lisl17Eingeholt

„Ja, natürlich, helfe ich dir beim Abendessen richten, mein Schatz! Ich hole nur noch eben die Post.“ Lena Maurer greift nach dem Schlüsselbund, öffnet die Wohnungstür und läuft die Treppen des Mehrfamilienhauses hinunter. An den Briefkästen angelangt, braucht Lena einen Moment, bis sie den mit der Aufschrift „Maurer“ gefunden hat. Obwohl Tobias und sie nun bereits seit sechs Monaten in dem schönen Wohnhaus in München-Sendling wohnen, fühlt sie sich immer noch nicht ganz angekommen. Endlich konnten sie die Traumwohnung in ihrer Lieblingsstadt ergattern, nachdem Lena bereits ein Jahr zuvor das Jobangebot einer bekannten Redaktion erhalten hatte. Und auch ihre Beziehung zu Tobias geht nun schon seit vierzehn Jahren nur bergauf. Eigentlich hätte Lena keinen Grund, zu zweifeln. Dennoch erwischt sie sich häufig dabei, wie sie gedanklich in die Vergangenheit abschweift. Auch Tobias war das in letzter Zeit aufgefallen. Lena schüttelt den Kopf, um die grüblerischen Gedanken zu vertreiben und öffnet den Briefkasten. Rechnungen, ein Brief der Stadtverwaltung für Tobias und ein kleines Päckchen mit ihrem Namen drauf. Ich habe doch gar nichts bestellt, wundert sich Lena, ein Absender ist nicht vermerkt. Vielleicht ein verspätetes Willkommensgeschenk eines Nachbarn oder ein Werbescherz.

„Ich bin schon fertig mit dem Kochen. War bei der Post etwas Wichtiges dabei?“, fragt Tobias als Lena zurück in die Wohnung kommt. „Nur das Übliche.“, antwortet Lena. Tobias kommt mit zwei duftenden Tellern aus der Küche. Sein Blick fällt auf das kleine Päckchen in Lenas Hand. „Was ist da drin? Von wem ist das?“, fragt er neugierig. „Ich weiß es nicht, ich werde es später öffnen. Lass uns erstmal essen, das riecht wirklich köstlich!“

Später am Abend, nachdem Lena und Tobias sich noch den üblichen Sonntagabend-Tatort angeschaut haben, liegt Lena wach im Bett. Neben ihr hört sie Tobias‘ leises Schnarchen. Was wohl in dem Päckchen ist?, grübelt Lena. Es lässt sie einfach nicht zur Ruhe kommen. Also steht Lena nochmal auf und schleicht sich leise aus dem Schlafzimmer. Das Päckchen liegt unberührt auf der Kommode im Flur, wo Lena es vor dem Abendessen abgelegt hatte. Sie nimmt es in die Hand und betrachtet es erneut von allen Seiten. Lena schüttelt das Päckchen sachte und versucht zu hören, was sich darin befinden könnte. Es hört sich dumpf an. Ich muss es öffnen, denkt sich Lena, anders werde ich heute Nacht nicht schlafen können. Schon als sie das Päckchen vorsichtig aufzureißen beginnt, wird ihr bewusst, dass sie danach erst nicht schlafen wird. Im Inneren des Päckchens findet Lena ein Handy. Sie nimmt es in die Hand, als würde es sich dabei um etwas Zerbrechliches handeln. Das Handy ist ausgeschaltet, also drückt Lena den Powerknopf. Es fährt hoch und der Startbildschirm wird angezeigt. Sowohl die SIM-Karte als auch das Handy an sich sind nicht mit einer PIN gesichert. Lena zögert. Es fühlt sich falsch an, in den Dateien eines fremden Menschen zu stöbern. Aber wenn ich es nicht hätte sehen sollen, wieso lag das