Johanna FüllingEine folgenschwere Entscheidung

So leise wie möglich schloss Lukas die Tür auf. Er wusste, wenn Kira ihn bemerken würde, gäbe es wieder ein riesiges Theater. Ihm war klar, dass sich etwas ändern musste, aber noch war er nicht bereit dafür. Die Schuhe hatte er extra vorher schon ausgezogen, nun schlich Lukas leise den Flur entlang und dann die Treppe zum Badezimmer hinauf. Beim Blick in den Spiegel fielen ihm direkt seine müden Augen auf. Wann hatte er das letzte Mal gut geschlafen? Diese Frage konnte Lukas nicht beantworten.

„So kann es nicht weitergehen, ich habe Angst um dich! Ich weiß gar nicht mehr, wer du bist“, waren die Worte seiner Frau, als er letzte Nacht mitten auf dem Flur zusammenbrach. Später hatte Lukas geweint, Kira sollte auf keinen Fall damit belastet werden. Nur wenn er bleiben würde, wäre es für ihn noch schlimmer.

Seit einem Jahr, zwei Monate nach der Hochzeit, ging Lukas jede Nacht stundenlang in eine Bar. Kira hatte ihn einmal dort erwischt und dachte seitdem, dass er ein Alkoholproblem hätte. Allerdings lag sie damit falsch. Das, was er dort tat, konnte man niemandem so leicht erklären.

Lukas stellte sich unter die Dusche und ließ das warme Wasser seinen Rücken runterlaufen. Dabei schwirrten ihm wie immer tausende Gedanken durch den Kopf: Wie lange kann ich mein Geheimnis noch bewahren? Was passiert, wenn irgendwer davon erfährt? Warum kann ich meine Vergangenheit nicht einfach abschließen?

Nachdem er fertig war, ging er nicht ins Schlaf-, sondern ins Wohnzimmer. Auf der Couch legte er sich ein paar Kissen zurecht und hüllte sich in eine Decke. Seine Augen schlossen sich nach wenigen Sekunden und Lukas schlief ein.

Am nächsten Morgen lief scheinbar alles so wie immer ab: Kira bereitete das Frühstück und Lukas machte sich fertig fürs Büro. Während des gemeinsamen Frühstückes unterhielten sich die Beiden und genossen den gemeinsamen Moment. Lukas liebte seine Frau mehr als alles andere, deswegen versuchte er stets das Beste aus ihrem Leben zu machen. Die Firma von seinem Vater hatte er nach dessen Wunsch übernommen, somit fielen finanzielle Probleme schon weg. Doch was nutzte Lukas der Luxus? Geld konnte auch nicht seine Sorgen vertreiben. Zumindest hatte Kira nun ein besseres Leben, da sie vorher in ärmlichen Verhältnissen lebte. Während der Unterhaltung hatte er gar nicht auf die Zeit geachtet, sodass Kira ihn schon erinnern musste, loszufahren.

Auf dem Weg zur Arbeit bekam Lukas mit einem Mal ein unruhiges Gefühl. Er wusste nicht, woher es kam, irgendetwas erschien ihm anders als sonst.

Plötzlich fingen seine Hände an zu zittern. Er steuerte das Auto an den Straßenrand und schaltete den Motor aus. „Ich muss endlich mein Leben in den Griff bekommen, auf der Arbeit darf ich keine Schwäche zeigen“, sagte Lukas zu sich selbst. Doch seine Unruhe wollte nicht aufhören. Nach kurzem Überlegen zog er sein Handy aus der Jackentasche und rief seinen besten Freund und Kollegen Matthias an. „Wo bleibst du? Das Treffen fängt doch schon in einer halben Stunde an!“, schob Matthias direkt Panik. Das hatte Lukas total vergessen! Seine Konzentration hatte in den letzten Tagen zwar abgenommen, aber so einen wichtigen Termin hatte er noch nie vermasselt. „Ich komme so schnell wie möglich, tut mir leid“, versuchte er sich zu entschuldigen. „Mein Auto ist stehengeblieben.“ Durch das Handy vernahm Lukas ein Seufzen, dann war das Telefonat beendet.

