich im nächsten Gebüsch versteckt hatte. Nun schlug ihr Herz nur noch schneller, doch sie wandte sich wieder der Tür zu, öffnete sie langsam und ging in den dunklen Raum. “Ganz ruhig. Das ist alles nur ein schlechter Scherz. Das ist alles gleich vorbei.”, versuchte Alexis sich selbst zu beruhigen.
Gerade, als sie die Taschenlampe ihres Handys anmachen wollte, um zu sehen, wohin sie treten musste, ging weiter hinten im Raum ein Projektor an. Er zeigte das Bild aus dem Krankenhaus, das sie früher am Abend bereits erhalten hatte. Vorsichtig lief sie darauf zu und schaute sich immer wieder um. Niemanden war zu sehen, sodass sie weiter auf die einzige Lichtquelle im Raum zu lief. Gerade als sie ihn berühren wollte, um zu schauen, ob er noch weitere Bilder zeigen und damit etwas Licht ins Dunkle bringen könnte, hörte sie leise Schritte. So schnell sie sich auch umdrehte, konnte sie nur noch in ein Paar blaue Augen schauen. Dann wurde alles schwarz um sie herum.

“Mein Kopf” war das erste, was Alexis dachte, als sie so langsam zu sich kam. Noch nie hatte sie so starke Schmerzen erlebt. Sie wollte sich an die pochende Stelle an ihrer Stirn fassen, doch konnte sie ihren Arm nicht heben. Nach einem weiteren Versuch, ihn anzuheben musste sie feststellen, dass sie gefesselt war. “Was zur Hölle soll das? Was ist hier los?”, wollte sie rausschreien, in Wirklichkeit krächzte sie nur unverständlich.
“Versuch gar nicht erst, dich zu bewegen oder etwas zu sagen. Beides ist in deiner aktuellen Situation völlig sinnlos. Aber du sollst auch gar nicht reden. Du sollst leiden.”
Alexis versuchte, sich, soweit wie es ihr möglich war, zu drehen, um zu sehen, woher die Stimme kam. Allerdings musste sie feststellen, dass das kaum möglich war. Denn nicht nur ihre Arme waren festgebunden, auch ihre Beine waren fixiert. Vermutlich auf einer Trage oder einem schmalen Bett. Es war furchtbar hart und ungemütlich.
Das kleine Stück, das sie ihren Kopf schließlich drehen konnte, reichte aus um eine Silhouette zu erkennen.
Es war definitiv eine Frau die mit ihr sprach. Doch das Licht das ihr direkt ins Gesicht schien, blendete sie zu stark. Ein Gesicht war so nicht zu erkennen. Panik stieg in Alexis auf und ihr Herz schlug so stark, dass es ihr fast aus der Brust zu springen drohte.
Plötzlich hörte sie ein Feuerzeug und noch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, kam der Schmerz in einer großen Welle auf sie zu. Ihr linker Arm brannte fürchterlich und es tat höllisch weh. Zwischen den abscheulichen Geruch der Zigarette mischte sich der Geruch von verbranntem Fleisch.
Immer wieder wurde ihr die Zigarette auf den Arm gedrückt, angemacht und erneut auf ihrem Arm ausgemacht. Es hörte nicht auf und tat so unfassbar weh. Sie wollte schreien, doch es kam immernoch kein Laut.
“Fühlt sich furchtbar an, oder?”, fragte die gesichtslose Stimme in den Raum. Alexis wusste nicht, was sie denken sollte. In was war sie hineingeraten und warum war sie so dumm gewesen und kam hierher? Vor allem ohne eine Begleitung? “Aber keine Angst, das war erst der Anfang. Wir haben noch die ganze Nacht vor uns.” Alexis konnte regelrecht spüren, wie die Frau bei den Worten lächelte. Sie versuchte zu überlegen, wer sie so hasste. Aber ihr Arm brannte und schmerzte so sehr, dass sie sich kaum konzentrieren konnte.
Bevor sie weiter versuchen konnte, sich an eventuelle Feinde zu erinnern, schlug ihr Jemand ohne Vorwarnung mit der flachen Hand kräftig in ihr Gesicht. So stark, dass ihr Genick knackte und ein stechender Schmerz in den Kopf zog. In dem kurzen Moment danach fragte Alexis sich, wie viel Kraft diese Frau haben musste. Oder hatte sie Komplizen? Doch auch diesen Gedanken konnte sie kaum zu Ende führen. Schon folgte der nächste Schlag. Sie konnte gar nicht zählen, wie oft und unkontrolliert auf sie eingeschlagen wurde. Nachdem das Gesicht bearbeitet war, ging es mit Boxschlägen in den Bauch und die Nieren weiter. Wie ihm Wahn und ohne jegliche menschliche Regung ihres Peinigers wurde Alexis mehr und mehr misshandelt. Da sie immer noch auf der Trage gefesselt war, rutschte diese währenddessen ruckartig hin und her und verschlimmerte die ohnehin schon unerträglichen Schmerzen nur noch weiter.
Bald darauf gab ihr Bewusstsein endlich nach und wieder wurde alles um sie herum schwarz.

