ChristinaEine Gradwanderung zwischen Ordnung und Chaos

  Kapitel 1                                                              Heute

»Sara, wir müssen nochmal schnell in die Apotheke!« Rebekka drehte sich so schnell zu mir um, dass ich mein aufkommendes Augenrollen nicht mehr unterdrücken konnte. Sie blieb stehen und sah mich misstrauisch an. »Wow, du bist heute aber auch wieder emotional sehr stark am Mittelfinger gebaut.« »Es tut mir leid, Bekks, ich habe einfach viel zu viel um die Ohren. Mein Terminplaner ist so eng getaktet, dass ich mir noch nicht mal einen Atemzug zu viel erlauben kann.« Die Aussage quittierte sie bloß mit einem Schulterzucken und zog mich direkt in die nächstgelegene Apotheke. Aber es stimmte, neben meiner Arbeit in einem angesehenen Beratungsunternehmen, engagiere ich mich für wohltätige Zwecke und stecke gerade mitten in der Planung einer großen Benefizveranstaltung. Der Gewinn soll die Tierheime unterstützen und möglichst vielen Vierbeinern ein neues Zuhause ermöglichen.

Rebekka rennt förmlich mit mir durch die Stadt und alle fünf Minuten fällt ihr etwas Neuen ein, das sie zuvor vergessen hatte. Aber genau diese quirlige und chaotische Art fasziniert mich am meisten an ihr und ist der perfekte Gegensatz zu meinem planenden und durchorganisierten Charakter. Die Halb-Griechin mit den langen roten Haaren sieht sich eigentlich mehr als freischaffende Künstlerin und arbeitet auch nur als Steuerberaterin, um ihre Eltern zufriedenzustellen, die sich eine sichere Zukunft für sie wünschen. Kurz bevor die ersten Vorlesungen meines BWL-Studiums beginnen sollten, gab es eine Art Einführungswoche, die damit endete, dass alle Studenten sturzbetrunken waren und teilweise nicht mehr wussten wie sie nach Hause kommen sollten. Und genau so haben wir uns auch kennengelernt. Ich wollte gerade von der Party nach Hause gehen, stocknüchtern wohlbemerkt, da ich seit einigen Jahren keinen Alkohol mehr anrühre, da sah ich sie auf dem Bordstein sitzen. Sie wirkte so aufgelöst, dass ich sie fragte ob bei ihr alles okay sei. Ich weiß nicht wie, aber ehe ich es mich versah, saßen wir nebeneinander auf dem Bordstein und redeten über Gott und die Welt. Nachdem sie mir verriet das sie auch zu denen gehört die nicht wissen wie sie zurück in ihre Wohnung kommen soll, habe ich ihr kurzerhand angeboten bei mir zu schlafen. Erst am nächsten Morgen haben wir dann festgestellt, dass wir sogar denselben Studiengang belegen, aber da war unsere Freundschaft schon längst besiegelt.

In dem Moment in dem wir die Apotheke betraten fällt mir ein, dass ich Jacob, meinem Freund, Aspirin mitbringen sollte. Nachdem er mich vor etwa einem halben Jahr in einem Café angesprochen hatte, ging es sehr schnell bei uns. Wir wohnen mehr oder weniger zusammen und es fühlt sich zum ersten Mal in meinem Leben nach einer richtigen Beziehung an. Das wurde mit meinen fast 26 Jahren aber auch mal höchste Eisenbahn. Um ein wenig Zeit zu sparen, bestellten wir die Medikamente zusammen und ließen sie in eine große Tüte packen. Auf dem Weg nach Hause schaffte es Rebekka dann doch noch, mich zu einem Kaffee zu überreden.