Matthias war schon seit der Grundschule Lukas bester Freund. Früher litt Matthias stark unter seinem Übergewicht und Lukas nahm ihn stets in Schutz, wenn Klassenkameraden gemeine Kommentare zu seiner Figur abgaben. Dadurch hatten sich die Beiden eine große Vertrauensbasis geschaffen.

Nun versuchte Lukas die übrigen zwei Kilometer zur Arbeit in Gelassenheit zu fahren, aber es gelang ihm nicht ganz.

Mit verschwitzten Händen betrat er das riesige Bürogebäude und nahm den Aufzug in den fünften Stock. Er eilte durch den Gang und kam völlig aus der Puste im großen Saal an. Seine Mitarbeiter schauten ihn enttäuscht an, obwohl er es gerade noch rechtzeitig geschafft hatte. Neben Matthias setzte Lukas sich vorne ans Rednerpult. „Zum Glück hast du die Präsentation schon vorbereitet, ohne dich wäre ich verloren“, bedankte er sich leise bei seinem Freund. „Schon gut“, murmelte Matthias und schob ihm eine Tasse Kaffee hin. Kurz darauf betrat Herr Bauer mit seinem Gefolge den Saal. Lukas hoffte schon so lange auf eine Kooperation, deswegen durfte heute nichts schiefgehen. Nach einer höflichen Begrüßung stellte Lukas mit Matthias das geplante Projekt vor. Alles verlief reibungslos und Herr Bauer nickte an einigen Stellen äußerst zustimmend.

„Wir haben es geschafft“, freute sich Matthias und nahm Lukas in den Arm. „Kaum zu fassen, ich hoffe, wir konnten Herrn Bauer überzeugen“,murmelte Lukas daraufhin. Die Entscheidung von Herrn Bauer würde Ihnen nächste Woche verkündet werden. Jetzt wollten sich die Freunde erstmal ein schönes Mittagessen beim chinesischen Restaurant um die Ecke gönnen. Die morgendliche Unruhe von Lukas war zudem verschwunden, sodass er sich besser fühlte und auf das gemeinsame Essen freute.

Als Lukas und Matthias das Büro verließen, strahlte Ihnen die grelle Sonne mitten ins Gesicht. „Geh du schon vor, ich bringe meine Jacke weg und hole eine Sonnenbrille aus dem Auto“. Lukas machte sich auf den Weg zu seinem Wagen, zog schon die Schlüssel aus der Jacke, bis er plötzliche inne hielt. Wieso lag ein Handy direkt vor seiner Fahrertür? Lange konnte es noch nicht dort gelegen haben, sonst wäre es bestimmt jemandem aufgefallen. Er hob es vom Boden auf und versuchte den Bildschirm anzubekommen. Es klappte auf Anhieb, Lukas musste nicht einmal ein Passwort eingeben. Doch dann folgte ein großer Schock, der ihn fast das Handy aus der Hand fallen ließ. Das konnte nicht wahr sein, hatten seine Augen ihm einen Streich gespielt? Bei der zweiten Betrachtung hatte sich nichts verändert: Das Handy zeigte Bilder von ihm selbst, im schlimmsten Moment seines Lebens. Der Grund, weshalb er jeden Abend in die Bar ging und versuchte, seinen Fehler wieder gutmachen zu können.

Lukas war inzwischen ganz blass geworden und hatte das Gefühl ohnmächtig zu werden. Wenn jemand, der ihn kannte, vorher die Bilder zu Gesicht bekommt haben sollte, würde er alles verlieren.

Er steckte das Gerät schnell ins Handschuhfach des Autos und lief zum Restaurant. „Bloß nichts anmerken lassen“, redete er sich ein.

Matthias saß direkt neben dem Aquarium mit den bunt schillernden Koi-Karpfen und winkte ihm zu. Nachdem Lukas sich setzte, kam schon ein Kellner und nahm die Bestellung auf.