Handy dann in meinem Briefkasten?, versucht sie sich zu rechtfertigen. Das Päckchen war eindeutig an sie adressiert. Ihr Gewissen etwas beruhigt, entsperrt Lena den Bildschirm. Auf dem Handy befinden sich keine Anwendungen und unter den Kontakten ist ebenso keine Nummer eingespeichert. Die einzige Anwendung, die Dateien zu enthalten scheint, ist die Fotogalerie. Soll ich oder soll ich nicht?, schwankt Lena wieder. Ach, was soll schon passieren, denkt sie und öffnet die Galerie. Was sie dort sieht, lässt ihr die Luft wegbleiben. Das ist doch wohl ein schlechter Scherz, ärgert sich Lena, das kann wahr sein. In der Galerie befinden sich Hunderte an Fotos – Fotos, auf denen ausschließlich Lena selbst zu sehen ist. Das kann doch nicht wahr sein, schaudert Lena, was soll das denn bedeuten? Hin- und hergerissen zwischen Beklommenheit, Angst und Wut, siegt ihre Neugier. Lena öffnet das erste Foto. Das Foto muss erst kürzlich entstanden sein, denn es zeigt sie in ihren neusten Schuhen vor den Mülltonnen des Wohnhauses. Auf weiteren Fotos ist Lena auf dem Weg zur Arbeit, in der Stadt und auch in ihrer Wohnung durch das Fenster hindurch zu sehen. Während Lena so durch die Fotos scrollt, wird ihr immer unbehaglicher zumute. Wer auch immer der Urheber dieser Fotos ist, muss sie schon eine ganze Weile beobachtet haben. In der Hoffnung auf mehr Aufschluss darüber, was es mit dem Handy und den Fotos auf sich hat, navigiert Lena zum Ende der Galerie. Im ersten Moment kann Lena nicht glauben, was sie dort sieht. Das bilde ich mir nur ein, das liegt bestimmt an den zwei Gläsern Wein, die ich vorhin zum Essen getrunken habe, redet Lena sich ein. Doch die Fotos sind real. Beim Öffnen des letzten Fotos in der Galerie, fällt Lena vor Schreck beinahe das Handy aus der Hand. Das kann nicht sein, wiederholt sie gedanklich immer wieder, unmöglich. Bei dem Foto handelt es sich um eine Ultraschallaufnahme, datiert auf den 16. Juni 2005. Der Tag, an dem Lena sich zum ersten Mal zum Arzt traute, nachdem der Schwangerschaftstest positiv ausgefallen war. Bei Lena bestehen keine Zweifel, dass auch dieses Foto sie, beziehungsweise das zu diesem Zeitpunkt in ihrem Körper entstehende Leben, zeigt. Aus Sorge, sich weiter mit dem Hintergrund dessen beschäftigen zu müssen, schließt Lena die Galerie und schaltet das Handy aus. Tobias darf das bloß nicht zu Gesicht bekommen, wird Lena bewusst. Sie versteckt das Handy unter ihrer Unterwäsche in einer Schublade. Dort wird Tobias schon nicht reinschauen, versichert sie sich. Das leere Päckchen wirft Lena vorsichtshalber in ihre Mülltonne vor dem Haus. Die wird am Morgen sowieso geleert. Sich sicher, alle Spuren entfernt zu haben, legt sich Lena schließlich wieder ins Bett und schließt die Augen.

Am nächsten Morgen wacht Lena beim Klingeln des Weckers anfangs unbedarft auf. Sie wundert sich einzig über ihre ungewohnte Müdigkeit. Schlagartig fällt ihr jedoch wieder ein, was am Abend zuvor passiert ist. Nein, nein, das muss ein Traum gewesen sein, versucht sie sich zu beruhigen, ein böser Albtraum.