Wir saßen in einem süßen Café mit runden Tischen und einer Menge Lampen von unterschiedlicher Größe, die von der Decke baumelnden. »Lass uns mal schnell die Einkäufe aus der Apotheke aufteilen.« Während sie das sagte, hatte sie sich schon die Tüte gegriffen und die Sachen herausgeholt. Plötzlich hielt sie in der Bewegung inne und sah mich verwundert an. »Hast du dein Handy in die Tüte gelegt?« Ich runzelte die Stirn da ich nicht wusste, was diese merkwürdige Frage zu bedeuten hat. »Das werte ich dann mal als ein nein. Aber dann frage ich mich, wie das Ding in diese Tüte kommt?« Sie legte das Handy zwischen uns auf den Tisch. Keine zehn Sekunden später leuchtete es auf. Wir zuckten beide zurück, denn das erste was mir auffällt ist das Hintergrundbild. Es zeigt mich mit 18 Jahren in meiner Heimatstadt, lächelnd und unbeschwert. Ich kann nicht sagen wo oder wie das Bild entstanden ist oder wer es von mir gemacht haben soll. Doch was mich noch mehr irritiert als das das Handy anscheinend Bilder von mir enthält, ist der Grund weshalb es anfing zu leuchten. Eine Nachricht, zwar kurz, aber die hatte es in sich.

Ich weiß was du getan hast.

   Kapitel 2                                          Vor einem Jahr

»Ich hatte eine glückliche Kindheit. Eltern die mich lieben, einen Freund der mich verehrte, Freundinnen die für jeden Spaß zu haben waren und ich stand kurz vor meinen Umzug nach Berlin um Betriebswirtschaft zu studieren. 538,5 Kilometer entfernt von hier. Es hätte für eine 18-Jährige Sara Kaminski gar nicht besser laufen können. Zumindest, wenn man es oberflächlich betrachtet.« »Erzählen Sie mir mehr.« Dr. Golem betrachtete mich mit ausdrucksloser Miene und wartete bis ich weitersprach. Die Erlebnisse, die mich nachts nicht ruhig schlafen ließen verfolgen mich nun schon seit sieben Jahren. Ich war schon lange nicht mehr das Mädchen von damals und trotzdem scheint sich die Vergangenheit in mir festzubeißen, wie ein wildgewordener Terrier. Also beschloss ich, nicht mehr davon zu laufen und mich in die Hand eines Therapeuten zu begeben. Naja, Dr. Ines Golem war keine richtige Therapeutin. Sie war lediglich eine Frau die ich dafür bezahle, mir zuzuhören und darüber Stillschweigen zu wahren, in der Hoffnung mein Gewissen erleichtern zu können.

»Mein Freund Thomas war schon seit längerem nicht mehr so gut auf mich zu sprechen. Wir waren seit zwei Jahren ein Paar, doch jetzt stand mein Umzug unmittelbar bevor. Der Gedanke einer Fernbeziehung machte ihm scheinbar mehr zu schaffen als er zugeben wollte. Wir stritten viel, sehr viel. Über Kleinigkeiten, meine Kleidung, das Wetter… es nahm einfach kein Ende mehr.« »Erzählen Sie mir mehr.« Dr. Golem verzieht immer noch keine Miene und starrt mich weiter unverwandt an. Langsam glaube ich, dass sie gar nicht wirklich versteht was ich eigentlich sage und das „erzählen Sie mir mehr“ einer der wenigen Sätze ist, die sie kann. Ihrem Aussehen und dem Dialekt eine bestimmte Herkunft zuzuordnen fällt mir ohnehin sehr schwer. Aber das soll mir nur recht sein. Hauptsache, ich werde die immer wiederkehrenden Alpträume ein für alle Mal los. »Ein Mädchen aus meinem Jahrgang wollte die bestandenen Prüfungen feiern und lud sämtliche Mitschüler und deren Freunde zu einer Party in das Ferienhaus ihrer Eltern ein. Es lag etwas abgelegen in einem Vorort meiner Heimatstadt. Was perfekt war, wenn man ein wenig über die Stränge schlagen möchte und niemanden einen stören kann. Aber ich wollte nicht hingehen, wirklich nicht. Feiern war einfach nicht mein Ding und Thomas war sowieso immer in meinem Hinterkopf. Doch Maddie und Eva, meine engsten Freunde damals, ließen mir keine andere Wahl und wir machten uns zusammen fertig. Drei Sektflaschen später waren wir bereit.«

