Jessica.DuenkerEin perfektes Mädchen

Als Lana schleppend zu sich kam, konnte sie kaum fassen, wie sehr ihr Körper schmerzte. Sie versuchte, nach Luft zu schnappen, was ihr allerdings nicht so recht gelang. Es fühlte sich an, als würde ihr Brustkorb in einem Schraubstock stecken. Sie atmete angestrengt. Ein ekelhafter Geruch stieg ihr in die Nase und drehte ihr den Magen um. Und dazu diese Geräusche. Diese schrecklichen, widerlichen Geräusche. Gott, woher kamen nur diese Geräusche?!

Endlich strömte genug Adrenalin durch ihren Körper und sie schaffte es, die Augen aufzureißen.

Für einen Moment starrte sie wie hypnotisiert in das Gesicht des Mannes.

Der schreckliche Mann.“

Die Erinnerung kam schlagartig zurück.

An den Mann, der ihr aufgelauert hatte.

Der sie in sein Auto gezerrt und geschlagen hatte.

Der nun auf ihr lag und furchtbar stank.

Der dafür verantwortlich war, dass sie kaum atmen konnte. Und für diese ekelhaften Geräusche.

Lana riss den Kopf zur Seite und unterdrückte den Drang, zu würgen. So gerne sie diesem Monster auch ins Gesicht gekotzt hätte, zu groß war die Gefahr, dass sie eher selbst an ihrem Erbrochenen ersticken würde.

Dem Mann schien es hingegen vollkommen egal zu sein, dass sie aufgewacht war. Weder sein Starren, noch sein Gestöhne hatten sich verändert. Nach einem langgezogenen Grunzen ließ er endlich von ihr ab und stand auf. Bei dem Gedanken, dass er ihr gerade sein Sperma rein gespritzt hatte, musste Lana nun tatsächlich würgen – dem Mann schien auch das gleichgültig zu sein.

Sie wischte sich den Mund ab und schnappte hektisch nach Luft.

Steh auf“, seine Stimme klang hart und blechern und schrecklich.

Sie sah zu ihm hoch, obwohl sie eigentlich nicht hinsehen wollte. Er war groß, sehr groß. Und massig. Kein Wunder, dass sie unter ihm kaum Luft bekommen hatte.

Er zog sich eine Hose an und richtete wieder das Wort an sie, ohne sie anzusehen.

Wenn ich mich wiederholen muss, wird das schmerzhaft für dich.“

Noch schmerzhafter als jetzt schon? Lana konnte sich das kaum vorstellen. Trotzdem gehorchte sie und setzte sich auf, was sie augenblicklich bereute. Ihr ganzer Körper brannte so sehr, dass sie sich am liebsten sofort wieder auf den Rücken fallen gelassen hätte. Ihr Instinkt befahl ihr allerdings, sich weiter aufzurichten.

Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, aber irgendwann stand sie tatsächlich auf zittrigen Beinen. Der Mann hatte sich mittlerweile ganz angezogen und wühlte in einer Ecke des Raums in einer großen Kiste.

Er hat mir den Rücken zugewandt … vielleicht könnte ich …“ – nein, unmöglich. Sie war viel zu schwach und noch dazu unbewaffnet. Er würde sie wegschlagen wie eine lästige Fliege. Nein, sie musste sich etwas anderes einfallen lassen.

Lana sah sich in dem Zimmer um. Es war klein und wirkte extrem schäbig. Neben dem uralten Bettgestell mit der fleckigen Matratze gab es nur ein paar verstaubte Kisten und Schränke. Es wirkte so, als hätte hier ewig niemand mehr gelebt.

Hier lebt auch jetzt niemand … nicht lange zumindest …“, sie verdrängte den Gedanken aus ihrem Kopf und ihr Blick fiel zurück auf den Mann, der sie wieder anstarrte.

Lana zuckte unwillkürlich zusammen. Irgendwie fühlte sie sich ertappt.

Zieh das an“, er drückte ihr etwas in die Hand, das Lana nicht direkt als das Kleid erkennen konnte, das es wohl war. Zumindest irgendwann mal gewesen war … Sie faltete den staubigen Fetzen auseinander und musste fast lachen, als sie ihn in voller Pracht vor sich hatte.

