Herr CenkelmannEine Geschichte aus dem Lehrbuch

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Das Klingeln der Pausenglocke beendete die Unterrichtsstunde – befreiend, wohlwollend und mit der Gewissheit, dass das Grauen der nächsten Mathematikstunde sie wieder fest in ihren Klauen halten wird,  so verließen die Schüler der Tutorengruppe den Klassenraum des Oberstufengebäudes im Gebäudetrakt A des verwinkelten altehrwürdigen Gymnasiums. Auf dem Lehrplan waren neben den Tugenden von Sittsamkeit und Anstand einer humanistischen Grundbildung der Ausbau und Fortschritt der naturwissenschaftlich-mathematischen Denkweise festgeschrieben. Grundtenor im Kollegium des Gymnasiums war die Bildung einer Elite, die sich von den anderen Gymnasien der Stadt unterschied.

Nils Bergner speicherte die letzten Ansätze seiner Tutandi auf dem virtuellen Desktop ihrer Schulcloud und trug ins digitale Klassenbuch „Rotationsvolumina mithilfe des bestimmten Integrals“ ein. Bergner mochte seinen Job und verstand sich als guter Pädagoge dessen Profession weit über die elementare Zahlentheorie und das Unterrichten von potentiellen Mustereleven von morgen hinausging. Er war durchaus nicht einer dieser Pauker, die durch sonderliches Modebewusstsein in den Labeln namhafter Designer glänzte und dennoch war er von der schrulligen Art mancher Kollegen entfernt. Sein blondes Haar kräuselte sich unkontrolliert und seine buschigen Augenbrauen hatten eine Rasur dringend nötig. Bergner befand sich in einer fragilen Lebenssituation seine noch recht junge Frau wollte das Quäntchen „mehr“ im Leben: den Ring, das Haus, den Benz und alles was sich in und um das Haus befinden konnte. Im Grunde konnte Bergner das „Mehr“ erreichen, war aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht dazu bereit. Bergner lebte mit ihr zusammen in einer 3-Zimmer-Wohnung mitten in der Stadt. Der Pädagoge, dessen Freundeskreis recht klein war, brauchte all den Luxus und die großen Statussymbole nicht. Auf Menschen in seinem näheren Umfeld hatte Nils eine befremdliche Wirkung und selbst in der kollegialen Gemeinschaft des Lehrkörpers galt Bergner als Sonderling. Er neigte in einer Sekunde zu explosionsartigen Wutausbrüchen, die in der nächsten Sekunde in eine himmelhochjauchzende Freudenkantate ausbrechen konnten. Ja, Bergner war ein Sonderling: Fokussiert auf die Welt der Daten und Figuren. Rational geprägt und mit einer nüchternen Weltsicht ausgestattet.

An diesem Tag packte er seine Tasche und wandte sich dem Ausgang seines Unterrichtsraumes zu. Das Lehrerzimmer aus dem es nach dem schwarzen Gold roch, das seinen müden Zellen neuen Schwung einhauchen sollte, lag unterhalb des Raumes nur wenige Treppenstufen entfernt. Mit einem Anflug von Vorfreude auf das heiße Getränk und den üblichen Lehrerzimmertratsch mit seiner Lieblingskollegin betrat Bergner das Heiligtum, in dem er vor zehn Jahren nicht einmal im Traum daran gedacht hatte jemals zu sitzen. Der übliche Gang zum Kopierer, dann der Becher, in den ein Volumen von 550ml passte und somit eine äußerst flexible Auswahl des Getränkes am Kaffeeautomaten ermöglichte. Gerade genug  Fassungsvermögen für einen Latte Machiato und hinreichend genug für einen doppelten schwarzen Kaffee, der nun  dampfend in die Tasse floss. Während Bergner sein Fach kontrollierte und einen Stapel von Katalogen der Schulbuchverlage, die zum neuen Schuljahr Geld aus dem zeitlichen Unvermögen der Lehrkräfte ziehen wollten, gekonnt in die benachbarten Fächer seiner Kollegen umsortierte, erblickte er mit dem Kaffee in der Hand etwas auf seinem Tisch: ein Smartphone mit einem gelben Post-It. „Na, haste eins einkassiert?“, hörte Bergner die vertraute Stimme seiner Kollegin und Freundin Lisa Wegman. „Hör mir auf“, entgegnete er abwinkend, „wahrscheinlich wieder eines dieser Bälger aus der 8e. Jetzt ist erstmal Pause!“, postulierte Nils.

