CelineEin Racheakt

Ein Racheakt

von Celine-Justine Schillings

Meinen Abend verbringe ich wie jeden anderen auch in den eigenen vier Wänden auf meiner stinkenden U-Couch mit einer vier Wochen alten Jogginghose. Wenn es möglich wäre könnte der Pizzafleck auf meiner Hose reden. Meinen 10 Tage alten Stoppelbart kann ich bald für das schleifen meiner Klingen verwenden. Ich bin etwa 186 cm groß. Eher gemütlich-sportlich gebaut und habe braune fast rötliche Augen.

Ich strecke mich und stelle einen gewissen Grad an Hunger fest. Ich kratze mir an meinen Kopf und überlege was sich noch alles aus dem Inhalt des Kühlschranks machen lässt. Da fällt mir die Pizza vor einigen Tagen im Kühlschrank ein. Schon aufgesprungen bin ich bereits am besagten Kühlschrank und schaue in das Schale Licht. Ich bin schon sehr enttäuscht von mir selbst, dass ich noch Pizza von übrig gelassen habe.

Nicht weiter überlegt ziehe ich mir die Schachtel mit der Salamipizza heraus und greife doch gleich nach dem letzten Schlucken Wein. Nachdem ich es geschafft habe alles so grazil wie möglich auf dem Sofatisch zu verteilen, scheine ich doch erstmal stolz auf mich zu sein. Im nächsten Moment hebe ich die Chips Packung vom Boden auf und lege diese mit zur Pizza und Wein auf dem Tisch und kann mich über mein Resultat sehr freuen. Dazu gesetzt und rein damit.

Während ich mich mit dem Essen beschäftige lasse ich doch gleich den Fernseher laufen. Die Nachrichten sind derzeit auf alle Sender zu finden. Ich beschließe meinen Ton vom Fernseher anzumachen. „Die Toten von heute erinnern doch glatt an dem Fall vor fünf Jahren oder Janette?“  „Die Vermutung liegt nahe Richard…“ Das Bild von dem Fernsehmoderator Richard Stevens schwankt auf die Moderatorin Janette Keilers die sich direkt vor dem Tatort befindet. „…, denn die 5 verstorbenen Frauen  haben die exakt selben Spuren am Körper wie die Opfer vor 5 Jahren. Die Ermittler denken, dass es hier einen Zusammenhang gibt.“ Richard Stevens: „Muss die Bevölkerung nun Angst vor einer weiteren Tat des Unbekannten haben?“ Janette Keilers berichtet: „Laut eines der Ermittler sind sie bereits sehr nahe am Täter und…“ In dem Moment schalte ich den Fernseher aus. Einige Tränen laufen mir über das Gesicht als ich noch das letzte Stück der Pizza reinschiebe.

Ich stehe mit meiner Weinflasche auf und schmeiße die Fernbedingung in die nächstliegende Ecke. Vor meinem kleinen Büro angekommen stürze ich an meinem Schreibtisch und schaue mir erneut die Fakten an.

„Vier Personen wurden gewaltsam umgebracht.“ Bilder von den Opfern liegen quer im Raum verteilt. Eine Karte vom Fund- und Wohnort der Opfer zieren meine Wände. Mit Fäden wo der Täter sein könnte. Mit Fäden zu der Lösung die bis heute nicht gefunden wurde. Ich nehme noch einen letzten Schluck von meinem Rosé – Wein und lege meinen Kopf nieder. Dokumente und Informationen von den Familienangehörigen liegen quer verteilt auf dem Boden. An den Wänden hängt eine Verdächtigten Liste aller Potenziellen Täter dir für die Polizei in Frage kommen würde. Ich schaue mir noch einmal jedes Detail an, was einen größeren Wert für mich haben könnte. Jeden einzelnen Täter der für so eine grausame Tat in Frage kommen könnte.

Ich kann den Druck nicht mehr aushalten und gebe mich den Träumen hin.

In der Schule hatte ich es nie leicht neben meiner jüngeren Schwester. Ich hatte das Problem gehabt, dass ich nie so gut in der Schule war wie sie. Nie so beliebt wie sie. An Geburtstagen gab man sich viel mehr Mühe bei Ihren Geschenken als bei mir. Selbst mein Vater ist hin und weg von Ihr. Es gibt Kinder die dadurch sehr wütend werden würden, wenn der Bruder oder die Schwester mehr Aufmerksamkeit bekommt als man selbst. Solche würden sich ständig streiten oder hassen. Ich nicht. Sie ist in allen so viel besser als ich. Sie wird von allen gemocht. Sie ist nett zu mir. Solange ich nett zu ihr bin gibt es auch keine Probleme mit unseren Eltern. So habe ich Sie nicht angefangen zu hassen. Sondern mich selbst für den fehlenden Mut mich gegen Sie zu stellen.

In der Schule war es immer dasselbe. Einige Kumpels habe ich zwar, doch diese sind nicht echt. Meine Schwester hingegen stand immer in irgendeiner Gruppe. Aber Sie war auch nicht perfekt. Nach meinem Abschluss drängten mich meine Eltern zu einem Vollabitur. Dem bin ich auch nachgegangen. Die Aufmerksamkeitsspanne meiner Eltern hielt sich auch in dieser Zeit immerzu in Grenzen. Im Abitur konnte ich den Druck und die soziale Isolation meiner Mitmenschen nie lange aushalten. Ich griff daher fast regelmäßig zu dem Messer und habe mir die Arme und Beine aufgeschlitzt. Immer mehr Narben zieren meinen Körper. Einige verblassten wieder und andere würden wohl für ein Leben lang bleiben. Eines Tages hat meine Schwester die Klinge in meinem Zimmer unter dem Kissen gefunden. Wieso sie in meinem Zimmer war kann ich bis heute nicht verstehen. Sie schaute mich an und ging schweigend. Seither sprach Sie kaum ein Wort mit mir. Unsere Eltern hatte sie auch manipuliert, sodass diese kaum ein Wort mehr mit mir sprachen. Üblich weniger als sonst. Mir kam es immer so vor, als würde sie meinen Tod herbeisehnen.