Ist das sein scheiß Ernst?!“

Das Kleid war hellrosa mit einer Menge an weißen Rüschen und hellblauen Schleifen. Es war kurz, hatte lange Puffärmel, einen Bubikragen und war wohl in jedem Zeitalter eine einzige, freche Abscheulichkeit gewesen.

Trotzdem besser als nackt zu sein …“, sie zog das Kleid über und musste husten, als sie das staubige Ungetüm nicht gleich über den Kopf bekam.

Gott, ich nehme alles zurück …“, nein, das war nicht besser, als nackt zu sein. Das Kleid war nicht nur optisch, sondern im Gesamten ein einziges Übel. Der Stoff kratzte schrecklich auf ihrer ohnehin schon gereizten Haut, der Kragen war so eng, dass sie wieder das Gefühl bekam, kaum atmen zu können, und der staubige, modrige Geruch tat sein Übriges.

Ist in dem Fetzen mal jemand gestorben?!“, Lana fuhr es kalt den Rücken herunter. „Du vielleicht bald, du dumme Kuh …“

Sie sah zu dem Mann, der im Gegensatz zu ihr ziemlich zufrieden wirkte.

Gut“, er nickte. „Sehr, sehr gut.“

Lana fragte sich, ob seine Begeisterung etwas Positives oder etwas Negatives für sie bedeutete.

Du siehst darin viel besser aus als die Letzte.“, er verzog ein bisschen das Gesicht. „Du bist ohnehin viel besser als sie. Sie hat nur geschrien. Die ganze Zeit. Von Anfang bis Ende.“

Von Anfang … bis Ende …“, Lana glaubte, schon wieder würgen zu müssen.

Das war vielleicht nervig. Du bist schön still. Das ist gut.“

Lana fragte sich immer noch, ob es gut für sie war, wenn er etwas gut fand. Dann glitt ihr Gedanke zu der Frau, die vorher dieses Kleid getragen hatte. Was hatte er mit ihr getan? Was würde er mit ihr tun? Wie um Himmels Willen war sie hier nur herein geraten?!

Lana hatte doch ein absolut geregeltes Leben. Sie hatte einen festen Job, den sie gerne machte, erfüllende Hobbys und zwar nicht viele, aber dafür enge Freunde. Gut, sie lebte alleine – aber auch das ganz bewusst. Sie war glücklich.

Die Betonung liegt auf ‚war‘…“, schoss es ihr durch den Kopf. Würde sie hier wieder rauskommen? Würde sie jemals wieder glücklich sein?

Natürlich!“, ermahnte sie sich selbst, „du musst nur ruhig bleiben. Wenn du durchdrehst, dann war‘s das.“

Sie atmete tief ein und sah wieder zu dem Mann, der gerade die Türe aufsperrte.

Komm, ich zeige dir deinen Platz.“, irgendwie war sie froh, aus diesem Loch herauszukommen. Dann wieder – welches Loch würde sie wohl nun stattdessen erwarten?

Sie setzte sich langsam in Bewegung, ohne ihn aus den Augen zu lassen. An der Tür angekommen, quetschte sie sich dicht am Rahmen vorbei, um ihn so wenig wie möglich berühren zu müssen.

Plötzlich schnellte er mit einer Hand vor und packte sie hart am Arm.

Pass auf! Mach das Kleid nicht kaputt!“

Entschuldigung“, stammelte sie aus Reflex. Wenn ihm der Fetzen so viel bedeutete, warum hatte er ihn dann nicht mal gewaschen?!

Weil er irre ist.“

Schon gut. Hier ist dein Platz.“

Lana sah sich in dem Raum um. Er war zwar deutlich größer als der, aus dem sie gerade gekommen war, ähnelte diesem ansonsten aber ziemlich: Sie sah ein weiteres altes Bett und viele weitere staubige Schränke, Kommoden und Kisten. Nur eine Sache war anders. Eine groteske Sache.