»Trinken ist gut, erzählen Sie mir mehr.« Jetzt bin ich mir sehr sicher, dass sie keine eingetragene Therapeutin ist. Aber allein nach diesen paar Sätzen, die gerade mal den Anfang meiner Vergangenheit preisgaben, merke ich, wie ich einen Hauch von Erleichterung spüre. »Ich weiß gar nicht wieso, aber wir übertrieben maßlos. Dem Wein folgte Bier und dann eine halbe Flasche Whiskey, ohne Eis. Es war der letzte Abend den wir gemeinsam verbringen konnten bevor für uns alle ein neuer Lebensabschnitt in unterschiedlichen Städten beginnen sollte. Also gaben wir alles.« Ich räusperte mich und nahm einen Schluck Wasser, das auf dem kleinen Tisch zwischen unseren Sesseln stand. Unsere „Sitzungen“ finden in ihrer kleinen, aber schön eingerichteten Wohnung statt. Dr. Golem sagte kein Wort und sah mich nur weiterhin unverwandt an. Also sprach ich einfach weiter. »Die Party lief gut, sehr gut sogar. Jedenfalls soweit wie ich mich erinnern kann. Wir haben getanzt, gelacht und immer weiter getrunken, bis Maddie und Eva plötzlich nicht mehr da waren. Vielleicht haben sie mir gesagt dass sie gehen wollten, ich kann mich nicht mehr erinnern.« »Und was ist dann passiert?« Vielleicht war es Einbildung, aber ich meine ein kurzes Funkeln in Dr. Golem’s Augen gesehen zu haben. Scheinbar macht es ihr Spaß Geschichten aus meiner Vergangenheit zu hören. Mal sehen wie lange noch.  

»Ich bin geblieben und hatte Spaß. Ein bisschen zu viel Spaß.«

Kapitel 3                                                                Heute

Mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Rebekka entging meine Reaktion nicht und bevor ich etwas sagen konnte, griff sie auch schon nach dem Handy und betrachtete es genauer. »Bist du das?«, fragte sie mit vor Schreck geweiteten Augen. Mein Nicken ist überflüssig, denn bis auf mein Alter hat sich an meinem Äußeren nicht wirklich etwas geändert. Ich habe immer noch dieselben langen blonden Haare und meine giftgrünen Augen sind ohnehin oft das Erste, was den Leuten an mir auffällt. »Das ist echt abgefahren, Sara! Das ganze Handy ist voller Bilder von dir!« Rebekka hatte Recht. Wir verbrachten die ganze nächste Stunde damit, dass Handy immer weiter zu durchforsten. Aber bis auf etliche Bilder von mir, die mich in der Schule, Zuhause und auf der Party kurz vor meinem Umzug zeigen, schien das Handy wie neu zu sein.

Als ich an diesem Tag nach Hause kam, hatte ich den Schock immer noch nicht ganz verarbeitet. Jacob stand bereits in der Küche und bereitete das Abendessen für uns vor. Ein Grund mehr wieso er der perfekte Mann für mich ist. Aber wer hätte nicht gerne einen gelernten Chefkoch zum Freund? Nachdem ich bei einem missglückten Versuch Kartoffelsuppe zu kochen, die Küche unter Wasser gestellt habe, ist diese jetzt Jacob’s Territorium. Ich betrete sie lediglich, um die Einkäufe in den Kühlschrank einzuräumen. Er blickte von dem Herd auf und betrachtete mich aufmerksam. »Ist alles okay bei dir? Du wirkst so angespannt.« »Ja alles gut«, antwortete ich mit einem Lächeln und gab ihm einen Kuss. Weil es das ist was von mir erwartet wird: Funktionieren. Mich darf nichts aus der Ruhe bringen. Ich habe mein altes Leben hinter mir gelassen und auf gar keinen Fall möchte ich, dass Jacob mit irgendetwas aus dieser Zeit in Berührung kommt.

Nach dem Essen macht sich Jacob für einen Abend mit seinen Freunden bereit und verlässt wenig später die Wohnung. Ich lasse mich auf das große Ecksofa fallen und gehe meinen Gedanken nach, die in meinem Kopf gar nicht genug Achterbahn fahren können. Wer hat die ganzen Bilder von mir geschossen? Wem gehörte das Handy? Rebekka und ich hatten bereits aus Neugier versucht die Nummer mit ihrem Handy anzurufen, diese war allerdings nicht mehr vergeben. Wer könnte ein Interesse daran haben, mein jetziges Leben zu zerstören?