Meine Schwester ist kein Engel. Dies bestätigte sich, als eines Ihrer Klassenkameraden die Schule gewechselt hat. Den Grund hatte man uns nie genannt aber dennoch haben unsere Eltern immer wieder gesagt, dass meine kleine unschuldige Schwester nicht der Grund für das Versagen des Klassenkameraden ist.  Meine Eltern haben Sie als Engel bezeichnet. Ein Engel mit Hörnern würde ich Sie nennen.

Wenn Sie wüssten was Sie alles tat um im Rampenlicht zu stehen. Auch mich hatte Sie nach einer gewissen Zeit zu alles zwingen können. Denn die Angst war zu groß, dass sie jemanden über meine Arme und Beine berichten würde. Sich alle von mir Abwenden und ich schlussendlich alleine bin.

Als ich im letzten Jahr meines Abiturs, kurz vor meiner Abschlussprüfung stand, ist es passiert. Meine Schwester und 4 Ihrer besten Freunde wurden Opfer einer Entführung. Es ging auch eine Geldforderung raus die auch fleißig von den Eltern überwiesen wurde. Jedes Mal als die Polizei dachte dem Täter auf der Spur zu sein, war die Enttäuschung immer größer für die sorgenden Eltern. Diese Prozedur ging dann ein ganzes Jahr so.

Meine Eltern haben kaum noch was gegessen. Meine Freunde erkundigten sich immer nach neuen Ergebnissen. Doch ich wusste von nichts. Auch hier ist Sie wieder im Mittelpunkt. Wenn Sie nur wüssten.

Mein Abitur habe ich gerade so hinbekommen. Die ganzen Ablenkungen zum Thema der Entführung haben mich wenig schlafen lassen und kaum Zeit gegeben um zu lernen. Meine Zukunft, so würde ich es bezeichnen ist für mich dahin. Hier fing ich an Sie zu hassen. Wie krank ist es die entführte Schwester, die für die ganzen Probleme von einem verantwortlich ist zu hassen?

In den Nachrichten wurde berichtet, dass:

Die vier besten Freunde meiner Schwester  in einem abgelegenen Wald gefunden wurden. Es wurden mehrere Brüche und Schnitte an Ihnen festgestellt. Die Haare abrasiert und am Unterleib sind Sie alle verstümmelt. Laut dem Polizisten konnte man sich das Debakel nicht ansehen. Vier von Fünf Frauen hat man gefunden. Kaputt und von Hass zerfetzt. Dem Polizisten sah man an, dass er bei den Bildern am liebsten Kotzen würde. Ich blieb kalt. Wieso sollte ich trauern oder weinen?  Die Leiche oder Überbleibseln vom Körper meiner Schwester konnten bis heute nicht gefunden werden.

Meine Eltern haben sich seit je her an diesem Tag kaum mehr in die Augen schauen können. Sie haben sich einander die Schuld gegeben. Ein Glück nicht mir. Ich habe doch keine Schuld, oder?

Ich wache am nächsten Morgen in meinem eigenen Speichel auf. Die Papiere in meinem Zimmer sind überall verteilt. Als hätte ich diese letzte Nacht auf den Boden gelegt. Noch einmal sorgfältig durchgeschaut und die Geschehnisse der letzten Nacht Revue passieren lassen.

Der Tag vor Zehn Tagen fing eigentlich ganz gemütlich an. Ich bin morgens um Fünf Uhr aufgestanden und habe mich erst mal geduscht. Mich frisiert, Zähne geputzt und mir sogar frische Sachen angezogen. In der Küche habe ich mir mein Frühstück aus dem Kühlschrank geholt und in meinem Rucksack gepackt. Es ist der Zehnte Tag vor dem was ich wissen werde.

Auf dem Weg zur Arbeit meine ich einen Schatten zu bemerken. Ich fühle mich verfolgt und linse ständig hinter mich auf der Suche etwas sehen zu müssen. Kurz vor meiner Arbeitsstelle verschwindet der Schatten. Einen Moment lang bleibe ich an der Kreuzung stehen und schaue mich hier noch einmal um. Noch immer scheine ich nichts erkennen zu können. Mit einem seltsamen Gefühl gehe ich über die Straße und öffne schon gleich die Tür zum Haus.

Ein leichtes Lächeln liegt auf meinen Lippen, als ich den Gang zu meinem Schreibtisch wage. Die Kollegen schauen mich noch immer trauernd an. Als hätte ich meine Familie erst gestern verloren. Wiederwillig lächle ich breiter und frage einige Kollegen nach Ihrem Wochenende und Ihren Kindern. Man gibt mir wiederwillig ein paar mitleidende Antworten. Einige Atmen sogar auf, als ich diese nicht mehr mit Fragen durchlöchere. Man möchte mich einfach nicht hier haben. Genauso wie ich nicht hier sein will. Doch mein Vater fasste sich vor einiger Zeit ein Herz und sprach mit mir. Er sagte er möchte mich gerne Unterstützen wenn ich zur Polizei gehe und versuchen würde seine Tochter, mein Schwerster zu finden.

Ich habe fast einen Monat überlegt und die guten und schlechten Seiten gewichtet, bis ich meinem Vater sagte, dass ich es machen würde. Kaum einen Tag danach habe ich bei der Polizei als Ermittler angefangen. Seit her habe ich schon erfolgreich einige Fälle bearbeiten können. Ich habe mir einen Namen gemacht. Meinen eigenen. Mein Vater hingegen, verlangte nach einer Neuuntersuchung der Fälle von den verschwundenen und getöteten Freundinnen meiner Schwester. Er ist mit meinen Leistungen nicht zufrieden und wirkt immer wieder auf mich ein, dass ich doch bitte den Fall meiner Schwester bearbeiten soll und nicht die wichtigen und aktuellen Fälle. Mein Vater hat einen guten Draht mit meinem Boss und hat auf Ihn eingeredet, dass es doch möglich sein solle mich, seinen Sohn, die Fälle neu aufrollen zu lassen.