In der Ferne hörte Alexis ganz dumpf ihren Wecker. Ihr erster, konfuser Gedanke war “Das war alles nur ein furchtbarer Traum. Das war ein furchtbarer Alptraum und ich bin zu Hause in meinem Bett” Wie immer wollte sie nach ihrem Handy greifen, den extra früh gestellten Wecker ausschalten und aus dem Bett aussteigen. Ihr Vorstellungsgespräch war schließlich bald und sie musste sich fertig machen.
Doch als sie etwas klarer wurde, kam der brennende Schmerz unvermittelt wieder. Alexis musste feststellen, dass es kein Traum war. Das sie nicht in ihrem weichen Bett lag sondern auf einem kalten, harten Steinboden. Immerhin nicht mehr gefesselt auf dieser elendigen Trage.
Die Kühle der Steine tat ihrer Haut und den verbrannten Stellen auf eine merkwürdige Weise gut und sie war fast dankbar dafür. Kaum hatte sie ihre Augen, soweit es die Schwellungen zuließen, geöffnet, ging der Projektor wieder an. Durch das Licht konnte sie ihre Umgebung etwas genauer wahrnehmen und sah, dass sie in einer kleinen, quadratischen Zelle ohne Fenster lag. Vor den Gitterstäben stand der Projektor und dieser warf seine Bilder nun an die Wand direkt hinter ihr. Alexis versuchte sich etwas zu drehen um zu sehen, was er diesmal zeigte.
In einem Schnelldurchlauf wurden alte, vergilbte Zeitungsartikel eingeblendet. Sie konnte kaum etwas erkennen, doch was sie lesen konnte waren die Überschriften.

“Kind (4) in Pflegefamilie misshandelt.”
“Mädchen wurde durch die Polizei aus einem Keller gerettet.”
“Der Dachboden der Angst.”

Die Artikel wiederholten sich nach einer Zeit, doch wechselten sie viel zu schnell, um den genauen Inhalt lesen zu können.
Als könnte sie ihre Gedanken lesen, erklang die fremde Stimme “Keine Sorge, du hast eine Menge Zeit die Artikel zu lesen. Du bleibst ein bisschen hier.” Mit der Kraft die sie gerade noch aufbringen konnte, kamen die ersten, kratzigen Worte: “Was soll das? Wo bin ich? Lass mich gehen. Meine Freunde werden mich vermissen und zur Polizei gehen!” Sie auszusprechen tat höllisch weh.
“Das glaube ich nicht.”
Mit diesen Worten kam die Gestalt näher und zeigte sich zum ersten Mal. Alexis traute ihren geschundenen Augen nicht. Das kann doch nicht möglich sein. Das bilde ich mir gerade alles ein.

Vor den Gittern stand sie selbst.