„Ich habe dir noch gar nicht erzählt, was mir beim Bootsausflug am Wochenende passiert ist“, fing Matthias an zu erzählen. Er bemerkte gar nicht, dass Lukas Gedanken ganz woanders waren. Die Bilder gingen ihm nicht mehr aus dem Kopf. Sein Blick war auf das Aquarium gerichtet, er beobachtete die Fische. Eigentlich hatten Tiere eine entspannende Wirkung auf Lukas, doch heute konnten sie ihm auch nicht helfen.

„Jedenfalls meinte sie, ich solle dir das hier geben.“ Matthias holte einen zusammengefalteten Zettel aus seiner Hosentasche und reichte ihn seinem Kumpel. Wenn Lukas jetzt fragen würde, von wem der Zettel stammte, wäre Matthias sicherlich gekränkt über dessen Abwesenheit. Deswegen nahm er den Zettel wortlos entgegen. In diesem Moment wurde das Essen serviert und Lukas hob sich die Nachricht für später auf. Es schmeckte köstlich! Matthias lobte anschließend den Koch und bestand darauf, für Lukas mitzubezahlen. Die Großzügigkeit seines Freundes hatte Lukas schon immer  wertgeschätzt, aber nicht ausgenutzt.

Für den Rest des Tages nahm er sich frei und wollte Kira eine Überraschung besorgen. Bei einem gemeinsamen Spaziergang war seiner Frau eine besonders schöne Uhr in einem Schaufenster aufgefallen. Diese kaufte er nun.

Zu Hause angekommen fand er Kira im Liegestuhl auf der Terrasse. Mit erstauntem Blick schaute sie zu ihm hoch. „Du bist ja schon so früh hier, wie verlief der Termin mit Herrn Bauer?“

„Hat gut funktioniert, ich glaube, wir konnten ihn überzeugen“, antwortete Lukas. „Bitte schließe die Augen und öffne deine Hand!“ Kira folgte seiner Aufforderung und bekam das Kästchen mit der Uhr in die Hand gelegt.

„Oh, ich danke dir!“, rief  seine Frau, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Lukas zog sie noch näher an sich heran und erwiderte den Kuss mit viel Gefühl. Er wollte ihr so sehr zeigen, dass er die Hochzeit nicht bereute und sein Bestes gab, ein guter Ehemann zu sein. Kira schlug vor einen Film anzusehen, aber Lukas ging sich erst umziehen. Dabei fiel ihm der Zettel hinunter, den er von Matthias erhalten hatte. Es stand eine Telefonnummer und in das Wort „Dringend“ in Großbuchstaben geschrieben.

Also wählte er die Nummer und schon hob jemand ab.

„Hallo Lukas, zum Glück hast du noch rechtzeitig angerufen“, erklang die unverkennbare Stimme von Dolores. Lukas hatte der alten Dame einst behilflich sein können und traf sie öfters im Stadtpark. Viele Leute belächelten sie: Dolores meinte, die Zukunft voraussehen zu können und gab jedem einen Weisheitsspruch mit auf dem Weg. Lukas dachte sich kaum etwas bei diesen Voraussagen, doch wollte er die alte Dame nicht enttäuschen.

„Du bist in großer Gefahr, jemand will eine vermeintliche Ungerechtigkeit aus dem Wege schaffen! Dazu hat die Person  ausschlaggebende Beweise, die sich in Kürze verbreiten könnten.

Du hast wahrscheinlich schon eine Bedrohung bewusst genommen, doch das ist noch nicht alles!“, warnte Dolores mit aufgeregter Stimme. So panisch hatte Lukas sie noch nie erlebt, ihm kam seine Unruhe und das Handy mit den Fotos in den Sinn.

Nach dem heutigen Tag war sich Lukas gar nicht mehr so sicher, ob hinter Dolores‘ Aussage nicht doch eine Wahrheit stand, die sein jetziges Leben gewaltig aufs Spiel setzen könnte.

 

 

Den ganzen Rest der  Woche grübelte Lukas über seine weitere Vorgehensweise. Das Handy hatte er genauestens inspiziert, um Hinweise zum Besitzer zu finden. Doch es gab keine Spur. Am liebsten hätte er eine Schulter zum Ausweinen gehabt, aber sein Geheimnis musste bestehen bleiben.

