Lynn K.Ein Strauß Ranunkeln

http://Es war Montagmorgen und Janine half gerade einer der von ihr eingeführten Organisationen, die sich für den Klimaschutz in ihrer Stadt einsetzten. Heute suchten sie den ganzen Wohnbezirk nach Müll auf dem Boden ab. Janine war wieder mal schockiert, wie achtlos die Menschen mit ihrer Umwelt umgingen als sie am Boden etwas aufblinken sah. Vorsichtig trat sie näher und erkannte dann, dass es sich um ein Handy handelte. Sie hob es hoch und drehte es in ihren Händen. Sie fragte sich, wem das wohl gehören könnte. Die Menschen warfen ja so allerlei Dinge einfach auf den Boden, aber ein Handy gehörte normalerweise nicht dazu. Janine tippte auf den Homebutton, vielleicht würde ihr das Hintergrundbild Informationen über den Besitzer geben können. Sie sah eine Frau und einen Hund, die auf einer Wiese saßen. Das Bild war mit einem Schwarz-weiß- Filter bearbeitet worden. Janine überlegte, ob sie die Frau kannte, doch nach einigem Überlegen kam sie zu dem Entschluss, dass sie der Frau vielleicht mal in ihrer Kleinstadt begegnet war. Vielleicht beim Einkaufen oder auf einem Fest. Unten auf dem Display stand jetzt: „Zum Entsperren streichen“, was Janine dann auch tat. Kopfschüttelnd stellte sie fest, dass die Besitzerin kein Passwort benutzte und sie jetzt problemlos auf alle ihre Daten zugreifen konnte. Janine öffnete zunächst die Anrufliste, in der Hoffnung, mit einem der Namen etwas anfangen zu können, doch vergebens. Auch sich selbst hatte die Person nur mit „Ich“ abgespeichert. Also öffnete Janine die Galerie. Langsam scrollte sie die Fotos entlang. Es waren Urlaubsfotos, Fotos im Garten oder beim Kochen. Auf manchen konnte Janine auch weitere Personen entdecken. Keine kam ihr irgendwie bekannt vor. Sie schloss dieses Album und öffnete ein neues. Sie sah darauf Babyfotos. Es war ein kleines Mädchen, das fröhlich in die Kamera strahlte. Es hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit ihr früher. Janine lächelte das Foto an. Langsam klickte sie weiter, dann sah sie ein verschwommenes Bild von einer Frau, die durch den Park ging. Janine dachte sich nichts weiter dabei und klickte weiter. Jetzt sah sie ein anderes Bild, auf dem sie selbst deutlich zu erkennen war. „Was ein Zufall“, murmelte Janine halblaut. Doch auch auf dem nächsten Bild erkannte sie sich selbst. Das konnte doch nicht sein. Vielleicht halluzinierte sie ja schon. Sie öffnete die Kamera und drehte sie auf den Selfie-Modus, um zu überprüfen, wie sie selbst aussah. Doch, es war unverkennbar, dass sie die Person auf den Fotos war. Mit klopfendem Herzen sah sie sich die darauffolgenden Fotos an. Jetzt war sie bei einer Klimademonstration in der nächstgelegenen größeren Stadt zu sehen. Ein weiteres Foto zeigte sie beim Einkaufen und das letzte war schließlich bei ihr zu Hause direkt vor der Haustür aufgenommen worden. Diese Person hatte sie also nicht nur fotografiert, sondern auch verfolgt und herausgefunden, wo sie wohnte. Janine lief ein kalter Schauer über den Rücken. Was war hier nur los? Warum machte jemand so etwas? Und vor allem, wer war dieser Jemand? Das, musste sie unbedingt herausfinden. Irgendwo im Handy, musste doch der Name der Person zu finden sein. Eine Stimme unterbrach ihre Gedanken und holte sie in die Realität zurück: „Janine, los machen wir weiter. Du hast ja fast noch gar nichts aufgesammelt. Dabei liegt hier doch jede Menge herum“. Es war Daniel ein alter Freund von ihr, den sie bei einigen Projekten, die sich für den Umweltschutz einsetzten, wiedergetroffen hatte. Es hatte sich herausgestellt, dass