Und dann kommt mir ein Gedanke und mir läuft es augenblicklich kalt den Rücken herunter. Ich griff zu meinem Handy und wählte Rebekka’s Nummer. »Lust auf einen Road Trip?«                   

                                        Kapitel 4                                             Vor einem Jahr

»Da war ein Junge auf der Party. Ich kann mich nicht mehr an seinen Namen erinnern, oder an sein Aussehen, oder an sonst irgendetwas das mit ihm in Verbindung steht. Aber er war da und wir haben getanzt, sehr eng getanzt.« »Erzählen Sie mir mehr.« Innerhalb der letzten Stunde hatte sich scheinbar nichts geändert. Ich rede und sie sagt eine der wenigen Sätze die sie offensichtlich nur beherrscht. »Als niemand mehr da war sind wir gegangen. Gegenüber dem Anwesen gab es eine kleine Scheune, die nur als Heulager benutzt wurde. Da sind wir rein. Die nächste Erinnerung die ich habe ist, dass ich neben ihm aufgewacht bin. Nackt. Ich habe es Thomas nicht erzählt. Ihm nicht und sonst auch niemanden. Ich habe mich so geschämt dass ich die Beziehung beendet und unsere Streitereien als einzigen Grund vorgeschoben habe.« »Und was ist dann passiert?«, fragte Dr. Golem wieder mit diesem verräterischen Funkeln in den Augen. Ich glaube langsam, sie mag das Drama. Mich an Thomas zu erinnern fällt mir nicht leicht. Ich habe nicht ohne Grund sämtliche Erinnerung die mit ihm in Verbindung stehen, gedanklich in eine Box gesteckt und ganz tief in mir vergraben.  »Er hat gekämpft. Jedenfalls am Anfang. Einmal wurden Blumen an unsere Haustür geliefert mit einer Nachricht, dass ich um 20 Uhr in den Stadtpark kommen soll. Das habe ich ignoriert. So wie alle Nachrichten die davor oder danach folgten.«

»Wieso haben Sie das getan?« Dieser Satz ist neu. Auch wenn ich nicht genau weiß ob die Frage auf mein Geständnis oder die Tatsache dass ich ihn danach ignoriert habe, bezogen war, beantworte ich einfach beides. »Wie gesagt lief es schon eine ganze Weile nicht mehr so gut zwischen uns. Ich hatte immer mehr das Gefühl das ihn es stört wenn ich glücklich bin und er dafür nicht der Grund ist. Wenn ich zum Beispiel mit meinen Freundinnen ausgehen wollte, lautete seine Antwort auf meine unausgesprochene Frage immer „Nein“. Er hat mich zunehmend eingeschränkt und das führte dann zu mal mehr, mal weniger heftigen Streitereien. Alles was ich machte war für ihn scheinbar nicht mehr gut genug. Vielleicht habe ich mich deshalb zu dieser dummen Aktion hinreißen lassen. Ich wollte mir damals nicht eingestehen, wie unglücklich ich im Grunde war. Ich weiß, dass das was ich getan habe falsch war und das möchte ich auch gar nicht rechtfertigen. Aber der Betrug ist nicht der Grund weswegen ich nachts nicht schlafen kann und mich diese Alpträume seit Jahren verfolgen.«

»Was dann?« Dr. Golem schien mir immer interessierter an meiner Geschichte zu werden. Obwohl ich mir nicht sicher bin ob sie das, was gleich kommen wird, überhaupt hören möchte. Ich hole einmal tief Luft, um das auszusprechen was mich seit Jahren verfolgt.

»Ich denke ich habe jemanden umgebracht.«

                                       Kapitel 5

538,5 Kilometer liegen vor uns. Nach meinem gestrigen Anruf war Rebekka sofort Feuer und Flamme für meine Idee und schon saßen wir an einem Samstagmorgen in ihrem kleinen Pick-up und machten eine Reise in meine Vergangenheit. Jacob habe ich nur gesagt, dass ich meinen Tag spontan mit Rebekka verbringen möchte. Begeistert war er nicht, da der Samstag der einzige Tag war an dem wir ausschließlich Zeit für uns haben. Aber er vertraut mir und hat deshalb auch keine weiteren Fragen gestellt. »So, und wieso sitzen wir jetzt so früh am Morgen in meinem Auto und fahren in deine Heimatstadt?« Ich habe mich schon gefragt, wann sie diese Frage stellen würde. Aber sie stürzt sich generell erst einmal in jedes Abenteuer das sie finden kann und stellt erst im Nachhinein fragen, oder eben mittendrin.