Mein Boss knickte bei seinem Flehen und Tränen ein. Ein paar Tage später hatte ich auch schon die Unterlagen und Berechtigungen auf dem Tisch liegen. Die Worte von meinem Chef waren eindeutig „Erledige das schnell!“

Als ich auch nun Schlussendlich am Platz mit den unzähligen Ordnern angekommen bin grüßt mich auch schon mein Azubi mit den Worten: „Heute ist es mehr geworden.“ Ich nicke Ihm nur zustimmend zu und setze mich auf meinen Bürostuhl.

Mit einer ruhigen und sorgfältigen Bewegung schaue ich mir noch einmal die vorhandenen Dokumente der letzten Jahre an. Hinweise und Belege für angebliche Täter. Die Täter die hier aufgelistet sind, sind fast nur Männer. Ich erinnere mich an den Gerichtsmediziner der die Autopsien der Leichen durchgeführt hatte. „Es war ein Hasserfüllter Mensch. Jemand der gezielt wollte, dass die Frauen leiden. Während der ganzen Prozedur mussten Sie wohl wach gewesen sein. Der Täter wollte die Frauen bluten sehen. Ein gewaltsames und verstörendes Unterfangen.“ „Wer könnte dazu in der Lage gewesen sein? Fünf Frauen von der Bildoberfläche verschwinden zu lassen. Sie verstümmeln und leise in ein Stück Wald auszusetzen.“ „Absolut jeder der die Frauen mit Leidenschaft Hassen muss.“ Nach diesem Gespräch ging ich auch erst mal in die nächste Bar und betrank mein Gehirn auf Löschen.

Ich überlege am Schreibtisch, was für Feinde die Fünf haben könnten. Da kommt mir auch nur eine Person in dem Sinn. Doch wie hätte man das alles bewerkstelligen können?

„Ich werde mich noch dafür Rächen!“ höre ich in meinem Kopf. Schnell versuche ich den Gedanken zu verdrängen, dass ich Schuld an dem ganzen bin. Die Polizei fragte mich einst, ob ich wen wüsste der Rachegedanken gegen die entführten Frauen hegt. Ich verneinte es. Doch ich wusste es besser. Mir wird schlecht. Dies scheint der Azubi wohl zu bemerken und gibt mir das Signal für eine Übernahme meiner Arbeit. Ich nickte Ihm zu und gehe vor die Tür. Ziehe mir meine Zigarettenschachtel aus der Tasche und zünde gleich so eine Zigarette an. Ein langer Zug entweicht meinen Lungen, als ich in den Himmel schaue. Ich überlege, wie es der Person geht. Ob es gut tut zu wissen, was man mir hier auf gebürgt hat. Wenn es rauskommt brauche ich nie wieder versuchen eine Arbeit nach zu gehen. Denn dann würde mich mein Vater wohl oder übel umbringen.

In Gedanken versunken habe ich auch schon eine zweite Zigarette aufgeraucht. Ich entschließe mich das Büro von neu zu betreten um mir die Dokumente noch ein Fünftes mal anzuschauen. „Ein Paket für Sie.“, raunt mir mein Azubi vom Tisch. „Es kam gerade vom Postboten. Steht nicht drauf von wem das Paket ist.“ Ich ziehe genervt meine Augenbraue hoch. Der Azubi dreht sich von mir weg und flüstert ein leises „Sorry.“ Kopfschüttelnd hebe ich das Paket hoch. Mein Ohr horchend auf dem Paket mit der Frage was wohl drin sein könnte. Mit meinem Buttermesser mache ich mich auch schon an der Verpackung zu schaffen. Mit einigen kleinen handlichen Schwierigkeiten habe ich es doch noch geschafft das Paket zu öffnen, ohne den Inhalt zu beschädigen. Mein Azubi linst über seinen Bildschirm auf das nun geöffnete Geheimnis. Was wir beide nun sehen ist ein Handy. Ein einfaches Handy. Nichts Teures oder Spektakuläres. Ich höre die Enttäuschung meines Azubis als er merklich tief ausatmet und sich die Nase rümpft. Ich hole das Handy aus seinem Schutz und halte es nun mehr unspektakulär in meinen Händen.

Unter dem Handy, auf dem Grund der Verpackung scheint ein kleiner Zettel beigelegt zu sein.  Mit meiner rechten Hand hole ich den Beipackzettel hervor und begutachte diesen genauer. 0303. Nichts mehr außer 0303. Dies muss wohl der PIN für dieses Handy sein. Ich mache den Bildschirm an und gebe auch gleich den Code ein. Nichts Weiteres passiert außer dem Aufleuchten des Handys. Etwas verwirrt schaue ich auf dem Display. Eine Notiz wurde auf der Startseite des Handys hinterlegt.

„Ein Bild sagt doch mehr als tausend Worte. Nicht wahr?“ Ich lese mir die Notiz immer und immer wieder durch. Was für ein Bild könnte tausend Worte beschreiben? Ich öffne die Bildergalerie. Schnappatmend sehe ich mich diskutierend mit meinen vermeintlichen Täterverdacht. Man sieht unsere Gesichtszüge sehr deutlich. Bilder die aus nächster Nähe geschossen wurden. Bilder die eine Geschichte erzählen. Eine Geschichte die tausend Worte beinhaltet.

Bilder von einem Tatverdacht. Bilder von meiner Schwester. Bilder von dem Täter?

„Hey was schaust du so? Wenn es Nacktbilder sind kannst du Sie mir auch ruhig zeigen.“, zwinkert der Azubi mir zu. Wenn ich Ihm zeigen würde, dass hier auch Bilder von den Frauen drauf sind. Den Frauen die vor einigen Jahren in den Wäldern ausgesetzt wurden. Von den Frauen mit Ihren blutigen entstellten Körpern. Dann würde er sich selbst in die Psychiatrie einweisen.

Ich entschließe mich zu lächeln. „Das was hier drauf ist. Damit könntest du nicht umgehen.“ Er fängt an zu lachen. Ich belächle Ihn einfach nur, um nicht auffällig zu wirken.

Wenn das Handy in den falschen Händen gerät dann ist es erst mal aus mit mir. Dann muss ich Fragen beantworten die ich besser für mich behalten möchte. Ich gebe dem Chef Bescheid, dass ich einige Nachforschungen machen möchte. Er gibt mir die Erlaubnis und schon habe ich alle Dokumente eingepackt und renne  nachhause.