er ebenfalls ein ehrgeiziger Klimaaktivist war, und so hatten sie sich zusammengeschlossen. Schnell ließ Janine das Handy in ihrer Jackentasche verschwinden und machte sich weiter an die Arbeit. Als sie abends zu Hause angekommen war, verriegelte sie zu allererst alle Türen und Fenster und zog die Vorhänge vor. Sie fühlte sich beobachtet, seit sie wusste, dass jemand Fotos von ihr auf seinem Handy trug. Diese Vorstellung bereitete Janine Angst und Unbehagen. Sie hatte viele Filme gesehen, in denen Menschen einen Stalker hatten, der sie überall hinbegleitete und dass es nur sehr schwer war, dagegen etwas zu unternehmen. Einmal hatte eine der Figuren, sogar einen unter ihrem Bett liegen. Schnell verbannte Janine diese Vorstellung aus ihrem Kopf. Sie beschloss, dass sie für heute genug gesehen hatte und legte das Handy in eine der Schubladen in ihrem Schrank. Bevor sie sich schlafen legte, schaute sie zur Sicherheit noch einmal unter ihr Bett. Als sie sich vergewissert hatte, dass dort niemand zu sehen war, legte sie sich hinein. Am nächsten Morgen, Janine hatte im Schlaf immer und immer wieder an das Handy gedacht, nahm sie es aus der Schublade. Sie sah sich wieder die Bilder an, auf denen sie zu erkennen war und suchte dann nach etwas, dass ihr mögliche Informationen über einen Namen des Besitzers liefern konnte. Sie durchstöberte das Handy nach Apps, auf denen man sich mit einem Benutzernamen anmelden musste, doch sie konnte nichts finden. Auch von sozialen Medien, wie WhatsApp, Facebook oder Instagram war keine Spur. Was war das für ein Mensch, der kontaktlos auf seinem Handy unterwegs war, aber ein fremdes, siebzehnjähriges Mädchen stalkte? Janine verstand das Ganze nicht. Irgendwie musste die Person sie ja gefunden haben. Wieso hatte sie sich ausgerechnet Janine als Opfer ausgesucht? Was, wenn sie noch ein weiteres Handy hatte? Janine dachte nach. Schließlich erkannte sie etwas, dass ihr vorher nie in den Sinn gekommen war. Was, wenn diese Person extra alle Inhalte von ihrem Handy entfernt hatte, die auf seine Identität hinwiesen? Vielleicht war diese Person gerade absichtlich so vorgegangen, um nicht gefunden zu werden. Wenn Janine mit diesem Gedanken richtig lag, würde sie keine Chance haben, die Person zu enttarnen. Wie sollte sie jemanden um Hilfe bei der Suche nach jemandem bitten, dessen Namen sie nicht einmal kannte? Eines war klar, diese Person war sehr raffiniert vorgegangen, um keinesfalls entdeckt zu werden. Doch warum das Ganze? Nur damit niemand merkte, dass hier Bilder von Janine zu sehen waren? Wäre es nicht sie gewesen, die das Handy zufällig gefunden hatte, dann wäre es sicher niemals jemandem aufgefallen. Wozu also die ganze Mühe, um den eigenen Namen zu verbergen? Janine beschloss nun zuerst zur Arbeit zu gehen und sich später Gedanken darüber zu machen, wie sie weiter vorgehen könnte. Sie machte sich also auf den Weg zur Arbeit, einem kleinen Blumenladen in der Nähe ihrer Wohnung. Janine hatte sich schon immer für Natur und Pflanzen interessiert und in diesem Job ihre Erfüllung gefunden. Im Laufe des Tages hatte Janine das Handy mit den Fotos von ihr fast vergessen und die Ablenkung tat ihr gut. Sie war gerade dabei, einem Mann einen Strauß mit Rosen zu binden und die Dornen zu entfernen, als sie im Augenwinkel jemanden entdeckte. Sie schaute ein zweites Mal in diese Richtung und schnitt sich dabei mit dem Messer in den Finger. Blut tropfte von ihrer Hand, doch sie bemerkte es kaum. Sie war viel zu fixiert auf die Person. Sie sah aus, wie die Frau auf den Fotos auf dem Handy, das Janine gefunden hatte. Sie zögerte keinen Moment und ließ den Strauß mit Rosen sowie das Messer fallen. „Hey, was ist mit meinen Blumen?