Die nächsten drei Stunden verbrachte ich damit, ihr alles über und mit Thomas zu erzählen, einschließlich des Grundes weshalb die Beziehung und der Kontakt abbrachen. Ihr einziger Kommentar zu meiner Geschichte war »Mensch Sara, du warst ja ein richtiger Rebell!« Wir brachen in lautes Gelächter aus und der Kloß der sich während des Erzählens gebildet hatte, verschwand langsam. Gegen Mittag kamen wir an unserem Ziel an. Von meiner Mama wusste ich, dass Thomas zwar ausgezogen war, jetzt allerdings nur drei Straßen weiter wohnt. Die Adresse herauszubekommen war demnach gar nicht schwer. Ich habe mir gar keine Gedanken gemacht was ich ihm eigentlich genau sagen möchte. Ich weiß nur, dass ich Antworten brauche. Mit klopfenden Herzen stiegen wir aus und klingelten an der Tür, das Handy hielt ich fest in der Hand.

»Sara?« Ungläubig sah Thomas mich an. Seine kurzen blonden Locken fielen ihm über die Augen und er trug ein weißes T-Shirt, kombiniert zu einer alten Jogginghose. »Dürfen wir reinkommen?«, fragte ich schüchtern. Mein Herz klopft jetzt noch wilder. Fünf Minuten später saßen wir uns an seinem Küchentisch gegenüber. »Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll, dass du hier einfach so auftauchst ohne mir vorher Bescheid zu sagen.« Seine Verwunderung schwenkte langsam in Wut um. »Also, was genau willst du hier?« »Kommt dir das bekannt vor?«, stellte ich ihm als Gegenfrage und legte das Handy vor uns auf dem Tisch. »Nein, was soll ich damit?« Er runzelte die Stirn und funkelte mich wütend an. »Das haben wir gestern gefunden. Es enthält lauter Bilder von mir, von früher«, versuchte ich ihm zu erklären. »Ach und jetzt denkst du, dass ich dahinterstecke? Du machst damals einfach Schluss mit mir, meldest dich nie wieder und jetzt stellst du mich so dar als ob ich nie darüber hinweggekommen bin? Das kann ich einfach nicht fassen. Wenn du nicht gleich von hier verschwindest Sara, dann…« Er sprang von seinem Stuhl auf und sah mich wütend an. Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da kam mir Rebekka zuvor. Mit einem Augenzwinkern erwidert sie »Ich glaube nicht das Sara Angst vor einem Esel hat.« Er drehte seinen Kopf in ihre Richtung, darum bemüht die Beherrschung nicht zu verlieren. »Seht zu das ihr von hier verschwindet!«

Ich wollte gerade nach dem Handy greifen, das noch immer auf dem Küchentisch lag, da leuchtet es plötzlich auf. Eine neue Nachricht.

Du kannst die Vergangenheit nicht ungeschehen machen.    

                                       Kapitel 6                                             Vor einem Jahr

»Erzählen Sie mir mehr.« Ich weiß nicht wie, aber Dr. Golem hatte es geschafft, immer noch keine einzige Miene zu verziehen. Was mich dazu veranlasst, einfach weiter zu reden ohne mir über mögliche Konsequenzen Gedanken zu machen, die eintreten könnten, falls sie sich nicht an die Abmachung halten sollte und doch mit jemanden über meine Erlebnisse spricht. »Als ich in der Scheune aufgewacht bin, war ich immer noch betrunken. Mehr als das: ich war stockbesoffen. Lange konnte ich auch gar nicht geschlafen haben, die Sonne war noch nicht aufgegangen. Ich konnte mich noch nicht mal mehr erinnern wie ich in die zweite Etage eines Heulagers gekommen war, geschweige denn, wer der Typ neben mir sein soll, den ich im Halbdunkeln gar nicht wirklich erkennen konnte. In dem Moment in dem ich realisierte was ich getan hatte, wollte ich einfach nur weg. Ich versuchte meine Klamotten zusammenzusammeln und möglichst richtig herum wieder anzuziehen. Plötzlich streckte sich eine Hand nach mir aus und hielt mich fest. Zu fest. Ich versuchte mich zu befreien, es gelang mir aber nicht. Er sagte irgendwas zu mir, dass bekam ich aber nicht wirklich mit. Ich wollte einfach nur noch verschwinden.« Ich kann ihr anmerken das sie unbedingt wissen möchte wie diese Geschichte endet. So als würde ich ihr eine Szene aus einem Kriminalroman vorlesen, und nicht mein dunkelstes Geheimnis preisgeben. Ich trank einen Schluck Wasser, holte noch einmal tief Luft und hoffte, die Alpträume besiegen zu können, in dem ich zum aller ersten Mal einer Person den schrecklichsten Fehler meines Lebens gestand.