In der anschließenden Freistunde hatte Nils Bergner beschlossen ein wenig Ordnung auf seinem Tisch im Lehrerzimmer zu schaffen. Der typische Papierkram im Leben des Pädagogen. Nebenbei checkte er seine Mails und sein Instagram. Nichts Neues, was seinem tristen Alltag ein wenig Aufhellung verleihen konnte: Kein neues Nähtutorial seiner Freundin Linda und die letzten Kilometer, die sich Kolleginnen in einem virtuellen Crowdlauf anerkennend und mit einer gewissen neiderfüllten Grundhaltung zu-posteten, lockten ihm neben einem gelangweilten „Like“ lediglich ein müdes Lächeln hervor.

Die Schulsekretärin stöckelte deutlich hörbar über den Flur und flötete fröhlich ihr „Guten Morgen“ in das fast leere Lehrerzimmer. Bergner erkundigte sich, ob das Smartphone, das auf seinem Tisch lag, im Sekretariat für ihn abgegeben wurde. Frau Thelemann verneinte seine Frage und winkte ab, da sie mit diesem neumodischen Kram – wie sie selber sagte – und dem Verständnis der aufkommenden und mehr und mehr anonymen digitalen Welt nichts zu tun haben wollte. Bergner öffnete den gefalteten Post-it und wurde mit einem Mal kreidebleich. In einem äußerst peniblen Schriftbild, das er keiner Person oder gar einem Schüler seines näheren Umfeldes zuordnen konnte, las er:

„Mit Gruß und Kuss aus der Ferne sende ich dir dies nur allzu gerne.“

Die Face-ID des I-Phones entriegelte den Sperrbildschirm und Bergner öffnete wie in Trance die Galerie des Smartphones. Wie konnte es nur sein, dass sein Gesicht der Schlüssel zu diesem Smartphone war? Unsicher griff er sich in die Hosentaschen und stellte fest, das sowohl sein Handy als auch seine Brieftasche dort waren, wo er sie hoffte aufzufinden. Erneut tippte er auf das I-Phone in seinen Händen und wieder entriegelte ein Blick seinerseits das Gerät und gab ihm einen Einblick in ein Leben, dass er noch niemals so gesehen hatte – sein eigenes.

Bergner zitterte als er sah, dass die Galerie mit Fotos seiner Wohnung gefüllt war. Er scrollte wie paralysiert nach unten und entdeckte ein Video, das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Das Allerheiligste seiner Wohnung wurde auf perfide Weise in Szene gesetzt: Die schweren Vorhänge – der Schrank und selbst das schwarz-weiße Gemälde oberhalb des Bettes – all der Kitsch, den seine Freundin Tanja gesammelt und auf der Anrichte unter dem Spiegel neben ihren Flakons namhafter Pariser Parfümeure liebevoll und für seinen Geschmack in naiver Manier drapiert hatte, zeigte das Video in gebotener Kürze und fokussierte sich dann auf das Zentrum des Raumes, in dem sich die Handlung des Videos vollzog. Nils Bergner erlebte sich selbst als Protagonist in seinem eigenen Pornofilm mit seiner geliebten Tanja. Sie, wie sie ihn fordernd ritt, er, wie er sie von hinten nahm  und dann wie elektrisiert nach einem Aufschrei der Lust sich das Gefühl völliger Entspannung im Raum ausbreitete.