Als Lena abends von der Arbeit nach Hause kommt, kann sie der Versuchung doch nicht widerstehen. Sie öffnet die Unterwäscheschublade, hoffend, nicht das zu finden, was sie befürchtet. Doch das fremde Handy befindet sich noch dort. Soll ich es nochmal anschalten und nachsehen?, fragt sich Lena. Im selben Moment hört sie, wie sich die Haustür öffnet. „Hallo! Ich bin da!“, ruft Tobias aus dem Flur. Hastig verstaut sie das Handy wieder an seinem Platz. „Abend, Schatz, wie war dein Tag?“ „Anstrengend, ein Patient nach dem anderen. Aber was soll’s, dafür liebe ich meinen Job ja.“ Tobias kommt ins Schlafzimmer und begrüßt Lena mit einem Kuss. „Du warst heute Nacht lange wach, kann das sein?“ „Ja, ich konnte nicht schlafen.“, antwortet ihm Lena. „Das Essen lag mir schwer im Magen.“ Mit einem Lächeln versucht sie das Thema abzuschließen. „Wie wäre es heute Abend dann nur mit einem Salat?“, schlägt Tobias vor. „Das klingt gut!“

Beim Abwasch fragt Tobias unvermittelt: „Was war denn eigentlich in dem Päckchen? Hast du es mittlerweile geöffnet?“ „Nein, ich habe es entsorgt.“, weicht Lena aus. „Wieso das denn?“, Tobias ist erstaunt. „Es stand kein Absender drauf. Da hätte alles Mögliche drin sein können. Denk nicht weiter darüber nach, war bestimmt nichts Wichtiges.“ „Schade, es hätte mich schon interessiert.“, antwortet Tobias achselzuckend. Lena versucht das Thema zu wechseln: „Schalte schon einmal den Film an, ich muss noch schnell die Wäsche im Schlafzimmer aufräumen.“

Erleichtert, die unangenehme Sache bei Tobias vorerst aus der Welt geschafft zu haben, schließt Lena die Schlafzimmertür hinter sich. Ich muss das Handy anmachen, ermutigt sie sich, ich muss wissen, was das bedeutet. Sie fährt das Handy hoch. Doch als sie erneut die Galerie öffnen will, gibt das Handy einen kurzen Ton von sich. Es wird der Eingang einer SMS angezeigt. Trotz der Furcht vor dem, was sie erwarten könnte, öffnet Lena diese. „Gib mir zurück, was du mir genommen hast.“, lautet der Beginn der SMS. „Mein Leben.“ Lena weiß nicht, was sie mit dieser kryptischen Aufforderung anfangen soll. Sie liest weiter. „Ich verfolge dich, auf Schritt und Tritt. Ich kenne jedes deiner Geheimnisse – auch dein schlimmstes. Du hast mich um einen Teil meines Lebens bestohlen, aus reinem Egoismus. Was du mir genommen hast, kann man nicht in Geld aufwiegen. Dennoch ist dies der einzige Weg für dich, dein Verbrechen auszugleichen.“ Es folgt eine Aufforderung an Lena, eine hohe Summe Geld bis zum übernächsten Abend an einem angegebenen Ort zu hinterlegen. „Andernfalls werden alle von deiner Vergangenheit erfahren. Du entkommst mir nicht.“ Lena schaudert. Sie kann nicht glauben, was sie da gerade gelesen hat. Ich werde erpresst, wird ihr bewusst. Langsam sickert die Erkenntnis in ihr Bewusstsein, dass es für sie keinen anderen Ausweg gibt, als dem Befehl des Erpressers Folge zu leisten. Lenas möchte unter keinen Umständen riskieren, dass je jemand von ihrem Geheimnis erfährt. Das würde das Leben, das sie sich in den letzten Jahren so hart erarbeitet hat, für immer zerstören. Ich muss irgendwie so schnell wie möglich an das Geld kommen, grübelt Lena, nur wie? Lena hat sich über die Jahre eine beachtliche Summe auf ihrem Konto angespart, doch das wird bei Weitem nicht ausreichen. Ich muss mir von Papa Geld leihen, denkt Lena, Tobias kann ich unmöglich fragen. Lena nimmt sich für den nächsten Morgen vor, unverzüglich ihren Vater anzurufen. Sie legt das Handy ausgeschaltet in die Schublade, setzt ein unbekümmertes Gesicht auf und geht zurück zu Tobias ins Wohnzimmer.