Lana starrte auf den Berg an Puppen. Große Puppen, kleine Puppen, aber vor allem hässliche, kaputte und alte Puppen. Sie alle schienen Lana aus ihren toten Augen anzustarren.

Da“, der Mann packte sie erneut am Arm und drückte sie ein wenig in die Richtung, die er ihr auch mit dem Finger der anderen Hand anzeigte.

Setz dich da hin, da ist dein Platz.“, wie in Trance ließ Lana sich zwischen zwei lebensgroßen Puppen platzieren.

Was zum …“, sie hatte den Gedanken noch nicht beendet, da klatschte der Mann fröhlich in die Hände.

Perfekt.“, seine ehrliche Freude war beängstigend. „Du bleibst da sitzen. Du verlässt deinen Platz nicht, außer wenn ich dich hole. Sonst bleibst du da sitzen, wie ein braves Mädchen. Mein perfektes Mädchen.“

Mein perfektes Mädchen …“, ihr zog es die Kehle zu. Trotzdem nickte sie. Er nickte auch.

Ich bin bald zurück“, dann war er verschwunden.

Lana sprang auf.

Scheiße … scheiße! Wo bin ich hier nur reingeraten, so eine-“, beinahe hätte sie laut geschrien, als sie plötzlich etwas am Arm packte.

Was passiert hier?!“, Lana sah in das tote Gesicht einer sehr hässlichen Puppe. Ihr wurde schwindelig.

Ich werde verrückt … komplett verrückt …“

Die Puppe riss sie nach unten und legte ihren Zeigefinger auf ihre blutroten Lippen.

SHHH!“, die Puppe konnte sprechen.

Sei endlich still! Hast du nicht gehört, was er gesagt hat?! Er will, dass du still bist und hier sitzen bleibst. Er wird … wütend … wenn du es nicht tust …“, Lana blinzelte ein paar Mal, aber das skurrile Gesicht veränderte sich nicht. Erst, als sie genauer hinsah, realisierte sie schließlich, dass es sich tatsächlich um eine echte Frau handelte. Ihr ganzes Gesicht war durch dicke Narben entstellt. Sie sah aus, als wäre sie auf einem Auge blind und die Perücke, die sie trug, war leicht verrutscht, sodass man eine kahle Stelle sehen konnte. Das extreme Puppen-Make-up tat sein Übriges.

Lana wurde schon wieder schlecht, aber sie riss sich zusammen.

Wer … wer bist du?“, flüsterte sie leise. „Hat er dir das angetan?“

Die Puppe antwortete nicht.

Was hat er mit uns vor?“

Still jetzt!“, zischte sie wieder. „Ich will keinen Ärger bekommen wegen dir!“

Ich will doch nur …“, Lana verstummte abrupt, als sie Schritte hörte. Die Türe ging auf und der Mann kam zurück. Er sah kurz zu ihnen rüber, nahm sich einen alten Mantel aus einem der Schränke und ging wieder. Dieses Mal schloss er ganz offensichtlich die Türe ab. Lana lauschte weiter. Es klang so, als würde er sich entfernen. Irgendwann hörte sie nichts mehr. Sie wartete einen Moment. Und noch einen. Dann sprang sie wieder auf.

Herrgott, was tust du bloß?!“, zischte die Puppe in ihrem Rücken.

Wenn du hier sitzen bleiben und sein scheiß Spiel mitmachen willst – ok! Aber ich nicht!“, Lana lief durch den Raum und sah in die Kisten und Schränke. Irgendwas musste da sein. Irgendwas, das ihr helfen konnte. Sie würde auf keinen Fall zulassen, dass er sie auch so zurichten würde.

Das ist Irrsinn … du musst dich an die Regeln halten, dann wird alles gut“, zischte die Puppe.

GUT?!“, Lana war lauter geworden, als sie gewollt hatte. Sie wand sich hektisch wieder einer Kiste zu und durchwühlte sie.

Nichts … nichts! Nur alter Plunder …“, sie suchte weiter. Irgendwas musste da sein. Irgendwas.

Was hast du denn vor?“, murmelte die Puppe.