“, beschwerte sich der Mann als sie, an ihm vorbei, nach draußen rannte. Hektisch sah sie sich um, doch die fremde Frau war verschwunden. Hatte sie sich das nur eingebildet? Sie schüttelte den Kopf und blickte auf ihre Hand, aus der noch immer Blut tropfte. Sie kehrte zurück in den Laden, in dem der Mann noch immer auf seine Rosen wartete. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, tat Janine als sei nichts geschehen und band dem Mann seinen Strauß fertig. Er bezahlte und ging kopfschüttelnd aus dem Laden. Seufzend klebte Janine sich ein Pflaster auf den Finger und hob eine letzte heruntergefallene Rose auf. Den ganzen Tag dachte sie darüber nach, ob sie sich nur eingebildet hatte, dass die Frau auf der anderen Straßenseite gestanden hatte. Sie hatte nicht gewirkt, als würde sie jemanden beobachten, aber wäre sie nicht vorsichtig vorgegangen, hätte Janine ja auch schon früher bemerkt, dass jemand sie fotografierte und verfolgte. Sie war nicht gerade froh, zu wissen, dass diese Frau, wenn sie denn keine Einbildung gewesen war, wohl offensichtlich wusste, wo sie arbeitete. Aber Janine beschloss, dass sie sich zumindest im Blumenladen sicher fühlen konnte. Hier arbeitete sie nie allein und es waren so gut wie immer Kunden oder Mitarbeiter um sie herum. Trotzdem war es ein komisches Gefühl, beobachtet zu werden. Janine machte sich auf den Weg nach Hause. Sie hatte beschlossen, das Handy vorerst nicht mehr zu beachten, bis sie eine Idee hatte, was sie tun könnte und solange so normal wie möglich weiter zu machen. Am nächsten Morgen wurde Janine von einem Klingeln geweckt. Sie tastete nach dem Wecker, der auf ihrem Nachttisch stand, doch das Klingeln hörte nicht auf. Schlaftrunken wühlte sie sich aus dem Bett. Das Klingeln kam geradewegs aus der Schublade, in die sie gestern das Handy gelegt hatte. Sie nahm es heraus und sah auf das Display, dort stand „Unbekannte Nummer“. Mist, was sollte sie jetzt tun? Janine entschied sich in Sekundenschnelle und drückte auf den grünen Hörer. „Hallo?“, meldete sie sich. Ein Knistern war zu hören, dann sagte eine fremde Stimme: „Heute 19 Uhr am Bahnhof“. Janine fragte: „Wer ist denn da?“ Aber der Anrufer hatte bereits aufgelegt. Das war nun wirklich gruselig. Janine fragte sich, für wen dieser Anruf wohl bestimmt gewesen war? Ihr kam ein abwegiger Gedanke. Was, wenn sie das Handy finden sollte? Vielleicht hatte jemand es extra dort hingelegt, damit genau sie es fand. Aber warum? Janine hoffte, dass sie das heute Abend herausfinden würde. Ein bisschen mulmig wurde ihr bei diesem Gedanken jedenfalls. Sie wusste nicht, wer oder was dort auf sie warten würde. Hoffentlich würde sie danach noch beruhigt schlafen können. Nachdem sie den ganzen Tag im Blumenladen gearbeitet hatte und ihr unruhiges Gefühl sie den ganzen Tag nicht verlassen hatte, wollte sie nun endlich mehr herausfinden. Um halb sieben machte sie sich mit dem Fahrrad auf den Weg zum Bahnhof. Dieser war etwas abgelegener und heute Abend würden dort sicher nicht mehr allzu viele Leute mit dem Zug anreisen. Zur Sicherheit hatte Janine ein Küchenmesser eingesteckt, das sie notfalls hoffentlich benutzen könnte. Der Bahnhof war verlassen als sie dort ankam. Weit und breit war niemand hier zu sehen. Janine stieg von ihrem Rad und sah sich um. Alles wirkte normal, die Vögel zwitscherten und die Sonne war gerade dabei, unterzugehen. Vielleicht lag ja doch nur eine Verwechslung vor oder jemand wollte sein Handy zurückhaben. Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr diese Möglichkeit. Natürlich, die Person hatte ihr Handy verloren und rief es jetzt an, damit jemand es ihr zurückbrachte. Janine lachte bei dem Gedanken daran, dass sie geglaubt hatte das sie das Handy hatte finden sollen, leise auf. Jetzt blieb nur noch ein Rätsel zu lösen. Wieso hatte die Person Bilder von ihr auf seinem Handy? Janine hoffte, dass es dafür einen ganz plausiblen Grund gab. Sie ging den Weg an den Gleisen entlang. Sie war schon lang nicht mehr hier gewesen. Seit sie sich entschlossen hatte, ihr altes Leben hinter sich zu lassen und ein besserer Mensch zu werden, wozu jetzt auch das Einsetzen für das Klima zählte, reiste sie nicht mehr. Weder mit dem Zug noch mit dem Flugzeug. Es fühlte sich einfach nicht mehr richtig an. Jeder Mensch hatte zwei Chancen. Und das hier war schon ihre zweite. Janine war tief in Gedanken versunken als ein Zug mit quietschenden Reifen anhielt. Verwundert drehte Janine sich um, heute Abend hätte sie nicht mehr damit gerechnet, dass hier jemand ankam. Es kam auch niemand an, als der Zug weiterfuhr, lag lediglich eine kleine viereckige Schachtel auf dem Boden. Janine ging näher heran. Ob es wohl herausgefallen war? Sie sah dem Zug hinterher, der nun um eine letzte Kurve bog und schließlich ganz verschwunden war. Beim näheren Betrachten, erkannte Janine ein kleines, gut verpacktes Paket. Es wurde plötzlich windig und Janine spürte einen Regentropfen auf ihrer Stirn. Sie beschloss, das Paket mit nach Hause zu nehmen. Sie drehte sich noch ein letztes Mal um, doch hier war eindeutig niemand außer ihr und dem Paket. Janine zog den Reißverschluss ihrer Jacke etwas höher und ging schnellen Schrittes zu ihrem Fahrrad. Als sie davon radelte, trat eine schwarz gekleidete Person aus den Schatten des Bahnhofgebäudes und blickte Janine hinterher. Als Janine zu Hause ankam, regnete es heftig und es waren Blitze am Himmel zu sehen. Nicht gerade Janines Lieblingswetter. Sie zog ihre mittlerweile klitschnasse Jacke aus und machte es sich mit einem heißen Tee auf dem Sofa gemütlich. Vorsichtig betrachtete sie das Paket. Darauf befand sich keine Anschrift und auch kein weiterer Hinweis auf einen möglichen Adressanten. Es fühlte sich nicht richtig an, doch Janine nahm eine Schere aus der Schublade und schnitt das Paket vorsichtig an den Seiten auf. Behutsam öffnete sie es, darin lag lediglich ein Zettel. „Wieso braucht man dafür ein Paket?“, fragte Janine sich. Sie nahm den Zettel heraus und faltete ihn auseinander. Doch bevor sie ihn lesen konnte, pochte es dreimal an der Tür. „Klopf-Klopf-Klopf“. Das letzte Klopfen war eindringlich. Janine fragte sich, wer sie um diese Uhrzeit noch besuchen könnte. Aber da es draußen stürmisch und kalt war und Janine ein gutes Herz hatte und niemanden allein dort draußen lassen wollte, ging sie zur Haustür und öffnete sie. Doch dort war niemand zu sehen. „Hallo?“, rief Janine. Als niemand ihr antwortete, schloss sie die Tür wieder. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer schauderte es ihr nun noch mehr. Das Fenster stand offen und der Vorhang bewegte sich, vom hereindringenden Wind. Janine sah sich nach allen Seiten um, doch es war niemand zu sehen. Hatte ihr Stalker es jetzt etwa in ihr Haus geschafft? Janine ging zum Fenster, um es zu schließen. Als sie den Fenstergriff in den Händen hielt, merkte sie, dass sie zitterte. Janine hatte das Gefühl, dass sie nicht mehr allein war. Ängstlich öffnete sie den Garderobenschrank, doch auch darin war niemand. Was sollte sie nur tun? Die Polizei rufen? Nein, das konnte sie nicht, die würden sie für verrückt halten. Wahrscheinlich würde man sie in eine Anstalt bringen, aber so verzweifelt war sie nun auch wieder nicht. Wenn hier irgendjemand in ihrem Haus war, durfte er auf keinen Fall merken, dass sie Angst hatte, das würde ihm nur Zuversicht bringen. Also tat Janine so normal wie möglich. Da ihr nichts Besseres einfiel, begann sie zu pfeifen. Ein Donner grollte von draußen. Vergnügt ging Janine pfeifend durchs Wohnzimmer. Dabei überlegte sie, was sie nun tun könnte. Als ihr nichts einfiel, ging sie nach oben in ihr Zimmer. Sie vergewisserte sich, dass hier niemand war, schaute unter ihrem Bett und im Schrank nach und verriegelte dann die Tür. Jetzt fühlte sie sich etwas unbeobachteter, aber Angst hatte sie trotzdem. Sie ging zum Fenster und schaute nach unten. Vielleicht könnte sie heimlich hinausklettern und weglaufen. Aber im schlimmsten Fall, könnte sie sich dabei den Fuß brechen. Somit wäre sie ein leichtes Opfer, falls hier wirklich jemand war. Janine fiel wieder das Paket vom Bahnhof ein. Mist, sie hatte es unten vergessen. Was, wenn es doch etwas Wichtiges war? Vielleicht hatte man ihr extra deswegen gesagt, dass sie zum Bahnhof kommen sollte und ihr dann das Paket hingelegt? Wie auch immer, Janine hatte das Gefühl, dass es wichtig für sie war. Irgendwie musste sie es holen. So leise wie möglich, öffnete sie die Tür und schlich dann auf Zehenspitzen die Treppenstufen nach unten. Dort lag es, sie konnte schon sehen, wie sie es in die Hand nahm und dann blitzschnell zurück nach oben rannte. Sie bewegte sich weiter leise fort, aber als sie es fast geschafft hatte, schrie Janine laut auf. Vor ihr stand jemand und legte ihr jetzt die Hand auf den Mund. Janine trat und schlug um sich, doch sie hatte keine Chance. Die Person, die sie jetzt festhielt, war etwa zwei Köpfe größer als sie und viel stärker. Auch als Janine es schaffte, ihm in den Bauch zu schlagen, lockerte er seinen Griff nicht. Sie fragte sich, was er mit ihr vorhatte, als er sie in eine kleine Abstellkammer brachte und das Licht anknipste. Jetzt konnte Janine den Mann etwas deutlicher erkennen. Er trug eine schwarze Jeans und einen schwarzen Pullover und auf dem Kopf hatte er einen schwarzen Hut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte. Janine kannte den Mann nicht. Sie war sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben. Endlich ließ er sie los. „Wwas machen Sie hier?“, stotterte Janine panisch. „Ich kenne dein Geheimnis, kleine Janine“, sagte der Mann. „Ich weiß nicht, wovon sie sprechen“, Janine versuchte mit fester Stimme zu sprechen, doch ihre Zähne klapperten. Der Mann lächelte und sagte dann: „Aber natürlich weißt du das“. Janine schüttelte heftig mit dem Kopf. Etwas zu heftig. „Bitte, ich habe nichts getan“, flehte sie. Der Mann sah ihr in die Augen. „Vielleicht nicht direkt. Aber du hast dabei geholfen, eine kleine Sache zu verheimlichen“. Sein Blick wurde wütend. Janine bekam noch mehr Angst. „Sagen Sie mir, was Sie wollen“, bat sie den Fremden. „Was ich will?“, er schaute sie kopfschüttelnd an, „ich wollte ein ganz normales Leben, mit meiner Familie. Aber das war wohl nicht für mich bestimmt“. „Sie wissen von L. Henderson“. Es war nur geraten, doch der Mann nickte. Mit einem Mal wirkte er traurig. Janine wollte diesen Augenblick nutzen und nahm alle Kraft zusammen. Dann rannte sie los und hatte die Hand schon an der Türklinke, um sich nach draußen zu stürzen. Aber der Mann war schnell genug und packte sie. „Du gehst nirgendwohin“. Er schleuderte sie rücklings auf den Boden. Ein Putzeimer fiel scheppernd um. Janine richtete sich langsam auf. Sie rieb sich den schmerzenden Kopf. „Was wollen Sie denn?