„Hallo Papa, wie geht es dir?“, erkundigt sich Lena am nächsten Morgen vor der Arbeit bei ihrem Vater am Telefon. Tobias ist schon aus dem Haus, er hat Frühschicht im Krankenhaus. „Gut, danke. Kommen wir direkt zum Punkt: Was möchtest du? Du rufst nie ohne Grund an.“, kommt es prompt zurück. „Es ist nichts. Darf ich denn nicht mal ohne Hintergedanken meinen Vater anrufen und mich nach seinem Wohlbefinden erkundigen?“, antwortet Lena. „Lena, jetzt mach mir nichts vor. Sag mir, was los ist.“ „Du hast recht. Ich brauche Geld. Schnell.“ „Weshalb?“, fragt ihr Vater. Natürlich hat sich Lena schon vor dem Anruf überlegt, mit welcher Lüge sie ihren Vater abspeisen kann: „Tobias und ich haben uns getrennt. Ich brauche Geld für eine eigene Wohnung. Ich möchte so schnell wie möglich ausziehen, ich halte es nicht mehr mit ihm aus.“ Ihr Vater war noch nie überzeugt von ihrer Beziehung zu Tobias. Deshalb weiß Lena, dass sie mit dieser Begründung sicher mit seiner Unterstützung rechnen kann. „Das ist aber schade.“, lautet die wenig überzeugende Antwort ihres Vaters. „Natürlich helfe ich dir. Sag mir einfach, wieviel du brauchst. War ja klar, dass dieser Kerl nichts taugt. Ich habe es dir schon immer gesagt! Der war nie ehrlich zu dir, du hast etwas Besseres verdient!“ Bei diesen Worten muss Lena schlucken. Eher hat Tobias etwas Besseres als mich verdient, denkt sie, spricht es aber nicht laut aus. „Danke, Papa! Du bist meine Rettung!“ Lena nennt ihrem Vater den Betrag, bedankt sich nochmals und legt auf. Nach dem Telefonat atmet Lena tief durch. Das wird schon, ich schaffe das, versucht sie sich zu beruhigen, jetzt kann nichts mehr passieren.

Abends im Bett fragt Tobias nach Lenas Tag. „Letzte Nacht warst du wieder so unruhig. Du hast dich die ganze Zeit hin- und hergeworfen. Und vorhin beim Essen hast du kein Wort mit mir gesprochen. Was beschäftigt dich, Schatz?“ „Es ist nichts, ich bin nur gestresst von der Arbeit.“, wimmelt Lena ihn ab. „Wirklich? Seit Wochen bist du öfter gedanklich abwesend. Ich merke doch, wenn etwas nicht stimmt. Liegt es an mir? Habe ich etwas falsch gemacht? Du kannst es mir sagen, wir bekommen das hin.“ Tobias‘ Sorge rührt Lena. Nochmal mehr wird ihr bewusst, was für ein Glück sie mit ihm und wie unfair sie sich ihm gegenüber verhält. Dennoch bringt sie es nicht über ihr Herz, ihm die Wahrheit zu sagen. „Schatz, es ist alles in Ordnung, ehrlich!“ „Hat es mit diesem Päckchen zu tun? Hast du einen Verehrer?“, Tobias lässt nicht locker. Er kennt sie einfach zu gut. Der Schmerz in seiner Stimme lässt sie innerlich verzweifeln. „Nein, wie kommst du denn darauf? Niemals! Lass uns schlafen, ich bin müde und muss morgen früh aufstehen.“ Lena knipst das Licht aus und dreht sich weg. Sie hört Tobias resigniert seufzen. „Okay, tut mir leid. Das würde ich dir niemals zutrauen. Trotzdem: egal, was ist, wenn du reden willst – ich bin da.“ Du würdest mir so einiges nicht zutrauen, denkt Lena, vor allem die Wahrheit nicht. Lena ist wütend auf sich selbst. Beim Versuch zu schlafen schweifen ihre Gedanken immer wieder zu dem Handy und der morgen anstehenden Geldübergabe.