Na was schon?! Wenn er wiederkommt, mache ich ihn fertig …“, sie sah zu ihr. „Du solltest mir helfen. Wir sind zwei. Er ist alleine. Er hat doch keine Komplizen oder?“

Nein, aber …“

Gut! Zu zweit schaffen wir das!“

Nein!“

Natürlich!“

Er tötet uns! Er tötet uns wie die anderen!“

Lana sah sie für einen Moment nur schweigend an.

Lieber tot, als das da…“, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie sprach es nicht aus. Stattdessen zwang sie sich zu einem Lächeln.

Unsinn. Wir schaffen das – gemeinsam!“

Hast du ihn dir mal angesehen? Er ist riesig!“

Er ist nicht riesig … er ist groß, aber groß bin ich auch.“

DU?“, die Puppe lachte verächtlich. „Du bist vielleicht 1,75 m, er ist über 2 Meter groß!“

Ich bin 1,76 m. Und er ist nicht über 2 Meter groß… vielleicht knapp 2 Meter.“

Ach, na dann …“

Lana seufzte und kam auf die entstellte Frau zu.

Hör mal. Wir müssen es versuchen. Wenn wir das Überraschungsmoment nutzen, dann…“

Nein!“, die Puppe verschränkte die Arme und schüttelte den Kopf, wodurch ihre Perücke noch etwas mehr verrutschte.

Er … er mag mich. Er ist gut zu mir, meistens … ich darf hin und wieder Zeitung lesen. Manchmal sogar Fernsehen. Du machst nur alles kaputt mit deiner Aufmüpfigkeit.“

Lana seufzte und beugte sich wieder tief über eine der Kisten.

Hör endlich auf!“, hörte sie die Puppe hinter sich motzen.

Du machst alles nur schlimmer!“, die Puppe stand auf.

Lass es, sonst …“, Lanas Finger berührten etwas Spitzes, „…werde ich echt wütend …“, sie zog es heraus und versteckte es in ihrem Ärmel.

Schon gut, beruhig dich!“

Wirst du jetzt gehorchen?“

Ja, ja.“, Lana ließ sich wieder auf ihren Platz fallen.

Gut“, die Puppe schien zufrieden – Lana war es allerdings auch.

Hilf mir eben nicht. Ich komme hier trotzdem raus…“

Es verging eine gefühlte Ewigkeit, in der sie nur still da saßen. Lana wollte die Puppe am liebsten noch einmal fragen, wer sie war, wie lange sie schon hier war und ob sie wusste, warum der Mann sie ausgesucht hatte. Aber sie traute sich nicht.

Irgendwann hörte sie wieder Schritte. Der Mann kam zurück. Lana umfasste die alte, rostige Schere fest unter dem bauschigen Ärmel.

Komm nur her…“, wie auf Kommando drehte sich der Mann zu ihnen. Er sah zuerst zu der anderen Frau, dann fiel sein Blick auf Lana und er kam auf sie zu.

Mein perfektes Mädchen …“, murmelte er. „Du bist so schön …“, er beugte sich zu ihr runter und strich ihr sanft übers Haar.

Jetzt!“, Lana nahm all ihren Mut zusammen, riss die Schere in die Höhe, stach nach ihm und streifte nur seinen Hals.

FUCK, ich hab’s versaut!“, schoss es ihr durch den Kopf. „Jetzt bin ich tot! – Nein, noch nicht!“, das Überraschungsmoment war auf ihrer Seite: Der Mann taumelte erschrocken zurück und fasste sich reflexartig an die Stelle, an der sie ihn leicht verletzt hatte.

Nochmal!“, Lana sprang auf die Beine und schmiss sich so fest sie konnte gegen den Mann, der nach hinten umkippte, wie ein riesiger Baum. Sie setzte sich auf ihm auf und stach wieder auf ihn ein. Dieses Mal traf sie ihn in der Brust. Sie riss die Schere hoch und stach erneut zu.

Hör auf! Hör auf!“, wimmerte der Mann unter ihr. Offenbar hatte sie ihn gut erwischt.

Oh nein!“, Lana sprang auf und trat ihm fest gegen den Kopf. Der Mann verstummte augenblicklich.