Die gleichen roten Locken und grünen Augen. Diese Frau hatte sogar die gleichen Sachen an, mit denen sie gestern Nacht ihre Wohnung verlassen hatte.
Die Frau bekam mit, wie geschockt Alexis sie anblickte und lächelte zufrieden. “Nein, du fantasierst nicht. Ich bin du. Besser gesagt, deine verlorene Zwillingsschwester.”
“Das kann nicht sein – ich habe keine Schwester”, flüsterte Alexis verwundert.
“Oh doch. Allerdings wollte unsere geliebte Mutter nur dich und hat mich wie ein ungewolltes Haustier ausgesetzt. Ich wurde wie ein ungeliebtes Geschenk rumgereicht. Wurde ich zu alt, zu launisch oder störte auf eine andere Art und Weise gab man mich zurück ins Waisenhaus.”
Alexis konnte nicht glauben, was sie da gerade hörte. Das kann doch alles nicht wahr sein. Ihr wurde furchtbar kalt und sie begann zu zittern.
“All diese kleinen Misshandlungen und Schmerzen, die du heute Nacht durchmachen musstest, habe ich mein Leben lang immer und immer wieder erlebt. Haufenweise und in fast jeder der beschissenen Familien in denen ich leben “durfte”. Ich hatte kein eigenes Zimmer, Spielzeug oder Freunde die mich aufgefangen haben. Ich musste als Blitzableiter dienen und fast jeder Mann in dieser Zeit hat mich angefasst. Das was du vorhin erlebt hast, war nur ein minimaler Bruchteil von alledem.”
“Aber was habe ich damit zu tun?” fragte Alexis. Zu mehr war sie immer noch nicht im Stande. Dabei lagen ihr so viel Fragen mehr auf den Lippen. Woher sollte sie wissen,dass sie eine Schwester hatte? Ihre Mutter erwähnte nie auch nur im Ansatz etwas davon. Es gab in ihrem ganzen Leben keine Hinweise darauf, dass sie kein Einzelkind gewesen war. Wenn sie so einen Verdacht gehabt hätte, hätte sie doch nach ihr gesucht. Doch all das konnte sie nicht sagen, da ihr Hals immer noch so schmerzte. Alexis schaute ihre Schwester an und versuchte ihre Angst nicht zu zeigen. Doch ihr immer stärker werdendes zittern und ihre glasigen Augen konnte sie nicht verstecken. Sie wollte aufstehen und zeigen, dass ihre Schwester sie nicht klein kriegen würde, doch ihre Schmerzen und Wunden ließen das nicht zu. Nach dem unbeholfenen Versuch, sackte sie wieder zu Boden.
Unbeeindruckt davon begann ihre Schwester weiter zu erzählen:”Das war wohl das Schicksal der Zweitgeborenen. Ich kam nach dir auf diese wundervolle Welt und war der ungewollte Ballast. Ich wollte unsere geliebte Mutter ja gern selbst fragen, warum ich. Doch so ganz konnte ich sie leider nicht verstehen. Der Unfall verlief dummerweise etwas stärker als geplant und unsere Mutter konnte nicht mehr viel sagen, als sie blutend unter mir lag.”
Alexis war geschockt von dem, was sie da gerade gehört hatte. Der Unfall vor zwei Jahren war kein Unfall gewesen. Es war ein hinterhältiger, geplanter Anschlag und ihre Mutter wurde ermordet. Sie konnte all diese Informationen und Gedanken nicht verkraften und die Tränen, die sie die ganze Zeit versucht hatte zurück zu halten, liefen ihr über das geschwollene Gesicht.
“Nicht weinen. Das positive ist – du hast ab jetzt ganz viel Zeit all das zu verarbeiten. Denn ab heute bin ich du. Ich werde dein Leben übernehmen, während du hier bleiben wirst. Sobald ich erfahren hatte, dass ich eine Schwester habe, habe ich dich beobachtet. Habe dich studiert und mich ab und zu schon als du mit deinen Freunden getroffen. Wirklich Niemand hat etwas gemerkt. Für dich wird natürlich gesorgt. Ben wird so alle zwei Tage mal herkommen, dir Essen bringen und was sich um das kümmern was sonst noch so anfällt.”
Eben dieser Ben trat nun aus dem dunklen zu ihrer Schwester und es traf Alexis wie ein Blitz – diese blauen Augen. Es war der Barkeeper. Das waren auch die Augen, die vor dem ersten Schlag in der Halle gesehen hatte. Es gab also doch einen Komplizen.
“Hey Merida, sie haben ihr Handy vergessen!” äffte er sich selbst nach und lachte laut dabei. “Oder auch – Ich habe es geklaut und mit einer Software bespielt um Anrufe und Nachrichten senden und wieder löschen zu können.” Völlig geschockt von all den Informationen die auf sie einprasselten, versuchte Alexis endlich etwas mehr sagen zu können.
“Nein, nein. Bitte nicht. Ich helfe dir bei dem was du brauchst. Aber bitte lass mich nicht hier. Ich kann nichts für dein Leben. Es tut mir leid für dich, aber bitte lass das nicht an mir aus.” war Alexis verzweifelter Appell an ihre Schwester. Sie wusste selbst nicht, ob sie ihre Worte ernst meinte, doch musste sie gerade alles versuchen um aus diesem Loch rauszukommen.
“Süße, glaubst du wirklich ich lass dich nach all dem hier gehen? So wie du aussiehst? Niemals. Endlich bin ich an meinem Ziel angekommen. Du bist hier, hinter Gittern und ich bin frei. Ach ja, versuch übrigens gar nicht erst auszubrechen. Wir haben gut dafür gesorgt, dass dich keiner hören oder finden wird.” Ihre Schwester hörte sich bei diesen Worten so ekelhaft glücklich an. Alexis hätte sich am liebsten direkt übergeben. “Soll ich mein ganzen Leben hier verbringen? Wie hast du dir das denn gedacht?” Verzweifelt versuchte Alexis irgendwie aus dieser Situation zu kommen.
“Wer weiß wie lang das überhaupt noch sein wird. Aber bis dahin, bleibst du hier. Vor Jahren schon wurde das Gelände ein Privatgrundstück. Mein Grundstück. Alles ist so ausgebaut, dass man von außen denkt es zerfällt. Doch im Inneren ist alles so gut gesichert wie in einem Hochsicherheitsgefängnis. Wie ich das alles geschafft habe, erzähle ich dir vielleicht irgendwann mal. Oder auch nicht. Mal sehen.” Bei diesen Worten zwinkerte ihr ihre Schwester zu und drehte sich um. Ben nahm sie in seinen Arm und beide gingen aus dem Licht, das der Projektor noch immer von sich gab.
“Warte! Bitte!” Alexis schrie ihnen mit all ihrer Hilflosigkeit und den Schmerzen hinterher doch sie sahen sich nicht mehr um. Verzweifelt und ohne jegliche Hoffnung, lehnte sich an die Wand und begann zu weinen.
———