Nach einer kurzen, wenig erholsamen Nacht steht Lena vor Tobias auf. Ohne ihn zu wecken schnappt sie sich ihre Klamotten sowie das Handy aus der Schublade. In ihrem Büro an der Arbeit angelangt schaltet Lena das Handy ein. Auf der einen Seite wartet sie auf eine neue Benachrichtigung ihres Erpressers. Auf der anderen Seite erhofft sie das Gegenteil: keine neue Nachricht, die Fotos gelöscht, alles vergessen. Doch diese Hoffnung wird enttäuscht. Gerade als Lena das Handy wieder weglegen und sich ihrer Arbeit widmen will, beginnt es zu klingeln. Sie ist überfordert, ist unsicher, ob sie den Anruf annehmen soll. Einerseits möchte sie wissen, was und vor allem wer dahintersteckt. Andererseits stammen die Fotos teilweise aus einem Abschnitt von Lenas Lebens, an den sie nie wieder auch nur einen einzigen Gedanken verschwenden wollte. Letztlich überwiegt erneut die Neugier und Lena drückt den grünen Hörer. Zuerst hört sie nur ein leises Rauschen. „Hallo?“, fragt sie leise. „Wer ist da?“ Nach einigen Sekunden angespannten Wartens meldet sich eine Stimme: „Wie gefällt dir mein Geschenk? Hast du dich erkannt?“ „Was soll das?“, Lenas Stimme wird lauter, unbeherrschter. „Wer ist da am Telefon und was soll das?“ „Jetzt tu nicht so! Du weißt genau wer ich bin!“, antwortet der Anrufer. Lena meint, eine gewissen Provokation in der Stimme wahrzunehmen. Ihr anfängliches Unbehagen verstärkt sich. „Nein, ich habe absolut keine Ahnung, wer sie sind! Was sind das für Fotos? Woher haben sie meine Adresse? Was wissen sie alles über mich? Wie lange verfolgen sie mich schon? Was haben sie mit mir vor?“ Die Fragen sprudeln geradezu aus Lenas Mund. „Jetzt mal halblang.“, unterbricht sie die Stimme. „Die eine oder andere Antwort kennst du bereits. Du musst nur etwas nachdenken, denk an deine Zeit vor München – oder hast du alles schon erfolgreich verdrängt, hier in deinem inszenierten, schönen neuen Leben? Verdrängen konntest du ja schon immer gut.“ Die Stimme klingt wütend, beruhigt sich jedoch schnell wieder. „Aber darum soll es jetzt nicht gehen, deshalb rufe ich nicht an.“ Als von Lena keine Reaktion kommt, fährt der Anrufer fort: „Ich wollte dich nur nochmal an unsere Verabredung heute Abend erinnern. Ich…“ Bevor er fortfahren kann, legt Lena auf. Sie hat genug gehört. Sie möchte nur das Geld am vorgegebenen Ort ablegen und dann nie wieder etwas mit dem Anrufer zu tun haben. Lena erinnert sich an die Bitte an ihren Vater vom Vortag und überprüft über ihr Onlinebanking, ob das Geld bereits überwiesen wurde. Wurde es. Nach der Arbeit macht sich Lena direkt auf den Weg zur Bank und hebt die angeforderte Menge Bargeld ab. Jetzt muss ich es nur noch bis zum Abend vor Tobias verstecken, denkt Lena. Gegen Abend muss er arbeiten, da kann ich ohne Probleme nochmal aus der Wohnung verschwinden.