Bergner rieb sich ungläubig die Augen und blickte sich im Lehrerzimmer um. Wer hatte ihn dieses Höllengerät finden lassen? Wer hatte sich Zugang zu seiner Wohnung verschafft und was sollten diese Aufnahmen von Tanja und ihm? Panisch rannte er ins Sekretariat und fragte Frau Thelemann energisch, ob jemand anderes ein Handy auf seinen Platz gelegt hätte. Mit einem Tonfall, der müde, gelangweilt und genervt zugleich klang gab ihm die Thelemann zu verstehen, dass sie sich nicht um alles kümmern könne und schließlich auch noch normalen Publikumsverkehr zu bewältigen hätte. Gerade hatte er im Kopf alle denkbaren Optionen durchgespielt und war zu dem Entschluss gekommen den Kontaktbeamten der Polizei anzurufen, da wurden seine Gedanken durch einen ihm unbekannten Signalton unterbrochen.

„Falls es dir noch nicht bewusst ist: Kein Wort zu niemandem oder du kannst Tanjas Reste sorgsam zusammenpuzzlen. Willkommen in deinem persönlichen Albtraum.

P.S.: Und jetzt finde mich dort, wo du mich am wenigsten vermutest“

Was hatte das alles zu bedeuten? Bergner suchte nach einem rational zu vertretenden Grund einem Menschen so etwas anzutun. In all den Jahren als Lehrer hatte er sich doch immer regelkonform verhalten und in nahezu spießiger Art und Weise die Regeln des guten Umgangs mit seinen Mitmenschen gepflegt. Neben den kleineren Grabenkämpfen, die er gemeinsam mit Lisa unter dem Deckmantel völliger Verschwiegenheit und natürlich im Verborgenen ausgefochten hatte, brachten Nils Bergner kein nennenswertes Indiz. In einem Anflug völliger Geistesgegenwart dachte er an Tanja und griff zum Hörer. Nach mehrmaligem erfolglosen Versuchen seine Freundin über Whatsapp und das Haustelefon zu erreichen, rannte er, wie vom Teufel geritten und ohne Tasche aus der Schule zu seinem Auto. Die sechs minütige Autofahrt zu seiner Wohnung erweckte den Anschein einer halben Ewigkeit. Wie benommen stieg er aus dem Auto und nahm seine Umwelt nur noch wie im Zeitraffer wahr. Nils betrat die Wohnung, in der seine Rufe und die Bitte nach Antworten mit Leere beantwortet wurden. Mit einem Gefühl von Machtlosigkeit betrat er das Schlafzimmer und versuchte die Position der Videoaufnahme ausfindig zu machen. Nichts war Nils in diesem Augenblick vertrauter und fremder zugleich und die Gewissheit seiner gegenwärtigen Lage wurde durch die roten Buchstaben am Spiegel oberhalb der Anrichte zu einem Spiegel seiner eigenen Realität.

„Hab dich!“

Nils wurde schwarz vor den Augen und er sackte auf dem Bett in sich zusammen.

Tanja Lohmann liebte die französische Küche und hatte an diesem Morgen die Zutaten für ihr „Coq au vin“ liebevoll in einem Einkaufskorb zusammengesucht und bog nun in den Hauseingang ein. „Da bist du ja Liebling“, hörte sie eine vertraute Stimme aus dem Schlafzimmer schallen. „Wie war es in der Schule?“, erkundigte sie sich interessiert. „Schatz du weißt, doch dass ich nicht gerne dienstlich zuhause werde aber weil du es bist, mache ich eine Ausnahme: In der nächsten Woche stehen zwei Klassenkonferenzen an und ich hatte Mühe die Berichte der Kollegen zu den Schülern zu entschlüsseln. Warten wir ab. Heute stehst du allein auf Platz 1. Lass mich noch kurz diese Mail schreiben.“ Tanja Lohmann genoss die Tage mit ihm. Er nahm sich Zeit für sie und schenkte ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Bei Simon konnte sie so sein, wie sie war und ihren Sinn für das französische Lebensgefühl – entsprechend dem Motto ihres Lieblingsparfüms „La vie est belle“ – in vollen Zügen genießen und ausleben. Heute hatte er ihr für ihr kleines „pas de deux“ ein ganz besonderes Negligé zukommen lassen, das nicht nur „nachlässig“ im Hinblick auf die Menge des verarbeiteten Stoffs war, sondern insbesondere durch die aufwendige Spitze ein Vergnügen für Auge, Herz und Hand versprach. Simon Müller wusste genau, dass der Prozess des Lernens aktiv sein musste und so huschte ihm ein zufriedenes Lächeln über die Wangen.