Dort angekommen sichte ich mir noch einmal die Bilder auf dem Handy. Ich vergleiche diese mit den mir vorhandenen Unterlagen aus dem Büro. „Etwas stimmt hier nicht.“

Nach zwei Tagen im dunklen und stickigen Büro beschließe ich mich zu duschen. Ein kleiner Blick in meine Küche reicht aus mich zum Einkaufen zu drängen. Ich lasse das ominöse Handy sicherheitshalber in meiner Jackentasche. Verfrachte mein Portmonee in die Innentasche meiner Jacke und mein eigenes Handy in die Jeans. Mit dem Schlüssel und einer Einkaufstasche in den Händen mache ich mich so gleich auf etwas zum Mittag zu holen.

In den letzten zwei Tagen beim Abgleichen der Dokumente mit dem Handy ist mir aufgefallen, dass vieles nicht der Einigkeit beruht. Die Bilder die vom Fundort gemacht wurden stimmen nicht mit dem auf dem Handy überein. Diese wurden vor der Polizei gemacht. In verschiedenen Positionen und Handlungen. Wie krank muss es sein davon noch Fotos zu machen und es dem Bruder zu schicken? Warum machst du das? In Gedanken versunken scheint mich eine Frau lange zu beobachten. Ich schaue Sie Intensiv an. Genauso wie Sie mich. Ihre langen schwarzen Haare wehen im Wind. Ihre grünen Augen  glitzern immer noch so wie am ersten Tag unserer Begegnung. Vor einigen Jahren war Sie so zierlich. Jetzt würde man Sie wie ein Model behandeln. Eine tadellose Schönheit. Sie schaut mich verwirrt an. „Kennen wir uns?“ Ihr Blick wandert meinen Körper hoch und runter. „Mhhhm, besser nicht.“, lacht Sie und schubst mich praktisch mit Ihrer Schulter zu Seite. Ich muss Ihr nachschauen.

Entsetzt und voller Panik stelle ich mir nur die Frage. Wo kommt Sie her? Mein Blick gleitet von der schwarzen Schönheit zur Ampel an der ich gerade stehe. Doch die Neugier übersteigt und ich drehe mich wieder zu Ihr um. Sie ist weg. Wie vom Erdboden verschluckt.

Ich tue dem ganzen als Zufall ab und gehe gleich meiner Pflicht, dem einkaufen nach.

Nach einer gefühlten Stunde bin ich auch wieder in meiner Wohnung. Lege die Einkäufe ab und ziehe mich so langsam aus. Dabei entdecke ich, dass der Reisverschluss meiner Jacke offen ist. Das Handy ist weg. Mein Herz scheint für eine Sekunde auszusetzen und in Panik zu verfallen. Hat Sie das Handy genommen? Keine Zeit zu überlegen. Denn mein eigenes Handy klingelt in meiner Hosentasche. Ich ziehe es heraus und erkenne die Nummer. „Wie weit sind Sie mit den Nachforschungen?“ Ich gebe Ihm kleinlaut wieder, dass sich einige Ungereimtheiten entwickelt haben und ich diese gerne nachkommen würde. Er stimmt mir zu und legt mir Nahe diesem Fall schnell zu lösen und legt auf.

Entnervt schaue ich auf das Handy. Da kann ich wohl oder übel nichts gegen machen. Mein einziger Hoffnungsschimmer ist, dass das Handy bis auf weiteres nicht in die falschen Hände gerät. Weitere zwei Tage sind vergangen.

Einige Kontakte sogenannte Freunde von meiner Schwester habe ich mir geben lassen. Die Frauen die wohl mehr wissen müssten als sie den Polizisten gesagt haben.

Haus Nummer 1. Die erste Freundin mit der ich spreche ist in eine glückliche Frau die erst vor kurzem geheiratet hat. Sie hat bereits ein Kind und plant weitere. Sie spricht mich mit Sorgfalt an. Sie drückt mir Ihr Mitleid aus. Dass meine Schwester nicht gefunden wurde kann Sie nicht verstehen. Auf meine Frage, ob Sie wüsste wer denn eine Art Hass gegen Sie hegt wurde Die Frau von Haus Nummer 1 stutzig. Ihr Gesicht verfinstert sich. „Genug.“ und schlägt mir gleich die Haustüre zu.

Haus Nummer 2. Die zweite Freundin scheint mit den Nerven durch zu sein. Sie erzählt mir von den Leiden den Ihr meine Schwester zugefügt haben soll. Auf meine Nachfrage reagierte Sie nicht. Sie erzählt von den Prüfungen die man ablegen musste, um ein Teil der Clique zu werden. Als Sie immer weiter in Ihre eigene Welt entschwindet beschließe ich zu gehen.

Haus Nummer 3. Die dritte Freundin ist sauer. Sauer, dass ich so ungehobelt auftauche und nach der Beziehung zwischen Ihr und meiner Schwester Frage.  „Deine Schwester ist ein mieses Stück Scheiße. Sie hat es nicht anders verdient, als zu verschwinden. Sie ist schuld, dass wir alle Leiden! Nur Sie ist für die Scheiße die uns allen passiert verantwortlich.“, schreit Sie mir fast hysterisch ins Gesicht. „Du musst es schließlich wissen. Wolltest du nicht Reisen? Was erleben? Sieh dich an. Nun zwingt Sie dich Ihren Fall aufzuklären.“ Todesblicke entweichen Ihrem Gesicht. Sie packt mich am Arm und zerrt mich aus Ihrem Haus mit den Worten „Komm nie wieder!“

Haus Nummer 4. Die vierte Freundin ist freundlich. Freundlich zu mir und meinen Fragen. „Deine Schwester war ein Dämon. Sie schien immer so freundlich und hilfsbereit zu sein. Doch zwang Sie uns bei Ihren perversen Plänen mitzumachen. Wir sollten mit entscheiden wer zu uns gehört und wer eliminiert werden musste. Sie hatte uns alle in der Hand gehabt. Das musst du doch am besten wissen. Du bist schließlich dem ganzen auch ausgesetzt gewesen.“ Ich nicke Ihr immer zu. Doch kann ich keine Fragen und Antworten stellen. Ich bin viel mehr in meinen Gedanken versunken. „Danke.“, gebe ich als Verabschiedung der freundlichen vierten. „Denk an die, die wegen Ihr am meisten gelitten haben. Ihre Opfer… mehr kann ich nicht sagen!“

Haus Nummer 5. Die fünfte Freundin ist nicht aufzufinden. Das Haus ist dunkel und leer. Als würde hier keiner Wohnen. Wie vom Erdboden verschluckt. Nicht zu finden oder Sie möchte nicht gefunden werden. Keiner der Nachbarn noch die Kollegen können Auskunft geben wo sie hin ist.