“, fragte sie diesmal leiser. Eine Träne rollte ihre Wange hinunter. Ihre Knie zitterten und ihre Angst machte sich jetzt in ihrem ganzen Körper breit, was nicht allein, an dem Präsenz des fremden Mannes in ihrem Haus lag. Er antwortete zuerst nicht und starrte sie nur an. Schließlich sagte er: „Was ich will? Was ich will, ist die Wahrheit. Ich will endlich wissen, was mit meiner Frau passiert ist“. Bei dem Wort „Frau“ zuckte Janine zusammen. Sie blickte zu dem Mann. Er kämpfte jetzt auch mit sich und Janine war sicher, dass er es niemals übers Herz bringen würde, jemandem etwas anzutun. Aber jetzt wirkte er verletzt und wer wusste, zu was so ein Mensch, voller Wut und Trauer in der Lage sein konnte? „Es, es tut mir leid, ich wusste nicht, dass es Ihre Frau war“. Sie meinte es ehrlich. Noch nie zuvor hatte sie auch nur daran gedacht, dass jemand genauso sehr oder noch schlimmer unter diesem Verbrechen leiden würde. Der Mann sah sie weiterhin schweigend an. „Was möchten Sie wissen?“, fragte Janine. Vielleicht würde er sie gehen lassen, wenn er die Wahrheit kannte. Es war ihre einzige Chance. Hoffnungsvoll sah sie ihn an. Er wirkte jung, vielleicht Ende Zwanzig. Er hatte schmale Lippen und eine spitze Nase. Mehr konnte sie von seinem Gesicht unter dem Hut nicht erkennen. Es war sicher ein hübscher Mann, der sich unter dieser Verkleidung versteckte. „Alles“, antwortete er kühl. Janine biss sich auf die Lippe. Dann begann sie zu erzählen. Sie erinnerte sich an diesen Tag zurück als sei es gestern gewesen. Sie arbeitete bereits seit zwei Wochen im Blumenladen. Janine war glücklich. Sie hatte die Schule abgebrochen und eine Ausbildung begonnen. Es war eine schwierige Phase ihres Lebens gewesen, doch jetzt hatte sie das Gefühl, dass alles besser und leichter werden würde. Seit langem machte sie sich weniger Sorgen und die Arbeit hier machte ihr großen Spaß. Fröhlich band sie einen Strauß mit Ranunkeln, den ein älterer Herr seiner Schwester zum Geburtstag schenken wollte. Sie hatte hier viel Kontakt mit Menschen und die Kunden erzählten ihr gerne, für welchen Zweck sie die Blumen bei ihr kauften. An diesem Tag hatte man Janine früher gehen gelassen, man sagte ihr, dass sie sich den Feierabend verdient habe. Am nächsten Morgen betrat sie also wie immer pünktlich um 8.00 Uhr den Laden. Später wünschte Janine sich, sie hätte an diesem Morgen einfach verschlafen oder sich krank gefühlt. Doch es kam wie es kommen musste. Schon auf dem Weg zum Büro, in dem sie sich morgens immer mit den Mitarbeitern traf, hatte sie ein ungutes Gefühl. Als sie die Tür zum Büro geöffnet hatte, bestätigte sich dieses. Niemand saß wie sonst am großen runden Tisch und es standen auch nicht wie sonst üblich Kekse und Kaffee bereit. Die anderen knieten auf dem Boden und schienen sich an etwas zu schaffen zu machen. Als sie Janine entdeckten, sagte einer: „Los, komm. Hilf uns mal.