Nach dem Essen ließ Tanja nicht lange mit einer für sie bedeutenden Frage auf sich warten. „Was ist das hier eigentlich zwischen uns? Ich werde mich von Nils trennen! Er wird immer in seinem begrenzten Mikrokosmos verharren und nie ein so leidenschaftlicher Liebhaber sein, wie ich ihn mir an meiner Seite wünsche. So wie du.“ Simon hielt einen Augenblick inne und antwortete ihr kurz mit einer Gegenfrage: „Du bist doch glücklich, oder?“ Sie bejahte seine Nachfrage.

Simons Gedanken hatten erneut zu kreisen begonnen und die Erfüllung seines Wunsches nach Vergeltung war zum Greifen nah. Vor zehn Jahren hat ihm sein vermeintlich bester Freund nicht nur seine große Liebe, Freunde des näheren Umfeldes, sondern auch noch seine Wahlarbeitsstelle genommen dies hatte sein Leben in einen realen Exit-Room verwandelt, aus dem er bis zum heutigen Tag sorgsam plante auszubrechen. „Education-Break-Out“, was für ein treffender Begriff nicht nur für den schulischen Kontext, sondern auch für die heutige Lektion auf dem Lehrplan. Heute sollte nach dem „Coq au vin“ seine Rache wohlgereift und eiskalt serviert werden.

Mit einer fordernden Geste geleitete er Tanja Lohmann ins Schlafzimmer, wo er sie mit seinem Smartphone ins Visier nahm und sie für ihn in ihrer aufreizenden Wäsche tanzte. „Entschuldige mich einen Moment, Liebling, ich möchte mich noch frisch machen.“, entfernte er sich aus dem Schlafzimmer und ging ins Bad.

Während sich Tanja noch wohlig warm in Sicherheit wog, platzte in weniger als 60m Entfernung die Bombe und der Livestream einer tanzenden, sich frivol rekelnden jungen Frau erreichte Nils Bergner mit der Aufforderung sie doch endlich zu finden. Auf dem Video erkannte er anhand des Interieurs sofort, an welchem Ort sich Tanja befand. In ihm kochte die Wut ins Unermessliche und der sonst so rational geprägte Mann verlor jegliche Kontrolle.

Im stillen dachte der Lehrmeister an seine kleinen Horsd‘oeuvre, die er hatte fallen lassen: Nicht nur das Handy mit den Bildern von Bergners Wohnung und dem Sextape, das er mit einer wohlplatzierten Wanze an der Oberseite des Kleiderschrankes aufgenommen hatte. Nein: Auch das Schriftbild hätte seinen alten Freund Bergner auf ihn aufmerksam machen können. Der Schlüssel zu dessen Wohnung: Das war leichter als gedacht! Nach dem großen Zerwürfnis vor zehn Jahren hatte der kleine Einfallspinsel versäumt, das Türschloss auszuwechseln. Ein Türschlossöffner mit individuellem Fingerprint, wäre ihm zuzutrauen gewesen aber soweit reichte das Misstrauen in die Welt dann doch nicht. Zufrieden spürte Simon Müller, wie ihm das warme Wasser der Dusche von all den schmutzigen Gedanken reinwusch und sein neues, frisch geduschtes Ich blickte in den Spiegel und stellte ein wenig nostalgisch fest: „Tja, Hoffnung auf Versöhnung und das Gefühl von „Friede, Freude, Eierkuchen“ können schlechte Berater sein.“