In den weiteren zwei Tagen bin ich mit der Auswertung der Befragungen dran. Meine Schwester ist ein Biest. Vor Ihrem verschwinden und auch danach. Sie hatte alle im Griff gehabt und Sie entsprechend zu Taten zwingen können, die keiner wollte. Weitreichende Folgen für Körper und deren Psyche. Schweigende Frauen, die Angst haben, dass ihr Geheimnis doch noch ans Licht kommt. Auch mich hat meine Schwester  bis heute in Ihrem Bann. Geheimnisse öffnen doch Türen wenn man etwas aus Ihnen macht. Wir alle hätten einen Motiv Rache an Ihr auszuüben. Alle.

Ein Anruf reißt mich aus meiner Analyse. „Bitte gehen Sie zur Freiheitsstraße. Sie werden erwartet!“ Schon aufgelegt.

Ich packe meine Analyse auf einen weiteren Stapel Dokumente und schleiche zur Freiheitsstraße. Ein Polizist winkt mir zu und hält sogleich ein Absperrband für mich bereit. Unter dem Sperrband durchgeschlüpft informiert mich ein weiterer Polizist über den Grund für mein erscheinen. Eine Frau ist vom Hochhaus gesprungen. Es gibt keine Zeugen oder Bilder von der Frau die das Gebäude betreten hat. Sie ist einfach so gesprungen. „Was hat dieser Fall mit mir zu tun?“ Der Polizist reicht mir ein Dokument auf dem der Lebenslauf der Frau niedergeschrieben wurde. Die alte Lehrerin meiner Schwester liegt hier auf den Boden.

Ich bin erst mal baff von den Ergebnissen die in den wenigen Tagen der Ermittlung erzielt habe. Ich gebe dem Polizisten zu bestätigen, dass ich den Fall übernehme und er abtreten kann. Die Kollegen aus der Gerichtsmedizin sagen mir, dass die Lehrerin aus freien Stücken gesprungen ist. Keine Spuren von Rauschgiften in Ihrem Körper. Keine Körperlichen Spuren. Nichts. Diese Lehrerin ist vom Haus gesprungen, kurz nachdem ich Schülerinnen aus Ihrer Klasse befragt habe.

Es könnte doch sein, dass meine Schwester noch lebt. Sie alle Mundtot machen möchte bevor Sie sich wieder auf der Leinwand blicken lässt. Gedanken die man nicht im Büro haben sollte. Die nächsten Tage muss ich mich mit Dokumenten beschäftigen die, die weitere Bearbeitung meines Falls in Hintergrund stellt. Eine lästige Arbeit wenn man doch kurz vor der Lösung steht oder?

Es braucht weitere Tage bis ich die Dokumente geschrieben, gestempelt und zur Kontrolle abgegeben habe. Es ist spät in der Nacht. Ein Kollege wartet auf mich, als ich die letzten Dokumente in meinen Rucksack verstaue und den Rechner ausschalte. „Sind Sie fertig?“ Ich nicke und folge Ihm aus dem Büro. Er versperrt gleich die Tür, gibt mir ein kurzes Lächeln und verschwindet in der Nacht.

Ich hole mir aus meiner Jackentasche eine weitere Zigarette und zünde mir diese an. Mit schleifenden Schritten bewege ich mich in Richtung der Heimat. Ich überquere die Kreuzung und meine die schwarzhaarige Schönheit zu erkennen. Sie scheint auf mich zu warten. Als ich nun neben Ihr stehe scheint mir etwas schwindelig zu werden. „Es scheint zu wirken kleiner Bruder.“ „Wa…as?“, gebe ich stammeln wieder, als die Welt um mich herum in einer schwarzen Pracht scheint.

Ich komme wieder zu mir. Gefesselt mit Handschellen an einem Metallischen Stuhl. Mein Kopf pocht so sehr, dass meine Augen die Gestalt vor mir nicht erkennen kann. „Komm schon werde wach. Bist doch ein guter kleiner Bruder!“ Ein paar Mal Blinzeln reicht schon aus die Frau, die schwarzhaarige Frau mit den grünen Augen vor mir zu erkennen. „Wieso?“ „Wieso was? Wieso du gefesselt bist? Wieso du Schmerzen hast? Wieso nur? Diesen Satz habe ich mich jeden Tag gefragt, als Ihr mich verschleppt habt.“ Mein Entsetztes Gesicht scheint Sie sehr zu amüsieren. „Wovon redest du?“ Das Gesicht der Schönheit verfinstert sich. Ein lautes knallen hallt durch den Raum, als sie mich mit Ihrer blanken Hand durchs Gesicht wischt. „WOVON ICH REDE? Ich rede von euren Irrsinnigen hinterhältigen Spiele die Ihr mich habt durchleiden lassen. Ich rede von der Gewalt und dem Brechen meiner Seele! Ich rede von…“ „Wer bist du?“ Schon habe ich die Faust im Gesicht. Meine Nase fängt an zu tropfen. Kleine Bluttropfen machen sich auf dem Boden unter mir breit.

