Carsten WildEin Tagebuch lügt nicht!?

Ein Tagebuch lügt nicht!?

27.04.20:
Nach einer unruhigen Nacht, habe ich heute Morgen verschlafen und hetzte aus dem Haus, weil ich zu spät dran war. Aus dem Augenwinkel sah ich gerade noch auf dem Rasen ein Handy liegen und dachte, eine meiner lieben Töchter hat es wieder einmal verloren. Nachdem ich es eingesteckt hatte, kümmerte ich mich nicht weiter darum. Erst in der Mittagspause erinnerte ich mich wieder an meinen Fund und schaute mir neugierig den Inhalt des Bilderspeichers an, obwohl man dies ja nicht machen sollte. Was ich dort zu sehen bekam,
lies mir das Blut in den Adern gefrieren. Mehrere Fotos von meinen Zwillingstöchtern und meiner Ehefrau, während diese am Schlafen waren. Zeitstempel: Heute Nacht! Das Handy konnte also nicht von Saskia oder Laura sein. Man kann sich ja schlecht selbst im Schlaf fotografieren, noch dazu mit außergewöhnlichen Blickwinkeln. Sollte ich die Fotos gemacht haben? Ich war auf keinem zu sehen. Als Kind war ich Schlafwandler. Aber das ist lange her und wurde durch einen Psychologen mit Hypnose behandelt. Und wessen Handy ist das? Es ist nagelneu und enthält keinerlei gespeicherte Telefonnummern oder ähnliches, nur diese verstörenden Fotos. Sicherheitshalber habe ich das Handy im Handschuhfach unseres Autos liegen lassen, damit ich nicht eventuell im Schlaf wieder Fotos mache, falls
ich es doch gewesen sein sollte. Beim Abendessen habe ich keinem davon erzählt, um niemanden zu beunruhigen. Verwirrt und ängstlich liege ich nun im Bett und notiere meinen heutigen Tagebucheintrag in der Hoffnung, dass sich morgen alles aufklären wird. Vielleicht erlaubt sich ja jemand einen üblen Scherz mit mir.

28.04.20:
Verständlicherweise habe ich auch heute Nacht schlecht geschlafen. Als ich ins Auto gestiegen bin, höre ich das Handy im Handschuhfach vibrieren. Das kann doch alles nicht wahr sein. Was soll das? Zitternd öffnete ich das Handschuhfach, nahm das Handy raus und las „Neue Nachricht“. Nach ein paar Minuten öffnete ich folgende Nachricht: „Was Du im Alter von 17 Jahren getan hast, ist nicht vergessen, auch wenn Du es gerne verdrängen würdest…….!“ Absender unbekannt, dafür aber neue Fotos. Wieder meine schlafende Familie, jedoch erneut kein Foto von mir. Jetzt bereue ich, dass Erika und ich getrennte Schlafzimmer haben, wegen meiner Schnarcherei. Sonst könnte ich jetzt sehen, ob ich auf den Fotos neben ihr liege oder nicht. Habe mich dann über mein Handy im Büro bei meiner Sekretärin krank gemeldet und bin an den Wannsee gefahren. Ich musste nachdenken. Wer außer mir weiß von meinem dunklen Geheimnis? Niemand! Das kann nicht sein. Beim Spazieren gehen am Wannsee kam ich mir dauernd beobachtet vor. Aber immer wenn ich mich umdrehte, war da niemand. Sollte mein Bruder das „Unglück“ seinerzeit überlebt haben? Das war jetzt 27 Jahre her. Kalter Schweiß tropfte von meiner Stirn. So eine Art von Angst hatte ich noch nie erlebt. Als es schon dunkel wurde, fuhr ich heim. Auch hier hatte ich wieder das Gefühl, verfolgt zu werden. Ein schwarzer Audi Q7 fuhr ständig zwei Autos hinter mir. Als ich in unsere Strasse eingebogen bin, fuhr er geradeaus. Nehme jetzt eine Schlaftablette, damit ich endlich mal wieder durchschlafen kann.

 

 

29.04.20:

Ausgeschlafen komme ich heute Morgen aus dem Haus und will in meinen Wagen steigen. Da sehe ich auf der Heckscheibe mit Blut (?) geschrieben: „Ich kriege Dich“. Zum Glück bin ich der erste, der das Haus verlassen hat. Hoffentlich hat auch keiner der Nachbarn was davon gesehen. Vor der Fahrt ins Büro bin ich noch in die Waschstraße gefahren, um das Geschmiere zu beseitigen. Langsam geht mir das zu weit. Aber die Polizei kann ich auch schlecht einschalten. Kaum bin ich im Büro angekommen, klingelt mein Telefon. Unterdrückte Nummer. Ich gehe trotzdem ran und jemand sagt mit verstellter Stimme: „Ich kriege Dich“ und legt wieder auf. Der kalte Schweiß perlt wieder von meiner Stirn. Um mich abzulenken, stürze ich mich in meine Arbeit. Sogar Angela, meine Sekretärin, merkt, dass mit mir was nicht stimmt. Ich verneine dies jedoch. Sie kennt mich inzwischen besser, als Erika. Kein Wunder, bei den vielen Dienstreisen mit Übernachtung, die wir zusammen unternommen haben. Zum Glück gibt es den Rest des Tages keine weiteren Vorfälle oder Drohungen. War es vielleicht doch nur ein böser Streich? Aber wer macht so etwas? Es ist nun 23:30 Uhr und ich gehe schlafen.