Es klingelte und binnen Sekunden eröffnete sich dem Betrachter ein Schlachtfeld. Getrieben von blanker Eifersucht und mit Hass im Herzen hatte der Angreifer sein Opfer an der Tür überwältigt. „Du Schlampe!“, schrie er lauthals bei geöffneter Haustür. Von der gewaltsamen Wucht des Schreies überwältigt stürzte Tanja und fand sich in den letzten Minuten ihres Lebens unter Nils Bergner wieder, der ihren Kopf schreiend und schüttelnd gegen die Bodenfliesen schlug. Ein dumpfer Knall und das Geräusch einer matschigen Substanz, die klebrig an Nils‘ Händen haften blieb, dann ein Mann der sich selbst im Spiegel des Flures seines ehemals besten Freundes wiederfand und eine Blutlache die sich unter ihnen breitmachte. Er sah diesen Mann, der Schuld auf sich geladen hatte und in alledem stets an das Gute und die Berechnung ihrer unendlichen Liebe geglaubt hatte. Nun schaute ihn eine verstörende Maske an, deren morddurst aus blankem Hass heraus plötzlich gestillt worden war. All die Erinnerungen zwischen diesem Ort, der mit so viel Zuneigung und Vertrauen getränkt gewesen war, und der gegenwärtigen Situation, die ihm die Unberechenbarkeit des menschlichen Seins widerspiegelte und den Wunsch nach Erlösung förderten, trieben Nils Bergner an die Grenzen seines Verstandes.

Vom Wahnsinn geplagt und in der Gewissheit auf ewig verdammt zu sein, ließ er seine blutverschmierten Hände über die weiße Rauhfasertapete gleiten, öffnete das Küchenfenster und sprang aus dem vierten Stock des Mehrfamilienhauses in die Tiefe.

Die Polizeibeamten, die Simon aus seiner gewählten Schutzfestung heraus angerufen hatte, fanden eine Leiche in der Wohnung eines verstörten Simon wieder. Der Angreifer hatte sich mithilfe eines Wohnungsschlüssels Zugang zu Simons Wohnung verschafft und sein nächstes Opfer im Flur überwältigt. Im Bericht der Polizei hieß es, dass der mutmaßliche Täter Nils Bergner, der für seine problematische Persönlichkeitsstruktur bekannt war, die glückliche Beziehung zwischen Simon und Tanja nicht gutheißen konnte und in einem Anflug von blindem Aktionismus mit der Situation überfordert gewesen sein musste und ihn der negative Stimulus zu seiner Tat getriggert hatte.

Das gestörte Verhältnis und die Angst davor einen Menschen und auch Dinge zu verlieren, manifestierte sich dabei in der akribischen Dokumentation seiner Lebensumwelt durch Fotos und Videos, die ihn und seine ehemalige Partnerin Tanja Lohmann sogar beim Sex zeigten. Dies belegte sein Zweithandy, das mit einer eindeutigen Face-ID und einem noch eindeutigerem Bewegungsprofil den Weg zwischen seinem Zuhause auf 60m genau dokumentierte.

Einwurf des Lehrmeisters: Face-ID lässt sich unter gewissen Umständen leichter als gedacht aufnehmen. Das Schlafzimmer ruhig auch in der Nacht durchlüften um eine bessere Sauerstoffzufuhr zu gewährleisten.

Der von Bergner gewählte Freitod als Affekthandlung zum vorangegangenen Mord an seiner ehemaligen Partnerin Tanja Lohmann wird aus dem Blickwinkel der Gerichtsmedizin für Bergner, der unter einer bipolaren Störung litt, als konsequentes Handlungsmuster gedeutet. Nach der Unterschätzung seiner eigenen körperlichen Kraft folgte aus der Verzweiflung das unumkehrbare andere Extrem einer Flucht, die mit einem Sprung aus dem vierten Stock begann und mit einem dumpfen Aufkommen auf dem harten Kopfsteinpflaster mit dem Tod endete.