“Geht es dir wieder besser? Wie war dein Gespräch heute morgen?” fragte Lilli bei ihrem gemeinsamen Mittagessen. “Ja, es geht mir so viel besser. Die Aufregung war wohl doch zu stark. Entschuldige bitte vielmals, dass sich dich so erschreckt habe. Ich kann es mir selbst nicht erklären. Meine Nerven haben mir wohl einen furchtbaren Streich gespielt.” beruhigte sie Lilli. “Das Gespräch lief super – ich habe den Job und außerdem die Nummer von dem süßen Barkeeper gestern” “Alexis das ist ja traumhaft! Dein Leben möchte ich haben. Besser kann es doch nicht laufen!” freute sich Lilli aufrichtig für ihre beste Freundin.
“Oh ja, da hast du sowas von Recht. Komm lass und noch ein Stück spazieren gehen” Sie zahlten das Essen, standen auf und machten sich auf den Weg.
Knurrend und mit einem großen Abstand lief Odin den beiden Frauen hinterher. “Was hat der kleine Mann denn?” wollte Lilli wissen. “Keine Ahnung, vielleicht nur etwas schlechte Laune, weil er nichts vom Essen abbekommen hat.” Beide lachten ausgelassen und liefen die Straße Richtung Park entlang.

ENDE

Schreibe einen Kommentar