Das Schlimmste war die Ungewissheit. Konnte er die Veröffentlichung der Fotos verhindern? Wieso wurden sie nicht längst der Polizei ausgehändigt? Würden womöglich noch weitere Beweise auftauchen? Ihm fiel nur ein Ort ein, der ihm Antwort verschaffen könnte – die Bar. Gestern hatte die Bar geschlossen, sodass er den Abend vor dem Fernseher verbrachte. Nach dem Gespräch mit Dolores war es umso wichtiger, eine mögliche Gefahr zu vermeiden. Nicht nur für ihn…

Kurz vor Mitternacht machte Lukas sich auf den Weg und blieb für ein paar Sekunden am Eingang der Bar stehen. Er atmete dreimal tief ein und aus, erst dann trat er ein.

Wie immer setzte er sich nach ganz hinten in eine versteckte Ecke, die jedoch einen Überblick über die ganze Gaststätte bot. Hinter dem Tresen stand der Besitzer mit zwei aufgetakelten Kellnerinnen, eine davon kam nach kurzem Blickkontakt auf Lukas zu.

„Guten Abend, was kann ich Ihnen bringen?“

„Ein Glas Wasser bitte.“

Als die Kellnerin wegging, kam der nächste Gast in die Bar. Lukas wurde wie immer nervös.

Sie sah so unschuldig und fröhlich aus, jedesmal bekam Lukas einen Stich mitten ins Herz.

Das Mädchen war fünfzehn Jahre alt gewesen, als es passierte:

Es war ein kalter Wintertag und Lukas wollte abends zu einer Party. Die Straßen waren ziemlich glatt, trotzdem fuhr er mit seinem Auto nicht gerade langsam. In Höhe der Bar ging das Mädchen über die Fahrbahn und Lukas bemerkte sie zu spät. Er konnte nicht mehr bremsen, aber er hätte ihr anschließend helfen können. Jedoch fuhr er einfach weiter ohne sich noch einmal umzudrehen…

Seitdem saß die inzwischen Achtzehnjährige im Rollstuhl. Sie kam täglich um dieselbe Uhrzeit hierher und zeichnete.

Jeden Abend wollte Lukas zu ihr hingehen und sich entschuldigen, irgendetwas tun, um seinen Fehler wieder gutzumachen. Doch er fand nie den Mut und die richtigen Worte.

Auf einmal legte ihm jemand die Hand auf seine Schulter. „Hey Kumpel, so spät noch unterwegs?“

Matthias war unübersehbar betrunken, er schwankte und klammerte sich an Lukas‘ Schulter fest. „Komm, wir trinken noch ein Gläschen!“

„Matthias, setz dich erstmal hin, nimm ein Schluck Wasser“,versuchte Lukas seinen Freund zu überreden. Es passte ihm gar nicht, dass Matthias in der Bar aufgetaucht war. Nun konnte er erst recht nicht zu dem Mädchen hingehen. Der folgende Redefluss von Matthias ging ihm zusätzlich auf die Nerven, sodass er jede Hoffnung auf ein Gespräch mit ihr aufgab. Gegen zwei Uhr verließ die Rollstuhlfahrerin auch schon die Bar und Lukas überlegte, ihr zu folgen.

„Matthias, wir sollten uns auf den Weg machen. Wir müssen fit sein für das Gespräch mit Herrn Bauer“, fiel ihm eine passende Ausrede ein. Murrend folgte Matthias Lukas aus der Bar hinaus. Glücklicherweise hatte das Mädchen denselben Weg eingeschlagen, den auch die Beiden nehmen mussten. Plötzlich fing Matthias an, sich mitten auf den Fußweg zu übergeben. Lukas musste ihm mit Taschentüchern aushelfen und  beim Weitergehen stützen.

Auf einmal sah Lukas etwas auf dem Boden liegen – ein Buch. Er hob es auf und erkannte es sofort. Es handelte sich um das Zeichenbuch der Rollstuhlfahrerin. „Was haste denn da?“, nuschelte Matthias.