»Irgendwie gelang es mir dann doch mich zu befreien. Während ich aber überlegte wie ich aus dem Heuhaufen in der zweiten Etage herunter komme, stand er plötzlich wieder vor mir und wollte mich zum Bleiben überreden. Der Streit eskalierte. Während er versuchte mich zu packen, schlug ich seine Hand weg. Er verlor das Gleichgewicht und viel. Drei Meter in die Tiefe, abgebremst durch ein bisschen Heu. Ich konnte gar nicht mehr denken. Alles was ich sah war er, reglos und blutend. Und dann rannte ich weg.«

Kapitel 7                                                      Heute

Während wir wieder im Auto saßen, zitterte ich immer noch. Ich kann einfach nicht mehr klar denken. Wenn es nicht Thomas war der mir mit dem Handy einen Schrecken einjagen wollte, wer war es dann?

Gegen Abend erreichten wir wieder Berlin und ich betrat immer noch in Gedanken versunken die Wohnung. »Jakob?«, rief ich, erhielt aber keine Antwort. Vermutlich ist er noch im Restaurant. Also entschloss ich mich dazu schon mal mit dem Kochen anzufangen. Mit kochen meine ich, Brot aufschneiden und Sachen aus dem Kühlschrank holen, mit denen man die Brotscheiben belegen kann. »Wo hat er denn nur das Schneidebrett hingetan?«, murmelte ich vor mich hin, während ich sämtliche Schränke durchsuchte. Immer noch fluchend sah ich auf einmal in einem der Hängeschränke eine kleine braune Kiste. Aus reiner Neugier nahm ich es heraus und sah hinein. Mir blieb kurz der Atmen stehen. In der Kiste lag ein schwarzes einfaches Handy. Meine Gedanken rasten und gingen jede Möglichkeit durch, doch nichts ergab Sinn. Bin ich paranoid? Hat mich die ganze Sache so sehr mitgenommen, dass ich jetzt sogar meinen eigenen Freund verdächtige? Es muss doch einfach eine rationale Erklärung für das hier geben!

Vielleicht bildete ich mir alles nur ein und Rebekka kann mir eine logische Schlussfolgerung nennen, zu der mein Gehirn gerade nicht fähig ist. Ich griff zu meinem eigenen Handy und wählte ihre Nummer. Plötzlich nahm mir jemand von hinten mein Telefon aus der Hand. Ich war anscheinend so tief in Gedanken versunken, dass ich die Wohnungstür nicht gehört hatte. Immer noch starr vor Schreck konnte ich noch keinen klaren Gedanken fassen oder mich bewegen. Ich starrte Jacob einfach nur mit Angst in den Augen an. Ein Gedanke den ich bis jetzt nicht wahrhaben wollte wurde zur Realität in dem er sagte »Ich habe mich schon gefragt, wann du dahinter kommst.«