“ Janine trat näher und als sie sah, was dort auf dem Boden lag, erschrak sie. Es war eine Leiche. Eine Frau mit blondem Haar und einer Brille lag dort auf dem Boden. Sie trug eine schlichte hellblaue Jeans und dazu eine Bluse und einfache Turnschuhe. Sie hatte eine große Wunde am Hinterkopf und eine Blutlache umgab sie. Janine war zu entsetzt, um etwas sagen zu können. Als jemand eine riesige Truhe hereinschob, trat sie einen Schritt zu Seite. Es war eine Tiefkühltruhe wie Janine wenig später feststellen musste. Sie hievten die Leiche hinein und verschlossen den Deckel. Janine schüttelte den Kopf, bei der Erinnerung daran. Man hatte ihr später erzählt, dass es einen Streit gegeben hatte, die Frau war wohl eine Kundin gewesen, die kurz vor Ladenschluss unhöflich und dreist geworden wäre und es hätte einen Unfall gegeben, bei dem sie sich mit einem der Messer, zum Blumenschneiden schwer verletzt hätte. Janine war nie sicher gewesen, was sie von dieser Geschichte halten sollte. Es war jetzt knapp zwei Jahre her und damals war Janine viel zu geschockt gewesen, um irgendetwas realisieren zu können. Ihre Mitarbeiter hatten ihr eingeredet, dass sie darüber niemals auch nur ein Wort verlieren durfte und Janine hatte sich daran gehalten. Bis jetzt. Sie hatte versucht, die ganze Sache zu vergessen und es geschafft, sie einigermaßen zu verdrängen. Aber jetzt als sie alles wiederaufarbeitete, strömten Tränen aus ihren Augen und sie schämte sich. Dafür, dass sie diese absurde Geschichte geglaubt hatte und nicht gleich zur Polizei gegangen war. Einfach für alles. „Esttut mir so leid“, beendete sie ihre Erzählung schließlich. Und damit war noch nicht ansatzweise das ausgedrückt, was sie gerade fühlte. Ihr Herz pochte und Janine fühlte sich als würde es sie zerreißen. Niemals hatte sie daran gedacht, dass es draußen Menschen geben würde, denen diese Frau etwas bedeutet hatte. Sehr viel sogar. Sie konnte verstehen, wenn dieser Mann sie dafür hasste, was sie getan hatte oder auch nicht getan hatte. Ja, sie hätte sogar verstehen können, wenn er sie dafür umgebracht hätte. Doch das tat er nicht. Er blickte sie stumm an und setzte sich schließlich dicht neben ihr auf den Boden. Janine hätte jetzt einfach herausrennen und ihn allein lassen können. Doch sie war schon zu oft einfach weggerannt. Sie sollte dem Mann wenigstens eine Chance geben, seine Gefühle in Worte zu fassen. So saßen sie eine Weile schweigend nebeneinander. „Danke, dass du mir die Wahrheit erzählt hast“, sagte der Mann schließlich. In seiner Stimme war keine Spur von Wut oder Hass zu hören. Janine nickte nur. Wieder schwiegen sie. Janine überlegte, was sie jetzt noch sagen könnte. Sie fragte sich, ob der Mann ihre Situation von damals verstehen konnte. „Wir wollten heiraten. Ich habe ihr am Tag zuvor einen Antrag gemacht“, sagte der Mann. „Ich habe mich bis heute gefragt, was mit ihr passiert ist, aber jetzt habe ich endlich Klarheit. Jetzt muss ich nicht mehr hoffen, dass sie eines Abends zurück nach Hause kommt.“. Janine schluckte. Der Mann tat ihr leid. Wahrscheinlich hatte er nie die Hoffnung aufgegeben, dass seine große Liebe doch noch lebte. „Immer habe ich mir die Schuld gegeben. Ich dachte, sie sei weggelaufen, weil sie mich nicht heiraten wollte oder der Antrag zu früh war“, fuhr er fort. Janines Lunge brannte, sie konnte den Mann nicht ansehen. Sie fühlte sich als hätte sie seine Frau eigenhändig umgebracht. Was könnte sie nur tun, damit es ihm ein bisschen besser ging? So viel Angst sie auch eben noch vor ihm gehabt hatte, desto größer war ihr Respekt jetzt vor ihm. Er war ganz ruhig geblieben und hatte sich alles angehört und auch dann nicht wütend reagiert. „Ich werde zur Polizei gehen“, entschied Janine schließlich. Ja, das würde zwar ein schwerer Schritt, aber endlich eine große Entlastung für sie sein. Der Mann stand auf. An der Tür drehte er sich noch ein letztes Mal um: „Ich kann verstehen, dass du keinen anderen Ausweg kanntest.“ Dann war er verschwunden.

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