Ist er tot …?“ – egal, Hauptsache weg hier!

Komm, wir müssen hier-.“, Lana hatte sich gerade zu der entstellten Frau gedreht, um ihr die Hand zu reichen. Aber die Puppe saß nicht mehr an ihrem Platz. Sie war aufgesprungen und stürzte sich wutentbrannt auf Lana.

Was soll das?!“, nun war es Lana, die zu Boden gerissen wurde.

Du Miststück! Du verdammtes Miststück!“, schrie die Puppe, die wie von Sinnen auf sie einschlug.

Hör auf mit dem Mist!“, Lana bekam sie zu packen und katapultierte sie mit einem festen Schubs von sich runter. Schwer atmend richtete sie sich auf.

Dann bleib doch hier, wenn du unbedingt willst!“, fauchte sie und machte sich auf einen weiteren Angriff gefasst. Aber die Puppe griff nicht an. Sie weinte. Lana betrachtete sie misstrauisch. Erst im zweiten Moment fiel ihr das Foto auf, das neben der Puppe am Boden lag. Es war ein kleiner, ausgeschnittener Zeitungsschnipsel, der ihr wohl aus der Tasche gefallen sein musste, als Lana sie von sich runter geschubst hatte. Obwohl er sehr zerknickt war, erkannte Lana das Foto sofort.

Was soll die Scheiße?!“, sie griff nach dem Ausschnitt. Kein Zweifel. Das war sie. Sie erinnerte sich ganz genau an das Inserat. Es war eine Gratulation zu ihrem 25. Geburtstag vor ein paar Wochen gewesen. Sie hatte sich unglaublich darüber geärgert. Ohne ihr Einverständnis hatte ihre Mutter ein Foto von ihrer Facebookseite genommen und es mit einem schmalzigen Geburtstagsgruß in der Zeitung abbilden lassen.

Alles Gute zum Geburtstag, Lana – mein perfektes Mädchen. Mama ist stolz auf dich!“, hatte daneben gestanden. Mal abgesehen davon, dass sich wohl niemand in seinen Zwanzigern über so eine Peinlichkeit gefreut hätte, war dieser Gruß das Höchstmaß an Heuchelei gewesen. Lana sprach schon seit Jahren nicht mehr mit ihrer Mutter, der es immer nur darum gegangen war, vor anderen die perfekte Illusion zu wahren – wenn es nötig war, mit allen Mitteln. Kein Wunder, dass sie niemandem davon erzählt hatte, dass ihre Tochter schon vor langer Zeit mit ihr gebrochen hatte und durch dieses Inserat auch jetzt noch versuchte, das vermeintliche Familienidyll nach außen am Leben zu erhalten.

Du …“, der Mann hinter ihr ächzte und ließ Lana aufschrecken, „du hast gesagt, ich kann sie behalten!“, jammerte er röchelnd.

Woher sollte ich denn wissen, dass sie so stark ist?!“

Lana sah von ihm zu der Puppe, die ebenfalls heulend am Boden lag.

Du hast es versprochen, Laura!“

Laura?!“

Die Puppe setzte sich langsam und ächzend auf.

Ich hätte es wirklich besser wissen müssen“, mit ihrem einen, echten Auge fixierte sie Lana, „du warst schon immer die Stärkere. Die Schönere, die Klügere, einfach die Bessere. Und ich war dir schon immer egal. Ich hätte es besser wissen müssen …“

Laura …“, in Lanas Kopf drehte sich alles.

Was? Überrascht, wie ich aussehe?! Dabei bist du doch Schuld an allem! DU hast mich zum Sterben zurückgelassen! DU hast mir das angetan, Schwester!“

Lana wurde schlecht. Das konnte nicht wahr sein. Sie fiel auf die Knie.

Du … bist …“, sie kroch näher zu der Puppe und betrachtete sie eindringlich, „oh mein Gott! Du bist es!“, ohne nachzudenken, warf Lana ihre Arme um die Puppe. Nein, sie war keine Puppe. Sie war ihre Schwester. Ihre tote Schwester. Lana konnte ihre Tränen nicht zurückhalten und drückte Laura fest an sich.