Als Lena spät abends ihre Wohnung verlässt, ist sie unsicher. Ist das wirklich der richtige Weg?, fragt sie sich. Hätte ich lieber die Polizei informieren sollen? Nein, das ist die einzige Möglichkeit. Das Geld ist mir egal, ich muss alles dafür tun, dass mein Geheimnis mein Geheimnis bleibt, bekräftigt Lena sich. Trotzdem zittert sie am ganzen Körper als sie am Ablageort ankommt. Es ist dunkel. Außer ihr kann sie keinen anderen Menschen erblicken. Du musst nur das Geld ablegen und gehen, dann wird alles gut, beruhigt sie sich erneut. Lena deponiert das Geld wie vereinbart auf dem Boden eines Mülleimers. Im selben Moment greift ein Arm von hinten um sie und etwas Kaltes legt sich an ihren Hals. „Sei bloß still! Wenn du auch nur einen Ton von dir gibst, bist du auf der Stelle tot! Und das wäre sehr schade, denn ich hätte gerne noch mehr Spaß mit dir. Du doch sicherlich auch.“ Lena wimmert. Sie spürt die scharfe Kante des Messers an ihrem Kehlkopf. „Bitte, bitte, tun sie mir nichts! Sie haben doch jetzt das Geld!“ „Glaubst du wirklich, dass es mir um das Geld ging?“, der Angreifer lacht gehässig. „Das ist lediglich ein Bruchteil von dem, was du mir schuldig bist. Du hast mein Leben zerstört. Jetzt zerstöre ich deins.“ Lena weiß nicht, wie sie reagieren soll. Sie hat Todesangst, kann sich vor Furcht nicht mehr bewegen. „Du hörst mir jetzt ganz genau zu, verstanden?“, raunt die Person hinter ihr. Lena nickt vorsichtig, darauf bedacht, ihren Hals nicht näher mit dem Messer in Berührung zu bringen. „Ich weiß alles. Ich weiß, wie wenig ich dir wert war. Meine ganze Jugend lang wusste ich nicht, wo ich hingehöre. Ich war zerfressen von Selbstzweifeln, habe mich nirgendwo zugehörig gefühlt. Aber ich habe schon immer gespürt, dass ein Teil meiner Herkunft vor mir verborgen wird. Schließlich habe ich mit Nachforschungen begonnen. Erstaunlich, wie redselig Menschen werden, wenn man nur andeutet, man würde ihnen das Wichtigste ihres Lebens nehmen, sollten sie nicht mit den geforderten Informationen herausrücken.“ Wieder das gehässige Lachen. „Behauptest du immer noch nicht zu wissen, wer ich bin und was du mir angetan hast? Sprich es aus! Ich will es von dir hören!“ Der Druck an ihrem Hals wird stärker. Lena macht den Mund auf und versucht zu sprechen. Natürlich weiß sie, wer sie bedroht. Insgeheim hat Lena es bereits geahnt seit sie die Fotos auf dem Handy zum ersten Mal öffnete. Doch sie wollte es nicht wahrhaben, hat es verdrängt. Lena hat es verdrängt, so wie sie die Geburt ihrer Tochter vor knapp 16 Jahren über all die Jahre verdrängte. Jetzt trifft sie die Erinnerung daran wie ein Schlag. Lena wurde schwanger, im falschen Moment, vom falschen Mann. Sie lernte ihn auf einer der Partys kennen, zu denen sie zu dieser Zeit häufiger mit ihren meist älteren Freunden ging. Ihr Vater hatte mehrfach erfolglos versucht, sie davon abzuhalten. Er war einer von den Typen, die arglosen Mädchen nicht nur aus reiner Freundlichkeit ein Getränk anboten. Lena war naiv. An den restlichen Teil des Abends, nachdem sie ihr Glas geleert hatte, hat sie nur noch lückenhafte Erinnerungen. Lena weiß nur noch, dass sie sich gut mit dem jungen Mann unterhalten hat, bis sie gemeinsam ins Badezimmer gingen. Es war ihr Erstes Mal. Am nächsten Morgen in ihrem eigenen Bett fühlte Lena sich elend. Sie schob die Übelkeit auf den Alkohol. Doch