Einwurf des Lehrmeisters: Sein Flug aus dem Fenster muss in Bergner ein wahres Hochgefühl ausgelöst haben – wie schön.

Als Simon Müller nach den abgeschlossenen Ermittlungen autorisiert wurde die hinterlassene Wohnung zu betreten, war er um einen Wohnungsschlüssel an seinem Schlüsselbund reicher, den er fortan wie eine Trophäe bei sich trug. Die Ersatzunterkunft in einem 5-Sterne-Hotel der Stadt war gediegen und es fehlte Simon an nichts. Dennoch heißt es doch immer so schön „Home-Sweet-Home!“. Der frisch renovierte Eingangsbereich strahlte weiß und in neuem Glanz. Welch Ironie, dass gerade jetzt im Radio „Alles neu!“ von Seed zu hören war. Vergangen und bereinigt aller schlechten Erinnerungen konnte Simon an diesem Tag in ein neues Leben starten und dachte gar nicht daran sich eine neue Bleibe zu suchen, wie es die Nachbarn unter ihm getan hatten.

Sein persönlicher Education-Breakout war gelungen.

Nachdenklich legte er die Stirn in Falten und sinnierte darüber nach, wie er diese tolle Methode auch in seinen Mathematikunterricht zielführend einbringen konnte – aber das ist wird mal ein ausgiebiger Planungsnachmittag. Sein Balkon würde schon bald zum Verweilen einladen und vielleicht ziehen schon bald neue Mieter unter ihm ein und wer weiß: manchmal entwickeln sich aus Nachbarschaften auch tiefergehende, intime Freundschaften, die – wenn sie ihm weder im Job noch in der Liebe in die Quere kamen – gerne sein Leben bereichern durften. Simon lächelte sein Spiegelbild zufrieden an und übte nochmal all die Gesichtsausdrücke, die er für den heutigen Tag benötigte: Den strengen Pädagogen, den leidenden Mann in Sorge, den verzweifelten Kollegen und nicht zuletzt den guten Freund. Er packte seine Tasche mit den Büchern, die ihm Frau Thelemann bereits vor vier Wochen ausgehändigt hatte, als sie ihm sein Fach in der Schule gezeigt hatte. Schade, dass er damals während der Unterrichtszeit seine besten Freundin Lisa Wegmann nicht angetroffen hatte. Dies sollte sich heute durch einen heißen Kaffee noch vor der ersten Stunde ändern. Freudig betrat er das altehrwürdige Gymnasium und passierte dabei das erhabene Portal, das denjenigen Einlass gebot, die auf der Suche nach einer soliden humanistischen Grundbildung waren und deren Zielstrebigkeit sich in der Perfektion des Augenblicks offenbarte.

In den ersten beiden Stunden stand Mathematik auf dem Plan. Die Berechnung des Rotationsvolumens eines beliebigen Körpers hatte sein Vorgänger, der offenbar stets bemüht gewesen ist, zumindest angebahnt. Die Zielführung und Vollendung seiner angebahnten Kompetenzen mag keine seiner Stärken gewesen sein und dennoch bewunderte Simon Müller seinen ehemaligen Freund und Kollegen für seine Profession und die Rationalität, mit der er die Mathematik vermittelte.

Mit allem mag er gerechnet haben, nicht aber, dass der Platz an der Schule nicht seiner, sondern Simon Müllers gewesen ist und er sich diesen zurückholen musste. „Gottes Mühlen mahlen langsam aber stetig und gerecht.“, dachte er bei sich und freute sich darüber, dass Mathematik und Religion aufgrund ihrer Verbindung zwischen Rationalität und Spiritualität die perfekte Mixtur für einen Neuanfang waren, wenn auch erst nach zehn Jahren. Leichtfüßig und mit der Vorfreude auf den nächsten Kaffee mit Lisa betrat er das Lehrerzimmer, schmiss die Kataloge der Schulbuchverlage in das dafür vorgesehene Altpapier und setzte sich zu seiner Freundin.

Der Platz an ihrem Tisch war ja nun frei.

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