Oh Gott, was ist nur mit dir passiert?!“

Was mit mir passiert ist?!“, Laura wirkte ehrlich verwirrt. Dann schlug ihre Verwirrung in Wut um.

Das solltest du doch am besten wissen! Oder erinnerst du dich nicht mehr an den Brand? Den Brand, den du ausgelöst hast, weil du den Herd vergessen hast!”

Es fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube. Natürlich erinnerte Lana sich.

“Wir sind zusammen die Treppe runter gelaufen, aber ich bin gefallen. Und du, du hast mich einfach liegen gelassen! Als ich aufwachte, war ich hier – und das hier! Ein verbranntes, entstelltes Monster! Und in den Fängen eines Irren! Ich dachte, du wärst tot. All die Jahre habe ich geglaubt, du wärst damals im Feuer gestorben. Und dann sehe ich das Foto von dir in der Zeitung! Und diesen Gruß von unserer Mutter! Während ich hier verrotte, habt ihr einfach fröhlich weiter gelebt und wart froh, dass ich euer perfektes Leben nicht mehr ruiniert habe!“

Nein, Laura, bitte …“

Das konnte ich einfach nicht ertragen! Es war endlich Zeit, dass du mal leidest! Ich habe sofort gemerkt, wie angetan er von deinem Foto war. Also habe ich ihm den Deal vorgeschlagen: Dich gegen mich. Ich habe ihm versprochen, dass ich dich dazu bringe, dich an die Regeln zu halten. So wie ich mich all die Jahre an sie gehalten habe. Dann hätte er mich endlich gehenlassen. Und du?! Du kannst sofort entkommen?! Das ist doch einfach nicht fair! Das ist … das ist …“, Laura begann wieder zu weinen.

Laura …“, Lana zog sie fest an sich.

Es tut mir so schrecklich leid. Aber du musst mir glauben, bitte! Ich wollte dir helfen! Mutter hat es mir verboten. Sie hat behauptet, dass du tot wärst. Ich wollte es ihr nicht glauben, ich wollte dich holen, aber sie hat es nicht zugelassen.“, Lana weinte nun ebenfalls, als all die schrecklichen Erinnerungen wieder auf sie einprasselten.

Ich habe immer gewusst, dass du noch nicht tot warst. Aber Mutter hat einfach so getan, als hättest du nie existiert. Sie hat mir verboten, über dich zu sprechen. All die Jahre habe ich mit dieser schrecklichen Schuld gelebt und war zu schwach und zu feige, um mich gegen sie zu wehren. Aber irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten und endlich den Mut gefunden, sie zur Rede zu stellen … sie hat es zugegeben! Sie hat zugegeben, dass du nicht tot warst. Sie hätte nur die schrecklichen Verbrennungen gesehen. ‚Wer will schon ein entstelltes Kind, es war besser so.‘, hat sie gesagt …“, Lana zog ihre Schwester noch näher an sich.

Ich konnte es nicht fassen. Sie hat ihr eigenes Kind zum Sterben zurückgelassen. Sie hat mir meine Schwester genommen … meine geliebte Schwester … Seitdem habe ich nie wieder mit ihr gesprochen. Dieses verdammte Inserat …“

… war nur eine von ihren Aktionen“, murmelte Laura leise. Nur zu gut erinnerte sie sich, wie ihre Mutter damals immer bedacht darauf war, das perfekte Familienleben darzustellen. Sie hatte – als kleines, pummeliges Mädchen – nie mithalten können. Ihre Mutter hatte ihr oft gesagt, wie froh sie war, dass ein paar Jahre nach ihr noch Lana geboren worden war. Sie war schön, groß, talentiert. Die Tochter, die sie sich immer gewünscht hatte.

Dennoch hatte sie ihre Schwester geliebt. Bis zu dem Tag. Dem schrecklichen Tag, der alles verändert hatte.