das Unwohlsein hielt an. Nach einigen Wochen drängte ihr Vater sie dazu, einen Schwangerschaftstest zu machen. Anfangs wimmelte Lena ihn noch ab, aber schließlich stimmte sie zu – was sollte schon passieren? Er konnte nur negativ ausfallen. Doch das Testergebnis war positiv. Lena war am Boden zerstört, sie war zu diesem Zeitpunkt gerade 16 Jahre alt. Besonders ohne ihre Mutter, die schon früh gestorben war, wusste Lena nicht, wie sie ein Kind aufziehen sollte. Zu dem mutmaßlichen Vater ihres Kindes hatte sie seit der verhängnisvollen Party keinen Kontakt mehr gehabt. Ihr Vater war auch keine Hilfe. Als er von ihrer Schwangerschaft erfuhr, war er außer sich. Er hatte es ihr ja gesagt, warf er ihr vor. Für ihn war es unvermeidbar, dass das früher oder später passieren würde bei den Kreisen, in denen sie sich rumtrieb. Lena war bewusst, dass sie das Kind nicht behalten konnte, aber das Risiko einer Abtreibung war zu groß. Also nahm Lenas Vater sie von der Schule. Lena bekam ihre Tochter. Über ein weniger seriöses Portal fand Lenas Vater ein junges Paar, das ein Kind adoptieren wollte, von der Adoptionsagentur aber nicht als geeignet eingestuft worden war. Keine drei Tage nach der Geburt erfolgte die inoffizielle Adoption. Seitdem wollte Lena nichts mehr mit ihrer Tochter und der ganzen Sache zu tun haben. Wenige Monate später, als sie wieder zur Schule ging, lernte sie Tobias kennen. Sie hat ihm nie von ihrer Schwangerschaft erzählt. Allein Tobias hat Lena es zu verdanken, dass sie ihr Leben von Grund auf umgekrempelt hat. Wegen ihm ist Lena dorthin gelangt, wo sie heute steht. Nichtsdestotrotz war er ihrem Vater immer ein Dorn im Auge. Vermutlich, weil er auch in Tobias eine potentielle Gefahr für seine kleine, naive Tochter sah. Außer ihrem Vater weiß niemand von Lenas Vergangenheit und so hätte es auch bleiben sollen.

Als Lena die Rekapitulation ihrer Vergangenheit beendet, ist sie entkräftet. Die Erinnerungen an ihr dunkles Geheimnis, an das, was sie allen verschwiegen hat, erleichtern und erschöpfen sie zugleich. „Glaubst du, ich akzeptiere dein lächerliches Mitleidsgetue und lasse dich entkommen?“, die Stimme des Angreifers dringt in Lenas Ohr und holt sie zurück in die Realität. Lenas Gedanken schwenken zurück zum Hier und Jetzt. Die Panik, der Angreifer und das Messer an ihrer Kehle sickern zurück in ihr Bewusstsein. „Was soll ich denn tun, damit du mich in Frieden lässt? Wie kann ich das wiedergutmachen?“ Lenas Verzweiflung wächst. „Das kannst du nicht.“ „Dann töte mich doch, wenn es das ist, was du willst. Es ist mir egal.“ Lena resigniert. Sie möchte nicht mehr. Sie ist es leid, sich für einen Fehler, den sie ihr Leben lang bereut hat und auch noch weiterhin bereuen wird, zu rechtfertigen. „Das hättest du wohl gerne.“, raunt die Stimme in ihrem Rücken. „Ich werde dir dein Leben zu Hölle machen, so wie du meines.“ Die Worte dringen wie durch Watte in Lenas Gehirn. Sie hört nicht mehr zu. Die Angst bringt sie der Ohnmacht nahe. Kurz bevor Lenas Beine versagen, hört sie in der Ferne eine Stimme, die ruft: „Lass sie los!“