„Ach, irgendein Buch“, versuchte Lukas desinteressiert zu sagen. In Wahrheit war er total gespannt, ob das Buch ihm Informationen verschaffen könnte.

Er brachte Matthias noch nach Hause, von dort aus war es nicht weit bis zu seinem eigenem Heim. Sobald er angekommen war, setzte er sich auf die Couch und durchblätterte seinen Fund. Auffällig waren die vielen Sport-Zeichnungen, am besten gefiel ihm die Sequenz eines Sprunges über eine Hürde. Als er am Rand dieser Zeichnung fünf miteinander verbundene Ringe bemerkte, kamen ihm direkt die diesjährigen olympischen Spiele in den Sinn. Das Mädchen schien sich sehr dafür zu interessieren. Nun musste Lukas sich aber doch noch ein wenig hinlegen, um halbwegs kräftig zu sein.

Die Freude war groß, als Herr Bauer ihm die Kooperation bestätigte. Matthias war nicht im Büro erschienen, was angesichts seines Katers auch kein Wunder war. Herr Bauer hatte Lukas und Kira sogar noch zum Abendessen eingeladen. Das würde bedeuten, dass die Bar heute ausfallen musste. Nichtsdestotrotz schaute Lukas nach der Arbeit kurz vorbei, um das Notizbuch abzugeben. Er wollte es dem Mädchen unbedingt wiederbringen. Am Tresen beschrieb Lukas dem Besitzer die Rollstuhlfahrerin und wollte danach gleich wieder los. Doch er kam nicht weit, weil sich jemand von der Seite näherte und ihm eine Faust mitten ins Gesicht rammte.

 

„Oh mein Gott, ich hatte solche Angst“, weinte Kira, als Lukas die Augen aufschlug. Er befand sich im Krankenhaus und hatte eine Platzwunde unter dem linken Auge. Kira hielt seine Hand und Matthias saß neben ihr auf einem Stuhl. „Du hast so Glück gehabt, dass ich gerade in der Nähe war und dich bemerkt habe. Echt übel, wie du halb auf der Straße lagst“, teilte er Lukas mit.

Nach diesem Vorfall musste die Verabredung mit Herrn Bauer natürlich ausfallen. Lukas blieb noch die Nacht im Krankenhaus und wurde am nächsten Morgen entlassen.

Zuhause kam ihm mit einem Mal ein absurder Gedanke in den Kopf – konnte es sein, dass Matthias ihn beschattet hatte? Wusste er, wer ihn geschlagen hatte? Nach diesem Vorfall war Lukas noch misstrauischer als ohnehin schon geworden. Kira merkte auch, dass irgendetwas nicht stimmte, aber sie sprach ihn nicht darauf an.

Doch die größte Frage war, ob es einen Zusammenhang zwischen den Fotos und dem Angriff gab. Wie sollte man sich nun verhalten? Lukas wusste nicht, was von ihm gefordert wurde. Er wurde nicht direkt erpresst, aber die Bedrohung war nicht abzustreiten.

Das Telefon klingelte. „Lukas, wie geht es dir? Ich hatte einen schlimmen Albtraum von dir, du lagst auf der Straße und deine Beine…!“, erklang die besorgte Stimme von Dolores. „Hör auf damit, mein Leben ist ein einziges Chaos, ich wurde niedergeschlagen und…“, Lukas‘ Stimme versagte. Er begann zu weinen, weil ihm die ganze Situation zu viel wurde. Er schleuderte das Telefon an die Wand und kauerte sich zusammen. Kira hatte den Lärm gehört und kam ins Zimmer. Sie hockte sich zu Lukas und nahm ihn in den Arm. Alles, was Lukas sich vorgenommen hatte, war zerbrochen. Ein einziger Fehler hatte ihm seine wahre Identität geraubt: Von einem fröhlichen, stets das Richtige tuenden Menschen zu einem Fluchtfahrer, der alle um sich herum enttäuschte.