Wenn ich gewusst hätte, dass du noch lebst… ich hätte alles getan, um dich hier raus zu holen! Bitte glaub mir!“

Ich … glaube dir …“, Laura wurde unter der Schminke noch bleicher, „oh Gott, was habe ich nur getan? Ich habe dich verraten … ich bin Schuld, dass …“, hinter ihnen richtete sich der Mann ächzend wieder auf.

Sieh nur, wie sie mich verletzt hat!“, jammerte er, „du hast versprochen, dass sie sich an die Regeln hält! Dass sie mein perfektes Mädchen sein wird!“, er wurde immer wütender.

Jetzt werde ich euch beide bestrafen!“, der Mann schmiss sich auf Lana, die schreiend unter ihm zusammenbrach. Er richtete sich über ihr auf und legte seine Hände fest um ihren Hals.

Du wirst mein perfektes Mädchen sein!“, schrie er.

Lana wurde schwindelig. Doch gerade, als sie glaubte, das Bewusstsein zu verlieren, stöhnte der Mann über ihr plötzlich laut auf. Seine Augen traten hervor und er ließ endlich von ihr ab. Erst im zweiten Moment bemerkte Lana die Schere, die nun in seinem Hals steckte. Laura schnitt ihm mit einem Ruck die Kehle durch.

Der Mann riss reflexartig eine Hand nach oben, aber noch bevor er die Wunde erreicht hatte, war es vorbei. Er kippte zur Seite und schlug hart auf dem Boden auf.

Was für ein Fleischberg…“, Lana hatte alle Mühe, sich unter der Leiche heraus zu winden. Als sie es geschafft hatte, sah sie zu ihrer Schwester. Laura hatte die Schere fallen gelassen und stand nun schwer atmend vor einer der alten Spiegelkommoden.

Komm“, Lana machte einen Schritt auf sie zu, „lass uns gehen und diesen Albtraum hinter uns lassen.“

Ich weiß nicht“, Laura wandte den Blick von ihrem Spiegelbild ab. „Ich habe Angst, was mich draußen erwartet.“

Lana lächelte leicht.

Du meinst, was uns erwartet.“, sie reichte ihr die Hand und gemeinsam verließen sie die Hütte.

3 thoughts on “Ein perfektes Mädchen

  1. Mir hat die Geschichte ausgesprochen gut gefallen. Tempo und Spannungsaufbau sind gelungen und das Szenario sehr gruselig. Ich hätte mir teilweise noch mehr Hintergrundinformationen gewünscht (zu der Familie, der Mutter und auch zu dem Entführer) und denke, dass man hieraus ein ganzes Buch machen könnte.

  2. Auch deine zweite Geschichte gefällt mir sehr gut, danke für den Link.
    Die Beschreibung der Atmosphäre, das gekonnte Andeuten, ohne die Vergewaltigung zu genau zu beschreiben (da die eigene Fantasie dabei anspringt, macht es das Ganze noch unheimlicher).
    Allerdings wünschte ich mir ebenfalls, mehr über das “Feindbild” Mutter zu erfahren.
    Du hast ihre Grausamkeit und Oberflächlichkeit zwar angedeutet, sie verliert aber aufgrund des Mannes. Er wirkt für mich präsenter und monströser, obwohl die Mutter das wahre Ungeheuer ist.

    Vielen Dank auch für diese Geschichte!

  3. Mir hat die zweite Geschichte auch im Grunde gefallen, aber sie war nicht ganz so spannend wie die andere. Hier wurden die Parameter, mehr oder weniger, vernachlässigt.
    Am Anfang waren einige Wiederholungen, da kam zu oft das Wort Geräusche, das hätte man vielleicht einmal weg lassen können.
    „Sie setzte sich auf ihm auf“, das ist sicher nur ein Flüchtigkeitsfehler und lässt sich schnell korrigieren.

    Außerdem bin ich nicht sicher, ob bei Gedanken auch Anführungszeichen benutzt werden, hier hatte jemand mal geschrieben, dass man das nicht macht.

    Aber das sind ja nur Kleinigkeiten, und tun der Erzählung keinen Abbruch.
    Weiterhin viel Spaß und Erfolg für dich und deine Geschichten.
    Grüße
    Monika (Ende Gut?)

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