Lena wacht auf. Im ersten Moment ist sie völlig orientierungslos. Sie blinzelt, weiß nicht, wo sie sich befindet. Langsam werden die Konturen um sie herum scharf. Sie erkennt ein Fenster, weiße Armaturen – und Tobias, der sich mit besorgtem Blick über sie beugt. „Wo bin ich?“ Die Worte kommen stockend über Lenas Lippen. „Was ist passiert?“ „Du bist zusammengebrochen. Zum Glück war ich rechtzeitig bei dir.“ Tobias streichelt ihr liebevoll über die Wange. „Aber… wie hast du mich gefunden?“, fragt Lena durcheinander. „Es kam mir komisch vor, dein ganzes Verhalten seitdem das kleine Päckchen vor drei Tagen bei uns ankam. Du warst nicht du selbst. Außerdem habe ich gesehen, dass du eine große Menge Geld von unserem Konto abgehoben hast. Da wurde ich noch misstrauischer. Ich wusste, dass etwas nicht stimmt. Oliver hat gestern Abend meine Schicht übernommen. So konnte ich dir folgen und schauen, was du vorhast. Ein Glück habe ich das getan! Wer weiß, was sie dir angetan hätte!“ „Sie?“ Lena ist nach wie vor verwirrt. In dem Moment kommt die Erinnerung an gestern Abend zurück. Sie fängt an zu frösteln. „Ich habe alles mitangehört.“, fährt Tobias fort. „Ich…“, versucht Lena kraftlos ihn zu unterbrechen. „Schon gut, lass mich bitte ausreden. Zuerst möchte ich dir sagen, dass du mir von deiner Schwangerschaft hättest erzählen können. Ich liebe dich. Du kannst mir alles anvertrauen. Zudem: jeder Mensch macht Fehler. Der eine macht kleinere, der andere größere, manche ganz große – so wie du vielleicht.“ Er gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. „Aber die sind nicht unverzeihbar. Natürlich hättest du dich anders verhalten können. Im Nachhinein lässt sich das leicht sagen, aber du hast dich damals so entschieden wie es das Beste für dich war. Du hast jahrelang eine schwere Last nur mit dir selbst herumgetragen. Ich hätte dir gerne etwas davon abgenommen, aber ich akzeptiere, dass du darüber ungern sprechen wolltest. Ich will nur, dass du weißt, dass ich für dich da bin – immer.“ Lena steigen vor Rührung die Tränen in die Augen. Womit habe ich das verdient?, denkt sie. Da fällt ihr ein: „Was ist mit ihr?“ „Sie ist weggerannt als sie mich gehört hat. Sie konnte es wohl doch nicht über’s Herz bringen, ihrer leiblichen Mutter etwas anzutun. Ich habe die Polizei informiert, sie werden sie finden. Ich sorge dafür, dass sie dir nie wieder ein Haar krümmen wird!“ Tobias‘ Stimme wird energisch. „Nein, es ist in Ordnung. Mir ist ja nichts passiert.“ „Aber…“, beginnt Tobias. „Schatz, jetzt hörst du mir zu.“, sagt Lena bestimmt, aber wohlwollend. „Meine Tochter hat mit der Erpressung einen Fehler gemacht. Aber diesen kann ich verzeihen. Ich habe das Leben zu verantworten, das sie bisher führen musste. Für sie war es sicherlich nicht leicht. Sie wusste lange nicht, wo sie herkommt. Ich habe ihr ja nicht einmal die Chance gegeben, Kontakt zu mir aufzunehmen und etwas über ihre Identität zu erfahren. Das war wahnsinnig egoistisch von mir, nur weil ich selbst mit der Wahrheit nicht zurechtkam. Da ist es nicht verwunderlich, dass sie sich darein gesteigert hat. Auch wenn sie mir wahnsinnige Angst gemacht hat, hat es doch ein Gutes: ich konnte endlich offen und ehrlich mit dir über mein dunkelstes Geheimnis reden.“ „Dunkelstes Geheimnis? Hast du etwa noch mehr davon?“ Tobias Gesichtszüge lockern sich, er grinst. Da muss auch Lena lachen: „Ach nein, keine Sorge! Das war es – für’s Erste.“ Sie zwinkert ihm zu. „Hoffentlich gibt auch meine Tochter mir die Chance, nochmal in Ruhe mit ihr über unsere gemeinsame Vergangenheit zu sprechen…“

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