 

30. April 2020:

Wenn Sie dies lesen, bin ich (Dr. Rasmussen) und mein ehemaliger Patient (Markus von Theusen) bereits tot. Dies ist das Tagebuch von Markus, welches ich für die Polizei gut sichtbar am Ufer des Wannsees auf einer neongelben Joggingjacke deponiert habe. Um Ihnen die Aufklärungsarbeit zu erleichtern, gebe ich hiermit folgendes zu Protokoll: Während ich dies schreibe, liegt Markus im Kofferraum meines Audi Q7 und hämmert gegen den Kofferraumdeckel. Schon bald wird aber Ruhe sein. Da ich einen unheilbaren Hirntumor habe, bleiben mir nur noch wenige Wochen zum Leben. Sie werden mich mit Handschellen an mein Lenkrad gefesselt im Wannsee vorfinden. Zeitgleich mit meinem Selbstmord, habe ich das Schwein in meinem Kofferraum ertränkt. Aufgrund der ärztlichen Schweigepflicht, konnte ich die ganzen Jahre nichts unternehmen. Jetzt, wo wir beide tot sind, bin ich von der Schweigepflicht entbunden. Ich konnte und wollte das dunkle Geheimnis von Markus von Theusen nicht mit ins Grab nehmen. Als er 17 war, kam er wegen Schlafstörungen und gelegentlichem Schlafwandeln in meine psychologische Praxis nach Berlin-Charlottenburg. Nach mehreren Hypnosesitzungen besserte sich sein Zustand. Leider erzählte er mir jedoch unter Hypnose, wie er seinen Zwillingsbruder Sven beim Segeln ins offene Meer gestoßen hatte. Die Eltern der beiden glaubten damals an einen schrecklichen Unfall, da beide von Kind auf gute Segler waren. Die Leiche von Sven wurde nie gefunden. Dafür erbte Markus ca. zehn Jahre später nach dem Tod seines Vaters das Firmenimperium alleine, ohne es sich, nebst den Millionen auf dem Bankkonto, mit seinem Zwillingsbruder teilen zu müssen. Das er mir dies unter Hypnose erzählt hatte, habe ich ihm nie gesagt. Er ahnt also nichts davon, dass ich mich seit 27 Jahren mit diesem Wissen quäle. Sie werden bei Ihren Ermittlungen leichte Einbruchsspuren an der Haustür von Markus gefunden haben. Diese stammen von mir. Ich wollte ihn vor seinem Tod noch etwas leiden lassen und habe nachts heimlich Fotos im Haus gemacht. Gestern Nacht habe ich ihn dann entführt. Da er alleine schläft, war dies sehr einfach und an Chloroform komme ich als Arzt problemlos ran. Da ich ja auch noch Bewährungshelfer bin, hatte eines meiner „Schäfchen“ noch etwas gut zu machen und hat mir beim Einbrechen geholfen, ohne viele Spuren zu hinterlassen. Warum wir einen Millionär in meinen Kofferraum gepackt haben, wollte er gar nicht wissen. Ich würde meine Gründe haben. Da die Ehe, so wie man hört, sowieso am Ende war und die Zwillingstöchter Ihren Vater aufgrund seiner vielen Dienstreisen fast gar nicht mehr zu Gesicht bekamen, ist sein Tod kein großer Verlust für die Familie. Finanziell sind sie ja jetzt ebenfalls versorgt. So kann´s gehen. Aufgrund meiner Krankheit, blieb mir nur noch wenig Zeit. Ich stehe zu meiner Tat und bereue nichts.

Dr. Theodor Rasmussen

 

 

Ich bin der leitende Ermittler der Kripo Berlin Charlottenburg im Fall „Dr. Rasmussen / Markus von Theusen“. Der Fall war aufgrund des niedergeschriebenen Geständnisses von Dr. Rasmussen schnell aufgeklärt und nachvollziehbar. Eines lässt mir jedoch keine Ruhe: Seit Monaten habe die grinsenden Gesichter der beiden Töchter von Herrn von Theusen auf dessen Beerdigung vor Augen. Ich werde diesen Anblick nie vergessen. Man sollte von zwei siebzehnjährigen Mädchen erwarten, dass sie um Ihren Vater trauern. Die Mutter der beiden gab jedoch zu Protokoll, dass sie und ihre Töchter in der Nacht der Entführung des Mordopfers im oberen Stockwerk des Hauses waren und geschlafen haben, während ihr Ehemann wie immer in seinem Schlafzimmer im Erdgeschoss übernachtet hat. An diesem Alibi gab es nichts zu zweifeln. Trotzdem habe ich bei der Sache ein komisches Bauchgefühl. Da ich in 6 Monaten in Rente gehe, werde ich hier nicht mehr weiterermitteln. Ich lege diesen Zettel bewusst vorne in das Tagebuch, bevor ich es zu den anderen Beweismitteln die Asservatenkammer lege. Sollte jedoch irgendjemand eines Tages den Fall wieder aufrollen, möge er meine obigen Anmerkungen hoffentlich lesen.

Erwin Schneider, leitender Kriminalbeamter, Berlin Charlottenburg den 25.10.2020