„Lukas, du kannst mit mir über alles sprechen, egal wie schlimm es ist“, versuchte Kira ein Gespräch aufzubauen. Doch Lukas reagierte nicht, er riss sich los und ging aus dem Haus.

Überflutet von Gedanken und seiner Verzweiflung lief er Richtung Stadtpark. Eine Person kam ihm entgegen, die Lukas irgendwo schon einmal gesehen hatte. „Jeder bekommt das, was er verdient“, sprach diese Person und hielt Lukas rasch ein Tuch vor das Gesicht. Alles wurde schwarz…

 

Gefesselt auf einer einsamen Straße, mit einem Knebel im Mund, wachte Lukas auf. Vor ihm saß ein Mann, etwa fünfzig Jahre alt – derjenige, der ihm vorhin im Park begegnet war. Die Fotos, die Lukas auf dem Handy geschickt bekam, hielt der Mann nun in Großformat ausgedruckt in seinen Händen. „Ich werde dir jetzt eine Geschichte erzählen“, begann er zu sprechen. „Es war einmal ein fünfzehnjähriges Mädchen. Sie trainierte jeden Tag, um ihr großes Ziel zu erreichen – an den olympischen Spielen teilzunehmen! Ihr Vater, ich übrigens, und der Trainer sahen großes Potential. Hürdenlauf, das war die Leidenschaft meiner Tochter.“

Lukas erinnerte sich an das Notizbuch mit den Zeichnungen. Jetzt ging ihm ein Licht auf.

„Doch eines Abends kam ein Idiot daher und fuhr sie nieder. Ließ meine Tochter auf der Straße liegen mit zertrümmerten Beinen und fuhr davon. Zum Glück hatte ein Passant Fotos von dem Geschehen machen können, die ich sofort anforderte. Wahrscheinlich dachte derjenige, ich würde schnurstracks zur Polizei gehen, aber wieso sollte ich? Das hätte meine Tochter auch nicht wieder lauffähig gemacht. Der große Traum von der Olympiade war für immer zerplatzt.“

Lukas kamen die Tränen, sein schlechtes Gewissen war aufgrund des neuen Wissens riesig geworden.

„Erpressung war nicht meine Absicht, du solltest nur ein wenig Angst bekommen. Nichts kann deinen Fehler gutmachen, deshalb werde ich mich jetzt rächen!“

Der Mann entfernte sich und Lukas hörte, wie ein Motor gestartet wurde. Ein Auto fuhr direkt auf ihn zu und Lukas wusste, dass ihn dasselbe Schicksal wie das seines Opfers treffen sollte.

 

 

„Das alles wäre passiert, wenn du die falsche Entscheidung getroffen hättest. Meine Warnungen hätten dich auch nicht retten können. Aber du bist ein guter Mensch und auch wenn man Angst hat, sollte man das Richtige tun“ sagte Dolores, während Lukas, Kira, Matthias und das Mädchen ihr zuhörten. Ob tatsächlich alles so abgelaufen wäre, ist natürlich fragwürdig, aber Lukas wusste nun, welche möglichen Folgen entstehen könnten.

Er hatte keine Fahrerflucht begangen und war dem Mädchen sofort zu Hilfe geeilt. Wie durch ein Wunder konnte sie nach einer intensiven Behandlung wieder laufen. Wegen Lukas Unterstützung entstand sogar eine Freundschaft.

Heute, drei Jahre nach diesem Tag, waren sie endlich zu den olympischen Spielen gefahren, um den großen Traum des Mädchens zu erfüllen. Kira und Matthias zeigten Lukas fast jeden Tag ihren Stolz auf ihn und dieser konnte nun endlich aufatmen, das alles gut war.

 

One thought on “Eine folgenschwere Entscheidung

  1. Der Beginn deiner Geschichte hat mir wirklich gut gefallen. Allerdings kam mir dein Ende dann doch etwas plötzlich, so unvorbereitet. Es kam mir so vor, als wolltest du am Ende schnell zum Schluss kommen. Das hat Potenzial! Bleib dran!:)

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