„Du würdest doch nur allzu gerne wissen wer ich bin oder? Vielleicht bin ich deine Cousine? Deine Tante? Der Schatten deiner Schwester?“, schreit Sie in mein Ohr. „Mit der Frage wer bist du…“, stammele ich vor mich hin, „will ich doch viel mehr wissen was oder wer warst du vorher.“ Ihre Augen weiten sich. Ein Lächeln entweicht Ihr. „Du erinnerst dich!“ Sie wendet mir den Rücken zu, um etwas aus Ihrer Tasche zu holen. Es bleibt genug Zeit mir die Halle genauer anzuschauen in der ich am Stuhl gefesselt bin. Eine ziemlich große Lagerhalle mit einigen Kisten und Haken die an der Decke befestigt sind. Eine große Halle in deren Dach einige Löcher tanzen. Etwas Licht füllt sich im Raum. Das Licht verweist auf eine Stählerne Tür am Ende der Halle. Wenn ich es hinbekomme mich von den Fesseln hier zu lösen, dann kann ich die Polizei alarmieren und … „Kannst du dich an die Erinnern?“ Sie verweist auf ein Bild in Ihren Händen.

Das sind doch…  die besten Freundinnen von meiner Schwester. Alle Vier sind auf dem Bild an dem Stuhl drapiert. Zwei sitzen vorne. Meine Schwester auf Lücke in der zweiten Reihe. Die anderen Beiden wie die Ersten hinter meiner Schwester in der dritten Reihe. „Was hast du gemacht?“ „Ich hatte viel Zeit und viel Lust den Damen hier meinen Stempel aufzudrücken.“ Weiter kann ich Sie nur ungläubig anschauen. „Aber wie…?“ „Wie ich es geschafft habe die Fünf von der Bildoberfläche verschwinden zu lassen? Ganz einfach! Ich sage es dir nicht.“ „Hast du Ihnen die Narben am Körper…“ „Ja das war ich auch. Du hattest mich ja in eine schöne Falle gelockt gehabt…“ „Du bist freiwillig mitgekommen. Trotz meiner Warnungen“, schreie ich. „Willst du nicht wissen wie du in diese Lagerhalle gekommen bist?“ „Doch will ich…“, knirscht es aus meinen Zähnen. „Die Zigaretten die du vor meinem Treffen an der Kreuzung geraucht hattest, enthielten eine Art Nervengift. Ein Gift, welches dich erst mal für einige Stunden flach legt. Interessant oder? Du…“ „Du miese kleine…“, schreie ich. „Hätte ich es nicht gemacht, dann wäre der Rest meines Lebens vorbei gewesen.“ „Ohhh, dein armes Leben? Dein Leben ist doch für die Tonne findest du nicht? Du hast mir vorgespielt, dass ich mehr aus meinem Leben machen kann. Du hast mir erzählt wie toll es ist mit mir zusammen zu sein. Mich nicht für meiner selbst schämen soll. Du hast gesagt die Mädels würden mich akzeptieren, egal was kommt. Komisch, dass jeder Angst vor Ihr hatte. Was ist denn super daran, wenn deine ach so tolle Schwester ihre Freundinnen zwingt sich Tattoos stechen zu lassen? Sie zwingt viel Geld für modische und teure Kleidung auszugeben. Geld was sie nicht haben. Sie zwang alle aus Ihrer Clique dazu die eigenen Klassenkameraden bloßzustellen. Oh nein! Ihr habt euch mit der Falschen angelegt!“ Während ich Ihr so zuhöre fällt mir auf, dass die schwarzen Haare nicht echt sind. Ihre Schminke ist nicht echt. Ihr Aussehen ist eine Lüge. Wieso habe ich ein ganz anderes Bild vor mir?

 „Es muss euch doch sicherlich Spaß gemacht haben mir die Haare abzurasieren. Mir die Kleider von Leib zu reißen und mich mit schmutzigen Namen wie: Hure, Nutte, Schlampe und Dreckssau zu beschmieren. Eine Cockslut bin ich!“, lächelt sie schief vor sich hin. „Weißt du eigentlich wer ich bin?“, spuckt und schreit sie mir ins Gesicht. „Du bist die junge Frau die bei einem Blick in den Spiegel nicht erkennen kann wer Sie ist. Du bist die Frau die noch nicht weiß…“ Was weiß ich nicht? Wie man lebt? Jemanden umbringt? Das Handy… na hat es dich auf einige Gedanken gebracht?“ Ich schaue Sie an und erkläre Ihren Gedanken hinter dem Handy: „Du wolltest mit dem Handy bezwecken, dass ich mich erinnere. An meine Mitschuld daran was dir angetan wurde. Du wolltest mir zeigen wozu du Fähig bist.“ „Ding, Ding, Ding! Das mein lieber ist richtig. Aber nur zum Teil. Wie hast du dich gefühlt, als du fast ertappt wurdest. Bei den Gedanken Beweisstücke mit dir zu tragen?“ „Schrecklich.“ „Genauso habe ich mich die letzten verdammten Jahre gefühlt!“, lacht Sie höhnisch und knallt mir noch mal ins Gesicht. „Toll oder?“

„Nein definitiv nicht. Ich habe mich all die Jahre auch schlecht gefühlt! Als du von der Schule gegangen bist hat mir meine Schwester zwar gesagt ich soll nicht nach dir Suchen, doch habe ich es getan. Dich aber nicht gefunden. Unter welchen Pseudonym du auch immer gelebt haben sollst. Es ist gut.“ „Hahaha. Wenn du wüsstest. Du weißt ja nicht alles über mich und was ich hier noch vorhabe oder?“ Knirschend und mit zugekniffenen Augen lasse ich Ihr meine Unwissenheit anmerken. „Wo hast du meine Schwester?“ Sie lächelt und verdreht die Augen. „ Wie kommst du drauf ich hätte deine Schwester noch? Vielleicht habe ich sie zerlegt und den Hunden zum Fressen gegeben? Hahaha. Mein Gott du bist noch immer so blöd wie du aussiehst.“ „Bekomme ich noch irgendeine Antwort?“ „Ohhh die sollst du bekommen. Zuvor frage ich dich folgendes: Hast du jemals einen Willen zum Leben gespürt? Sowas wie „Will ich leben?“ Bestimmt, denn deine Arme und Beine sind der Beweis dafür.“ „Will ich leben.“, sagt sie flüsternd vor sich hin. „Ich bin so wie immer die kleine graue Maus. Habe ein geregeltes Einkommen mit so Aktionen wie dem hier. Einen Dach über den Kopf und doch stelle ich mir die Frage: Habe ich das richtige getan? Seit je her zerreißt mich diese Frage innerlich. Immer und immer wieder. Was hätte ich an diesem Tag anders machen können. Ist meine Entscheidung die ich an einem anderen Tage gemacht habe richtig gewesen? Bis heute frage ich mich, ob meine Handlungen richtig waren und meine Wahl weiße war.“ „Was für eine Wahl hatten die vier jungen Frauen?“ „Die hatten eine Wahl. Die Wahl des gesunden Menschenverstandes. Sie hätten mich auch einfach in Ruhe lassen können! Aber warte ab. Du weißt ja auch nicht alles. Hast du dir die Frage gestellt bin Ich, ich? Oder bin ich Sie? Hat vielleicht jemand anderes den Weg gewählt den ich heute gehe? „Wieso bist du nicht mehr wie dein Bruder?“, „Anna hat aber eine Eins in der Klausur bekommen – und du?“ „Es interessiert mich nicht was du denkst. Mach einfach!“… Fällt die etwas auf? Der letzte Satz ist von deiner Schwester. Bis heute prägen mich diese Sätze jeden Tag. Sei wie Sie, sei bloß nicht du selbst. Sei jemand anderes. Jemand anderes der besser ist als du. Schöner ist und von allen mehr oder weniger geliebt wird.