»Ich verstehe das nicht. Was hat das zu bedeuten? Hast du mir die Nachrichten geschickt und die Bilder von mir gemacht?« Ich fand endlich meine Stimme wieder aber ich weiß nicht ob ich bereit bin, für das was jetzt folgen wird. Es stiehlt sich ein kleines Lächeln in sein Gesicht. Er legte das Handy auf den Küchentisch und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand, gegenüber von mir. »Die Apothekerin war so freundlich, mir gegen ein kleines Entgelt einen Gefallen zu tun.« Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das hier gerade tatsächlich passiert. Ich warte nur darauf, dass ich gleich aufwache und feststelle, dass das alles ein einziger Albtraum war. Darum bemüht, einigermaßen die Fassung zu bewahren, schaffte ich es nur ein leises »wieso?« herauszupressen. »Das ist eine sehr gute Frage, Liebling. Erinnerst du dich an den Tag oder besser gesagt, an die Party nach deinen Abschlussprüfungen? Du bist mir davor schon einige Male aufgefallen, hast aber nie auch nur Notiz von mir genommen. Es blieb mir nichts weiter übrig, als dich von der Ferne zu bewundert. Bis zu diesem Tag. Du hattest sehr viel getrunken, aber das war mir egal. Ich wollte diese Möglichkeit nicht verstreichen lassen. Als wir uns dann endlich annäherten, konnte ich mein Glück kaum fassen. Die Nacht in der Scheune war dann die Kirsche auf der Eistorte. Aber offensichtlich nur für mich, du konntest am nächsten Tag gar nicht schnell genug von mir wegkommen. Ich bin dir noch nicht einmal böse, dass du mich nach meinem Sturz einfach liegen gelassen hast. Ich glaube, in deiner Verfassung wärst du ohnehin keine große Hilfe gewesen. Aber was mich richtig wütend gemacht hat, war die Art wie du danach mit mir umgegangen bist. Als würde ich gar nicht existieren. Ich habe dir sogar Blumen geschickt und wollte dich unbedingt wiedersehen. Doch du bist nie aufgetaucht.« Die Erkenntnis traf mich mit einem Schlag. »Die Blumen waren von dir?«, brachte ich fassungslos hervor. »Natürlich, von wem sollten sie denn sonst gewesen sein? Von Thomas? Bitte, ich habe dich und deine Freunde wochenlang aus der Ferne beobachtet und selbst ich weiß, dass Thomas nicht der Blumentyp ist. Ich hätte auch nicht gedacht, dass mir meine ganze Bildersammlung mal von Nutzen sein würde.« Während ich nichts weiter tun kann als da stehen und ihn ungläubig anzustarren, schien er seine Ansprache richtig zu genießen. »Ich wollte dir zeigen wie es sich anfühlt, wenn man benutzt und dann einfach weggeworfen wird. Es war mein Glück, dass dich die ganze Angelegenheit so sehr mitgenommen hat, dass du dich auf alles gestürzt hast, was dir auch nur einen Hauch von Sicherheit verspricht, einschließlich mir. Ich wollte warten bis du dich bei mir wohl und sicher fühlst, und es dir dann heimzahlen. Ich hoffe du hast das letzte Jahr mit mir genossen. Und ich hoffe, dass du die nächsten Jahre genau das fühlen musst, was ich durchbemacht habe!« Sein Lächeln wurde immer breiter und boshafter. Weder kannte ich diese Person die genau vor mir steht, noch konnte ich einschätzen zu was sie fähig ist.

Doch bevor er auch nur einen Schritt auf mich zu machen kann, klingelte es an unserer Haustür Sturm. »Aufmachen, Polizei!«

Kapitel 8                                            1 Jahr später

Es ist Dienstagabend und ich schlenderte mit Rebekka ein wenig durch die Stadt. Auch wenn sich in dem letzten Jahr eine Menge geändert hatte, meine Freundschaft zu ihr gehört nicht dazu. Ohne sie weiß ich auch gar nicht, wie die ganze Sache sonst ausgegangen wäre. Als mir Jacob das Handy wegnahm, war die Nummer bereits gewählt und Rebekka konnte das ganze Gespräch mit anhören. Sie zögerte nicht lange und rief vorsichtshalber die Polizei. Was genau aus Jacob wurde, weiß ich nicht so genau, nur das er einen Weg gefunden hat, um glimpflich aus der ganzen Geschichte herauszukommen. Was mir recht sein soll, solange wie er von der Bildfläche verschwunden blieb.

Und was mich angeht, ich habe gelernt zu meinen Fehlern zu stehen. Nachdem sich Rebekka ungewollt meine halbe Vergangenheit offenbarte und wir lange und breit darüber geredet hatten, wurde mir eins bewusst. Ich kann nicht vor meinen Taten weglaufen, selbst wenn ich die Folgen nicht vorhersehen kann. Das führt nur dazu, dass mich meine Vergangenheit früher oder später einholt und dann doch wieder ein Teil von mir wird. Diese Erkenntnis hat mir auch geholfen, mein jetziges Leben noch einmal auf den Kopf zu stellen. Ich muss nicht jeden Gefallen und ich bin auch nicht mehr zwanghaft darum bemüht, nach außen hin ein perfektes Bild abzugeben. Jetzt richte ich den Fokus vorerst ausschließlich auf mich und die Menschen die ich liebe.

 

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