Wie soll man jemand anderes sein, wenn es nur einen geben kann?“, schaut sie mich fragend an. „Jemand der besser ist als du. Schöner ist und mehr oder weniger perfekt ist. Wie deine Schwester.“

Sie wiederholt nachdenklich den Satz: „Wie soll man jemand anderes sein, wenn es nur einen geben kann.“ Diesen Satz habe ich mich selbst auch schon mal gefragt. Meine Eltern sagten mir auch immer wieder, wieso ich nicht mehr wie meine Schwester sein kann. Sie schaut mich wieder an: „Als Kind habe ich regelmäßig mein Spiegelbild betrachtet. Mir Fragen gestellt auf die ich nie eine Antwort erhalten habe. Ein junges Mädchen mit kurzen Haaren. Ein unscheinbares blasses, dünnes und fragiles Mädchen. Solange ich keinen angeschaut habe tat mir auch keiner weh. Solange ich nichts gesagt habe wurde ich ignoriert. Machte ich jedoch etwas Falsch dann jagten Sie mich auf die Toilette und sperrten mich dort ein. Fügten mir Grundlos fast täglich blaue Flecken zu. Haben mich ausgezogen um zu sehen, ob ich nicht doch ein Junge bin. Die Lehrer fragten die Schläger ganz oft was das soll. Sie sagten so Sachen wie „Wir finden das witzig!“ „Sie hat es nicht anders verdient.“ „Sie ist ein Unfall. Wir wollen Sie nur dahin zurückbringen wo Sie hingehört.“ Dabei lachten die Kinder immer wieder und haben mir unter dem Tisch die ganze Zeit gegen meine Beine getreten. Keiner wollte Ihre Eltern anrufen. Nur meine. Zu meinen Eltern haben die Lehrer immer  gesagt, dass ich in der Klasse für Unruhe sorgen würde. Ich hätte Schuld, dass die Kinder mich ausgrenzen und mich schlagen. Zum Schluss solcher Gespräche kam immer wieder der Satz: „Vielleicht hat Sie es in einer anderen Schule besser.“

Zuhause wurde ich immer wieder ausgeschimpft und „zurecht gewiesen“. Es ist meine Schuld, dass man mich schlägt. Wäre ich wie die anderen. Wie die kluge Anna. Der freche Tom oder der sportliche Justin. Dann wäre alles in Ordnung. Was ich bin und wer ich sein soll habe ich bis jetzt nicht herausgefunden. Kannst du es mir sagen?“

Ich habe ihr zugehört. Zugehört wie schlimm es doch ist mit jemanden verglichen zu werden. Nicht zu wissen, was die eigenen Fähigkeiten doch alles können. „Was hat dir meine Schwester angetan, dass du so viel Hass und Rachegefühle hegst?“ Sie mustert mich mit angezogener Augenbraue. Sie hat sich während dem Gespräch einen kleinen Käfig gesucht auf den Sie sich setzten konnte. Jetzt rückt sie sich merkbar zurecht. Als wolle Sie eine Ansprache halten. „Nachdem du mich in den Glauben gelassen hast, dass die Freudinnen deiner Schwester nett zu mir sind haben sie angefangen. Genau wie du wurde ich auf diesen Stuhl drapiert. Ich wurde bis auf die Unterwäsche ausgezogen. Als aller erstes haben Sie mir die Haare abrasiert. Sie sagten so eine Frisur würde mir nicht stehen und ich solle es doch besser mit einer Perücke versuchen.“ Dabei zieht sie wie von mir vermutet Ihre schwarze Langhaar Perücke vom Kopf. „Als nächstes haben sie mich bekritzelt. Mit vielen bunten Farben. Es war nicht nur Hure, Schlampe oder Cockslut. Missgeburt, Dämon, ungewolltes Opfer, ritzt sich hier mit einem Pfeil auf einige meiner Narben.“ Dabei deutet Sie auf Ihre Arme und ihrer offenen Bluse die ein Teil der Narben auf der Brust zeigt. „Im Laufe des Abends kam noch deine Schwester dazu. Zuvor hat man mich grün und blau geschlagen um mich Ihr vorzuführen. Welche gute Arbeit sie gemacht haben. Entzückt war deine Schwester von den Blutergüssen und den vielen Blutspuren unter mir. Sie begutachtete mich und holte noch einen sechsten dazu.“ Sie hält inne. Als wolle Sie nicht schluchzen oder weinen.

Ich versuche meine Gedanken zu Ordnen. Meine Schwester ist der Horror. Vor Ihren Ableben und danach.

„Sie haben den Typen aus der Parallelklasse mitgebracht, der angeblich schon ein Auge auf mich geworfen hätte. Sie haben mich mit Ihm alleine gelassen… und er hat mich…“, ihre Tränen ergießen sich auf Ihr Gesicht wie ein kleiner Regenschauer. „Es tut mir Leid.“, flüstere ich Ihr zu. „Dann kamen die wieder als er mit mir fertig war. Er ging und Sie blieben. Sie haben Messer aus Ihren Taschen geholt. Meinten es soll mal geschaut werden ob im Inneren alles gut mit mir wäre. Ich habe geschrien. So laut ich konnte. Keiner hat mich gehört.“ Sie hebt Ihre bluse hoch und zeigt mir als Beweis die Narben. „Hätte ich dir nie vertraut dann wäre alles besser gewesen. Hat dir deine Schwester wenigstens mal davon erzählt was Sie mir angetan hat?“ Ich richte meinen Blick zu Boden und erkläre Ihr wie folgt: „Kurz vor Ihrem Verschwinden erzählte Sie mir, dass sie am Abend etwas zu weit gegangen ist.“ „Zu weit?“, fragt Sie mich entsetzt. „Ja zu weit. Dann hat Sie mir erzählt was passiert ist. Ich habe dann aufgehört zu suchen.“  „Wieso hast du aufgehört zu suchen?“ „Ich habe mich so schuldig gefühlt. Ich wollt nicht mit den Gedanken leben dir so etwas angetan zu haben.“

„Achso. Trotzdem ist es passiert.“, ächzt sie. „Was hast du meiner Schwester angetan?“ Sie lächelt breit vor sich hin. „Ich brauchte Geld. Die vier die gefunden wurde habe ich nur einen Teil angetan, was mir angetan wurde. Deine Schwester lebt. Aber wie lange noch?“ Ihr Blick richtet sich an die Decke der Halle. „Was hast du getan?“ „Finde es selbst heraus.“, brummt Sie aus ihrem Bauch. „Die Klassenlehrerin habe ich mit meinen Vorwürfen konfrontiert. Ich habe Ihr gesagt, dass ich Sie verraten werde. Was eine ehrenlose Lehrerin Sie ist. Sie hat weggesehen. Genauso wie du.“ „Was willst du jetzt machen? Mich verschwinden lassen?“ „Oh nein. Ich habe mir gedacht, dass du von nun an mit dem Wissen leben musst.“ Sie steht auf und langt mir mit dem Messer in mein rechtes Bein. Meine Schmerzen kann ich kaum unterdrücken und bekomme nur wenige Worte aus mir heraus. „Ich lasse dich leben. Um die alten Zeiten willen. Du weißt ja ohnehin nicht wie ich in Wirklichkeit heiße oder aussehe.“, flüstert sie mir zu. Sie dreht das Messer einmal im Kreis und lässt mich aufjauchzen. „Hör auf, bitte!“ „Du schaffst es bestimmt deine Schwester zu finden. Denn von heute an mache ich es dir zur Aufgabe mich aufzuhalten… Ich sage dir folgendes: Du wirst mit dieser Schuld leben müssen bis an dein Lebensende. Jeden weiteren den ich umbringen werde oder bereits umgebracht habe wandert auf dein Konto. Du bist SCHULDIG!“ „Was hast du vor?“ „Die Klassenkameradinnen die du vor einigen Tagen befragt hattest sind die nächsten fünf Opfer für die große Schlagzeile in der Zeitung und im Fernsehen.“ „Was?“ „Richtig gehört. Von heute an wirst du in regelmäßigen Abständen leiden! Ich werde dich brechen als Ersatz für deine Schwester.“

Mir kocht es im Inneren. Sie will für das was meine Schwester getan hat, mehrere Klassen umbringen. Sie will Rache an alle die zugesehen haben. Sie wird es machen so oder so. Ich bin derjenige der sie finden und ausschalten muss.

Denn für Sie bin ich nicht viel mehr als ein Racheakt. Ein Ersatz für alles was Sie meiner Schwester antun möchte. Das was Sie allen antun möchte die weggeschaut haben. Sie unterbricht meinen Gedanken mit dem Satz:

„So und für dich war es erstmal alles. Viel Spaß beim Suchen.“, lacht sie höhnisch und pustet mir irgendein Staub ins Gesicht wodurch ich ziemlich schnell Müde werde. Doch gleich wird es auch schon schwarz um mich herum.

Ich werde auf meiner Couch wach. Mein Bein von Blut bedeckt. Mein Schädel brummend von den Ereignissen. Ich bin nutzlos, stelle ich beschämend fest. Ich konnte Sie nicht aufhalten! Genauso wenig wie ich mich selbst schützen konnte.

Ich nehme mir mein Handy in die Hand und stelle fest, dass es doch gleich der nächste Abend ist. Ich richte mich auf und gehe in die Dusche. Es ist wie jeder andere Abend in meinen eigenen vier Wänden auf meiner stinkenden U-Couch. Ich ziehe mir meine vier Wochen alte Jogginghose an und setze mich und lasse alles was passiert ist Revue passieren. Wie stelle ich es an? Wie kann ich eine Frau ohne eine Identität stellen. Noch suchen? Doch im selben Moment grummelt mein Magen und ich denke an die Pizza. Auf der Couch höre ich die Nachrichten und den Bericht von den fünf verstorbenen Frauen. In diesem Moment wird mir klar, dass das kein Traum war. Es ist die Irre Realität. Als mir die Tränen über das Gesicht laufen wird mir klar, dass ich doch Schuld habe. Mit einem letzten schleifen begebe ich mich in mein Büro und schaue mir erneut die Fakten an.

Ich frage mich wer für die grausame Tat in Frage kommen kann und ich habe Sie im selben Moment gefunden.

Als ich am nächsten Morgen aufwache weiß ich was ich zu tun habe. Eine Frau suchen deren Existenz keiner weiß. Eine Frau die nach Rache sinnt. Eine Frau die zu allem bereit ist. Eine Frau die ich hätte retten können.

Ich bin mit den Papieren und den Speichel am Mund wach geworden. Mit den Gedanken eine Lösung zu finden. Vor zehn Tagen wusste ich nicht viel. Heute weiß ich einiges. Ich beginne meinen Tag mit einer Dusche, frischen Klamotten und eine Antwort für alle Probleme.

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